Prozesse gegen die letzten Kader

In Kambodscha starben zwei Millionen Menschen unter der Herrschaft der Roten Khmer. 28 Jahre nach dem Sturz des Regimes wurde gegen fünf Funktionäre Anklage erhoben. von hannes riemann

»Ich hätte nie gedacht, dass ich überleben würde«, sagte Vann Nath. Seine Chancen waren extrem gering. Etwa 16 000 Menschen waren im Sicherheitslager 21 inhaftiert, wer nicht an den Folgen der Folter starb, wurde hingerichtet. Nur 14 Insassen überlebten.

Nach dem Sturz des Regimes der Roten Khmer im Jahr 1979 malte Vann Nath Bilder über die Zustände im S-21. Bei der Eröffnung seiner ersten Ausstellung in Phnom Penh am 12. Juli wurde er mit dem Hellmann/Hammett-Menschenrechtspreis ausgezeichnet und nutzte die Gelegenheit, um die schleppende juristische Aufarbeitung zu kritisieren: »Fast 30 Jahre sind vergangen, und niemand musste Verantwortung für das Morden übernehmen.«

Das könnte sich nun ändern. In der vergangenen Woche wurden die ersten Anklagen vor den Extraordinary Chambers in the Courts of Cambodia (ECCC) erhoben. Die Namen der Angeklagten wurden nicht bekannt gegeben, doch vermutlich ist unter ihnen Kang Kek leu, der ehemalige Leiter des S-21 und einzige hohe Funktionär, der bereits in Haft sitzt.

Die ECCC sind ein »hybrides Tribunal« wie die Gerichtshöfe in Sierra Leone und Osttimor. Die juristische Grundlage der Prozesse gegen die senior leaders der Roten Khmer sind das internationale Recht – im Hinblick auf die Anklagepunkte Genozid, Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen – sowie das nationale könig­liche Strafrecht von 1956. Das Tribunal beschäftigt von der Uno ernannte und kambodschanische Juristen. Innerhalb von drei Jahren sollen Prozesse gegen die Hauptverantwortlichen für die Verbrechen während der Herrschaft der Roten Khmer zwischen 1975 und 1979 geführt werden.

Unmittelbar nach der Machtübernahme begann die Kommunistische Partei Kampucheas, bekannt unter ihrem Pseudonym »Angkar« (etwa: die Organisation), als Führungszirkel der Roten Khmer eine der extremsten gesellschaftlichen Transformationen des 20. Jahrhunderts. Die von Pol Pot propagierte Version des Marxismus-Leninismus verstand unter Kommunismus eine autarke, eth­nisch homogene Khmer-Gesellschaft auf der Basis der Agrarökonomie, die ohne Zwischenschritte zu etablieren war. Während der Herrschaft des Regimes sind zwischen 1,5 und 2,5 Millionen Men­schen, etwa ein Viertel der Bevölkerung, umgekommen. Schätzungsweise eine Million Menschen wurde exekutiert.

Nach jahrelangen Grenzkonflikten marschierte die vietnamesische Armee ein, viele desertierte Kader der Roten Khmer schlossen sich den Truppen an. Aus ihnen wurde die neue Regierung der CPP (Cambodian People’s Party) gebildet, die seit 1979 regiert. Hun Sen, bis 1977 Regimentskommandeur der Roten Khmer, wurde 1985 Premierminister und hat sich seitdem auf diesem Posten halten können.

Die CPP hatte ein Interesse an der Diskreditierung des alten Regimes, bereits im August 1979 wurde Pol Pot in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Doch allzu tief zu schürfen, hätte auch das neue Regime gefährdet, viele Funktionäre waren ja auf unterer und mittlerer Ebene an den Verbrechen beteiligt. Doch das war nicht das einzige Hindernis bei der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen. Während des Kalten Kriegs wurde der antisowjetische Guerillaführer Pol Pot, dessen Truppen auch nach 1979 Teile des Landes kontrollierten, von den westlichen Staaten als legitimer Vertreter Kambodschas anerkannt. Erst gegen Ende des Bürgerkriegs 1996/97 zeigte die »in­ternationale Gemeinschaft« ein Interesse an der Aufarbeitung der Vergangenheit Kambodschas.

Seine Regierung habe »immer gedrängt, das Tribunal so schnell wie möglich beginnen zu lassen, denn Kambodscha wird keine glanzvolle Zukunft haben, bevor das Problem nicht gelöst ist«, sagte Hun Sen im Juni. Dass nach der offiziellen Aufnahme der Verhandlungen über ein Tribunal zwischen der Uno und Kambodscha erneut zehn Jahre bis zur ersten Anklageerhebung vergingen, führen Menschenrechtsorganisationen jedoch vor allem auf die Verzögerungstaktik seiner Regierung zurück. Hun Sen bekannte sich erst zu Beginn dieses Jahres offiziell zum Tribunal.

Die unterdrückte Opposition wird dem Regime nicht gefährlich, mühelos gewann die CPP die Kommunalwahlen im April dieses Jahres. Ein unabhängiges, politisch nicht beeinflussbares Tribunal hingegen könnte die autoritären Strukturen bedrohen. Denn die ECCC sollen auch ein Rechtsbewusstsein etablieren, Befürworter des Tribunals erhoffen sich die Einführung interna­tionaler Rechtsnormen und sogar eine unabhängige Judikative.

Viele hohe Kader der Roten Khmer sind bereits an Altersschwäche oder Krankheiten gestorben, andere leben, wie Ieng Sary, ehemals Außenminister, unbehelligt im Land. Ein Unrechtsbewusstsein kann sich angesichts dessen kaum entwickeln, und Rechtssicherheit für die Bevölkerung gibt es nicht. »Straflosigkeit für Menschenrechtsverletzungen ist weiterhin die Regel«, stellte Human Rights Watch fest. Zudem sei die kambodschanische Justiz notorisch korrupt und anfällig für politischen Druck der Regierung.

Auch als die ECCC mit der Vereidigung des Rich­tergremiums im Mai 2006 offiziell die Arbeit auf­nahmen, endeten die Probleme nicht. Die kambod­schanische Anwaltskammer setzte beispiellos hohe Gebühren für ausländische Anwälte durch, an die sich Angeklagte wenden können. Das OSJI (Open Society Justice Institute) erhob den Vorwurf, kambodschanische Gerichtsmitarbeiter wür­den Teile ihres Gehalts zwecks Arbeitsplatzsicherung an Regierungsbeamte zahlen müssen. Daraufhin kündigten die kambodschanischen ECCC-Richter die Zusammenarbeit mit dem Institut auf.

Förderlich für das Vertrauen der Bevölkerung in ein unabhängiges Tribunal waren diese Auseinandersetzungen sicher nicht. Im Juni wurde schließlich doch noch die Prozessordnung verabschiedet, die Ermittler haben bereits 15 000 Seiten Beweismaterial zusammengetragen. Doch Staatsanwalt Robert Petit dämpfte die Hoffnungen auf ein zügiges Verfahren: »Das ist erst der Anfang, es ist kompliziert.«

Prozessiert wird nur gegen die höchsten Funktionäre der Roten Khmer. Das erste Verfahren wird wohl im kommenden Jahr stattfinden. Wenn dem Tribunal bis dahin nicht das Geld ausgegangen ist. Das Budget der ECCC beträgt 56 Millionen Dollar, die überwiegend von internationalen Geldgebern gezahlt werden. Anfang Juli erklärte die kambodschanische Regierung, sie könne ihren Anteil von 13 Millionen Dollar nicht aufbringen. Nun suchen die Juristen nach neuen Finanzquellen.