Weltmeister der Schmerzen

Moralapostelei statt Strukturanalyse. Notwendige Anmerkungen zur Doping-Hysterie in den deutschen Medien. von lukas wieselberg

Deutschland im Wandel: 2006 Sommermärchen, 2007 Sommer­albtraum. Das ist zumindest der Eindruck, den man beim Konsum deutscher Medien zurzeit bekommt. Auf den Punkt gebracht wird er durch die Szene, von der dpa berichtet hat: Patrik Sinkewitz liegt nach seinem schweren Unfall bei der Tour de France im Krankenhaus Hamburg. Unmittelbar vor der Operation wird seine positive A-Probe bekannt, der Sturm der Entrüstung bricht über ihn herein. Sinkewitz muss sich geradezu entschuldigen, dass er sich jetzt leider um seine Operation kümmern müsse. Die Welterklärer und Aufklärungsjournalisten ergehen sich in ihren Dopingtiraden und geben vor, die Gesundheit der Sportler schützen zu wollen. Derweil purzeln diese über Hunde, stürzen ungebremst in Schluchten, kollidieren mit Zuschauern oder fallen beim Schlusssprint mit 70 Kilometern pro Stunde übereinander. Schwer verletzt schleppen sich viele mit Wunden und dicken Verbänden über Alpen und Pyrenäen.

Alles kein Problem für die gesalbten Moral­apostel aus den Sport- und Feuilletonressorts. Die Unfälle werden bestenfalls als wahrhaftige Beispiele für die »Tour der Leiden« erkannt, garniert mit hämischen Kommentaren und Verdächtigungen. Da müssen sogar die abstehenden Ohren des an Kokainkonsum gestorbenen Marco Pantani als Beweis für seine Dopingvergehen herhalten. Während sich in der Tour real grausame Dinge ereignen, verweisen die neuerdings kritischen Sportjournalisten auf die Gefahren des Dopings. Ist dieser Tom Simpson nicht auf dem Mont Ventoux gestorben? Das ist zwar schon 40 Jahre her, und Amphetamine haben mit Eigenblut-Transfusionen nichts zu tun. Aber offensichtlich ist es niemandem gelungen, einen aktuelleren Todesfall im Radsport auszugraben.

Alexander Winokurow war einer dieser Fahrer mit dicken Verbänden und starken Schmerzen. Falls er sich bei seinen zwei Etappensiegen zuvor mit Fremdblut gedopt haben sollte, wie es den Anschein hat, dann ist seine Chuzpe rekordverdächtig. Ansonsten konnte man von dem Theater um die Tour 2007 aber nicht viel lernen. Doping im Radsport teilt sich den News­wert und die Jahreszeit mit dem Ungeheuer von Loch Ness. Alle Großen des Sports haben gedopt. Und sind sicher nicht deswegen zu Großen geworden. Alle wissen das, und alle wissen, dass das alle wissen. Fausto Coppi und Jacques Anquetil haben die Gepflogenheiten öffentlich verteidigt. Eddy Merckx hat sie immer bestritten, wurde aber dreimal erwischt. Seit es Radsport gibt, wurden alle erdenklichen Methoden angewendet, um zu siegen, erlaubte und unerlaubte. Was nicht heißt, dass alle alles mit sich machen lassen. Dass auch deutsche Radsportler dopen, mag zwar deutsche Sportjournalisten überraschen, nicht aber Liebhaber des Sports. Die können sich an Rudi Altig und Dietrich Thurau nämlich noch erinnern.

Deutsche Radfahrer sind nur Radfahrer wie andere auch. Sie tragen kein Anti-Doping-Gen in sich, wie lange weisgemacht, aber auch kein Doping-Gen, wie man nun betonen muss. Aus Sicht der nationalen Sportreporter ist die vorige Tourwoche ohnehin gut verlaufen: keine Deutschen unter den Tätern, bloß Kasachen, Italiener und Dänen. Ihre Dopingdebatte sagt in erster Linie wieder einmal etwas über die deutschen Medien und ihren Hang zur Hysterie aus. So wie noch vor zwei Jahren der Untergang des Bundesliga-Fußballs vorhergesagt wurde (der »Fall Hoyzer«), so überbietet man sich derzeit im Dopinggeschrei. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen will sich nicht mehr besudeln lassen und überträgt nicht mehr. Es liefert stattdessen täglich eine Dopingenthüllung als wichtigste Meldung in den Hauptnachrichten. Haben die nichts Besseres zu tun? Ist sonst nichts in der Welt geschehen? Auch die Zeitungen berichten plötzlich nur mehr »kritisch«.

Derweil stehen Millionen Menschen beim größten Gratis-Sportereignis der Welt auf den Straßen und sehen den Gescholtenen zu, gleichgültig ob in England, Belgien, Spanien oder Frankreich. In Deutschland wäre das nicht anders. Natürlich können sich die Massen wieder einmal irren. Tun sie in diesem Fall aber nicht. Denen ist die Sache nämlich ziemlich schnuppe. Die wollen sich an den starken Männern und ihren Leistungen erfreuen wie zu Anbeginn der Tour vor über 100 Jahren. Damals nährte die Verschmelzung von Mensch und Technik noch utopische Hoffnungen, waren Männer, die sich einzig dank ihrer eigenen Muskelkraft auf metallenen Fahrrädern fortbewegten und tagtäglich Hunderte von Kilometern hinter sich brachten, allerdings noch echte Kuriosa. Arbeiter der Landstraße und Radhallen, vielleicht wie Zirkusfreaks, aber oft bewundert und in eine ungewisse, gewiss bessere Zukunft fahrend. Was sie dabei gegessen oder getrunken haben, in welcher Position sie in der Nacht schliefen und ob ihr Blut nicht zu dick war – dass sich solche Fragen einmal stellen würden, ahnte damals niemand. Das hat sich zwar mittlerweile genauso geändert wie die Zukunftsperspektiven der Cyclo-Freunde, eine gewisse Solidarität mit den Gewohnheiten der Fahrer ist aber geblieben. Wer selber eineinhalb Tage am Galibier oder Tourmalet campiert, um dann ein paar Pedaleure vorbeihuschen zu sehen, hat eine Ahnung von Leidensfähigkeit. Und gönnt den Fahrern die für ihre unmenschlichen Leistungen nötigen Mittel.

Natürlich folgt auch an dieser Stelle kein Plädoyer für die Freigabe von Doping. Nicht nur, weil dies verpönt ist. Es gibt tatsächlich – mit Ausnahme der Ehrlichkeit – keinen guten Grund für eine generelle Freigabe. Alles wäre nicht so schlimm, wenn die Sportjournaille wenigstens ihre Pflicht der kritischen Berichterstattung erfüllen würde. Wie so oft verwechselt diese in der aktuellen Debatte aber wieder einmal Aufklärung mit Moral. Das ist schon allerhand, wenn man selbst aus einer Branche stammt, in der kaum ein Produkt zustande kommen würde, wenn sich alle Beteiligten an die Dopingverbote der Sportler halten müssten. Oder dem Arbeitgeber ihren Aufenthaltsort immer wahrheitsgemäß mitteilen müssten, so wie Michael Rasmussen seinen Rabeneltern von der Rabobank.

Dass in der Analyse der neuen Sportkritiker aber fast ausschließlich auf die kleinsten Rädchen im Getriebe eingedroschen wird – das sind die Radfahrer an ihrem Arbeitsplatz, auf dem Rad – tut fast schon weh. Moralische Vorhaltungen statt Strukturanalyse. Nach den aktuellen Dopingfällen wurden sofort die Marketingexperten angerufen und gefragt, wie so ein Skandal die »Marke T-Mobile« beschädigen kann. Hat jemand umgekehrt nachgefragt, wie viel die Radfahrer zum Bekanntheitswert ihrer Trikotsponsoren weltweit beigetragen haben? Über das Geld, das Jan Ulrich angeblich oder wirklich verdient hat, wurde viel geschrieben. Aber wie viel Geld hat die Telekom verdient mit ihren Radfahrern, diesen im Vergleich mit anderen Sportarten prekär Beschäftigten? Statt sich um solche schwierigen Fragen zu kümmern, fordern unsere kritischen Sportjournalisten lieber einen Ausstieg der Sponsoren. Das ist so, als ob man zum Aufsichtsrat eines Waffenproduzenten geht und die Entlassung der Mitarbeiter fordert, weil es neuerdings Beweise gibt, dass sie Dinge produzieren, mit denen man Menschen töten kann.

Den Fahrern vorzuhalten, alles für den Erfolg zu tun, ist ungefähr so sinnvoll wie der vorweihnachtliche Appell, doch weniger einzukaufen und sich mehr innerlich zu freuen. In unserer Wachstumsgesellschaft muss alles wachsen: vom Angebot über die Nachfrage bis zu den Muskeln. Wer Leistungssport in der gegenwärtigen Form will, will auch Doping. Das ist die Grundwahrheit dieser auf Wachstum von Leistungen und Körpern basierenden gesellschaft­lichen Institution. Wer Doping wirklich aus der Welt schaffen will, muss dies auch mit dem Leistungssport tun. Und zwar nicht nur mit dem Radsport.