Wiedergeboren, um zu sterben

Sie sind erfolgreich, gebildet und aufstiegs­orientiert. Dann entscheiden sie sich für den Aufstieg zu den 72 Jungfrauen. Welche Motive haben islamistische Selbstmordattentäter? von jörn schulz

»Die meisten Toten in der Geschichte der USA« sollten auf ihr Konto gehen. Ursprünglich wollten die beiden Attentäter ein Flugzeug entführen und über New York zum Absturz bringen. Das erwies sich als undurchführbar. Ihr Ersatzplan war es, zunächst Bomben in einer voll besetzten Cafe­teria zu zünden. Sie wollten fliehende Überlebende niederschießen und, sobald Polizei, Rettungskräfte und vor allem Fernsehreporter eintreffen, sich in ihren Autos in die Luft sprengen.

Nur weil Eric Harris und Dylan Klebold ihre Bomben dilettantisch zusammenbastelten, blieb es am 20. April 1999 in Littleton bei einem school shooting. Sie erschossen in der Columbine High School 13 Menschen und töteten sich anschließend selbst. Die Ermittler errechneten, dass allein die Bomben in der Cafeteria 600 Menschen hätten töten können, und widerlegten auch die unmittelbar nach der Tat kursierenden Vermutungen. Harris und Klebold waren keine isolierten Außenseiter, und sie töteten nicht gezielt ihnen verhasste Mitschüler, sondern so viele Menschen wie möglich.

In den USA diskutieren nicht nur rechte Ordnungspolitiker, die am liebsten jeden Jugendlichen mit Gewaltphantasien einsperren würden, sondern auch Psychologen über die Gemeinsamkeiten zwischen Anschlägen, bei denen Jugendliche oder junge Erwachsene die Tat lange vorbereitet und ihren Tod eingeplant haben, und islamistischem Terror. Säkulare Selbstmordattentäter folgen einem persönlichen Wahnsystem, das, wie im Fall Cho Seung-Huis (Jungle World 17/07), religiöse Bezüge haben kann, aber keiner Ideologie folgt und daher auch nicht politisch instrumentalisiert werden kann. Hinter jedem islamistischen Selbstmordattentäter dagegen steht eine Organisation, die einen Attentäter direkt beauftragt oder ihn ideologisch motiviert.

Wie aber findet ein islamistischer Kaderleiter den geeigneten Kandidaten, und wer unter den 1,3 Mil­liarden Muslimen ist anfällig für seine Propaganda? Ein einheitliches Profil von Selbstmordattentätern gibt es nicht. In Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten ist Rache ein häufig genanntes Motiv, allerdings erklärt es eher die Bereitschaft zu töten als den Willen zu sterben.

Armut spielt in manchen Fällen eine Rolle, allerdings nicht als Motiv für einen Kampf um soziale Veränderung. Doch viele junge Afghanen ver­kaufen das einzige, was sie verkaufen können: ihr Leben. Brian Glyn Williams sammelte im April in mehreren Provinzen Afghanistans Berichte von Familien, denen überraschend Beträge von 10 000 Dollar und mehr ausgehändigt wurden. Je einer ihrer Söhne hatte sich im Dienste der Taliban in die Luft gesprengt.

Auch in den palästinensischen Gebieten können die Familien von Selbstmordattentätern mit finan­ziellen Zuwendungen rechnen. Tatsächlich gibt es »Märtyrer«, die, den gängigen Klischees entsprechend, arm und in Flüchtlingslagern aufgewachsen sind. Doch die meisten sind besser ausgebildet und wohlhabender als der Durchschnitt der Bevölkerung, stellte der Ökonom Claude Ber­rebi fest.

Eine Untersuchung von Assaf Moghaddam nennt immaterielle, jedoch eher egoistische Moti­ve. Er zitiert den 16jährigen Bassam Khalifi: »Die meisten Jungs denken ständig an die Jungfrauen.« Neben den viel zitierten 72 Jungfrauen erhält der »Märtyrer« auch das Recht, 70 Angehörige seiner Wahl in den Himmel einzuschleusen, die sich den Platz dort oben nicht durch eigene Verdienste erworben haben. Der soziale Status seiner auf der Erde verbliebenen Familien­mitglieder steigt, und dem Attentäter ist Nachruhm gewiss. Er weiß, dass Poster mit seinem Bild Moscheen zieren wer­den und man ihn bei Kundgebungen preisen wird.

Dass islamistischer Terrorismus überwiegend eine Sache der Wohlhabenden und Gebildeten ist, tritt bei den im Westen Agierenden noch deutlicher zutage. Der Psychiater Marc Sageman untersuchte die Persönlichkeitsprofile von 400 Jiha­dis­ten. Nur 13 Prozent hatten eine Koranschule besucht, drei Viertel waren Akademiker, fast alle im naturwissenschaftlichen Bereich. Ein ebenso großer Anteil war verheiratet, die meisten hatten Kinder. »Als sie sich dem Jihad anschlossen, waren die Terroristen nicht sehr religiös«, stellt Sageman fest. »Sie wurden erst religiös, als sie sich dem Jihad angeschlossen hatten.« Bei den meisten geschah das im westlichen Ausland, im Durchschnittsalter von 27 Jahren.

Auch der Islamwissenschaftler Olivier Roy untersuchte das Phänomen der »wiedergeborenen« Muslime, die im Westen den Glauben neu entdecken. Es sei »nicht das Resultat des Exports der Konflikte im Nahen Osten nach Europa«, sondern »ein pathologisches Ergebnis der Verwestlichung des Islam«. Die Jihadisten definieren ihre Religion sogar im Gegensatz zu der traditionellen islamischen Kultur und Theologie bzw. unabhängig von ihr.

Die in Großbritannien nach den misslungenen Anschlägen im Juni Verhafteten entsprechen recht genau diesem Profil. Bei ihnen wird jedoch auch ein neues Phänomen deutlich. Der »Schuhbomber« Richard Reid, der im Dezember 2001 ein Flug­zeug sprengen wollte, wurde von islamistischen Predigern geschult und und von Kadern angeleitet. Solche Strukturen spielen offenbar keine gro­ße Rolle mehr. Die Jihadisten finden eher in Fit­ness­studios als in Moscheen zusammen. Innerhalb weniger Monate werden sie zu Terroristen, die Informationen, die sie benötigen, finden sie im Internet.

Welche individuellen Motive einen Menschen bewegen, sich mit anderen zusammenzutun und ein Attentat zu planen, ist noch kaum erforscht. Einige Parallelen zu säkularen Selbstmordattentätern sind jedoch offensichtlich. Täter aus beiden Gruppen sind einem militaristischen Männlichkeitswahn verfallen, Empathie ist ihnen unbekannt. Es geht ihnen um den body count, die Zahl der Opfer soll so hoch wie möglich sein, sie wollen mehr Menschen töten als andere. Die Täter fühlen sich dem Rest der Menschheit überlegen und daher zum Töten berechtigt, sei es, weil sie sich, wie Harris und Klebold, für besonders intelligent und alle anderen für Dummköpfe halten, oder, wie die Jihadisten, weil sie sich einer von Gott auserwählten Elite zugehörig fühlen. Sie wünschen sich Nachruhm und hoffen, man werde ihren Namen nicht vergessen. Besonders erfolgreiche Jihadisten wie Mohammed Atta haben dieses Ziel erreicht.

Wahnsysteme sind gesellschaftsspezifisch, und im Profil von Selbstmordattentätern findet sich vieles von dem wieder, was die spätkapitalistische Gesellschaft kennzeichnet: Erfolgsstreben, Konkurrenzdenken, Aufstiegsorientierung und rücksichtsloses Durchsetzungsvermögen. Die Jihadisten haben diese Eigenschaften wohl bereits in ihrem vorherigen Berufsleben gepflegt, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie auch damals schon jenen Narzissmus zeigten, der sich später ins Pathologische steigerte.

»Erfolgreiche Geschäftsleute und Psychopathen haben gemeinsame Persönlichkeitsmerkmale«, un­ter anderem Mangel an Empathie, Starrsinn, Ordnungswahn und diktatorische Tendenzen, stell­te die Psychologin Belinda Board fest. Doch Mana­ger und Politiker mit einem solchen Persönlich­keits­profil haben sich im Griff und können ihre nar­zisstischen Tendenzen anders ausleben. Junge Männer dagegen können zu dem Schluss kommen, dass sie ihren Ehrgeiz einem anderem Ziel widmen müssen.

Sie sind Psychopathen, jedoch nicht psychisch krank. Sageman stellte fest, dass es unter ihnen sogar einen geringeren Anteil von psychisch Kranken als in der Durchschnittsbevölkerung gibt, er lag in der von ihm untersuchten Gruppe bei einem Prozent. Psychopathen sind nicht desorientiert, sie halluzinieren nicht, können zielgerichtet handeln und auch andere Menschen manipulieren. »Ihr Verhalten ist das Resultat einer Wahl, die sie frei ausüben«, schreibt Robert Sage, der bei seinen Forschungen in der forensischen Psychiatrie zu ähnlichen Schlüssen kam wie Board.

Während säkulare Selbstmordattentäter sich recht wahllos aus den morbiden Bereichen der Popkultur bedienen, sind Jihadisten häufige Besucher islamistischer Webseiten. Bei jenen Anbietern, die für den globalen Jihad werben, spielen theologische Debatten kaum eine Rolle. Das wichtigste Instrument der Propaganda sind Videos. Zwei Genres haben sich entwickelt: Action, Attentate und Angriffe auf Soldaten, meist US-Truppen im Irak, und Splatter, die Zurschaustellung der Opfer meist amerikanischer oder israelischer Militäraktionen. Als musikalische Begleitung sind Kampfgesänge zu hören. Zu lesen sind zudem Handlungsanweisungen, oft von der klassischen Führung von al-Qaida.

Dies bietet Psychopathen eine moralische Rechtfertigung, ungehemmt gewalttätig zu sein, und überdies noch das Gefühl, eine wichtige Rolle im großen Ringen zwischen Gott und Satan zu spielen. Es wäre daher falsch, den religiösen Hintergrund auszublenden, denn er liefert die ideologische Basis und macht es möglich, den individuellen Wahn der Täter zu einer schlagkräftigen Bewegung zusammenzufassen.

Theorien, die unter Verweis auf die kriege­rischen Verse des Koran den Jihadismus als eine zwangsläufige oder zumindest nahe liegende Folgerung aus dem islamischen Denken bezeichnen, können jedoch nicht erklären, warum nur eine winzige Minderheit der Muslime diese Folgerung nachvollzieht und warum so viele derer, die es tun, religiös ungebildete New­comer sind.

Junge Männer aus den Mittelschichten, deren Ehrgeiz und Geltungsbedürfnis unbefriedigt bleiben, scheinen besonders anfällig für ideologische Angebote zu sein. Den jihadistischen Kadern gelingt es, ohne jeden persönlichen Kontakt Attentäter zu lenken, weil sie aus dem Terrorismus eine rechtsextreme Event- und Lifestylekultur gemacht haben. Sie präsentieren das Morden als eine Videoshow, die, anders als die Angebote der popkulturellen Konkurrenz, ein Abbild der Realität ist und daher große Anziehungskraft auf Psychopathen hat.