Zwischen allen Gleisen

Die Gewerkschaft der Lokführer kämpft um einen eigenen Tarifvertrag. Kritisiert wird sie nicht nur von der Leitung der Bahn AG, sondern auch von anderen Gewerkschaften. Von Martin Kröger

Der Bundesrepublik droht zum ersten Mal ein landesweiter Streik der Lokführer. Bis zum 6. August läuft die Urabstimmung der Mitglieder der Gewerkschaft der Lokführer (GDL). »Wenn der Bahnvorstand bis dahin kein Angebot macht: Dann wollen wir nicht streiken, dann hat uns der Bahnvorstand in den Arbeitskampf getrieben«, sagte der Vorsitzende der GDL, Manfred Schell, in der vorigen Woche der Berliner Zeitung. Dass die nötigen 75 Prozent seiner 34 000 Mitglieder für die Arbeitskampfmaßnahmen stimmen, sieht Schell als »völlig sicher« an. »Ich habe mit vielen GDL-Mitgliedern gesprochen, und es war die einhellige Forderung, dass wir notfalls für unsere gerechten Forderungen in den Arbeitskampf gehen müssen.«

Im Gegensatz zu den anderen beiden größeren Bahngewerkschaften, Transnet und der Verkehrsgewerkschaft GDBA, die sich bereits Anfang Juli mit der Bahn über einen neuen Tarifvertrag mit einer Lohnerhöhung von 4,5 Prozent einigen konnten, fordert die GDL neben Verkürzungen der Arbeitszeit 31 Prozent mehr Gehalt, festgelegt in einem eigenständigen, so genannten Spartentarifvertrag. Für Manfred Schell und seine Mitglieder, die dem Beamtenbund angeschlossen sind, ist das Ergebnis der anderen Gewerkschaften zu niedrig. »Wir brauchen eine leistungs- und verantwortungsgerechte Bezahlung« der Lokführer und Zugbegleiter, sagte Schell.

Hintergrund der hoch anmutenden Tarifforderung sind die schlechten Arbeitsbedingungen und die niedrigen Löhne der Lokführer, die zugleich eine hohe Verantwortung für die Fahrgäste tragen. Für Kinder und Bahnromantiker mag Lokführer ein Traumjob sein, in der Praxis sieht es anders aus: Lokführer arbeiten im Wechselschicht­dienst, haben keine festen Schichtdienstzeiten wie etwa in Krankenhäusern, und sie sind ständig unterwegs. Darunter, so klagen viele, litten nicht nur Familie und Beziehungen, sondern auch die eigene Gesundheit. Hinzu kommt, dass die Karriere praktisch bereits nach der ersten Lohnerhöhung beendet ist: Bei einem Einstiegsgehalt von 1 970 Euro kann man sich auf 2 142 Euro hocharbeiten – ob man einen Hoch­geschwindigkeitszug fährt, eine S-Bahn oder einen Güterzug, macht dabei keinen Unterschied.

Die GDL kämpft darum, die Löhne auf 2 500 bis 2 999 Euro aufzustocken. Und da sie drei von vier Lokführern vertritt, stehen die Chancen, erfolgreich aus den Verhandlungen zu gehen, nicht schlecht; allerdings nur, wenn die Gerichte den Ausstand als rechtmäßig einstufen. Denn sowohl die Deutsche Bahn AG als auch die Gewerkschaft haben einstweilige Verfügungen vor Arbeitsgerichten beantragt, um den drohenden Arbeitskampf noch abzuwenden bzw. für zulässig zu erklären.

Die Taktik, den Streik juristisch auszubooten, war bereits beim letzten Warnstreiktag im Berliner Ostbahnhof zu beobachten. Während die Leitung um den regionalen Streikleiter der GDL, Hans-Joachim Kernchen, verzweifelt versuchte, die Kollegen zu beruhigen, drohte die Deutsche Bahn unverhohlen mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Ständig klingelten bei den Zugführern die Mobiltelefone. Sie wurden gedrängt, den Fahrbetrieb aufzunehmen. Reiner Psychoterror, dem dann Abmahnungen durch das Unternehmen folgten. Zusätzlich verschärfte die Deutsche Bahn nach Meinung der Lokführer die Auseinandersetzung mit einem Brief, in dem nach der Gewerkschaftszugehörigkeit des Empfängers gefragt wurde, da Lohnerhöhungen nur diejenigen erhielten, die zu Transnet oder GDBA gehören würden. »Wir haben unseren Kollegen geraten, die Briefe nicht zu beantworten und in den Papierkorb zu werfen«, sagte Schell.

Hartmut Mehdorn, der Vorstandsvorsitzende der Bahn, hat unterdessen erneut den Druck erhöht. In einem Schreiben vom Donnerstag vergangener Woche warnte er die Lokführer vor einem Geschäfts- und Imageverlust für die Bahn, wenn sie in der Hauptreisezeit streiken sollten. »Dadurch wird das Geschäft verloren gehen, das nicht mehr nachzuholen ist.« Und weiter spekulierte er: »Dadurch werden aber auch Kunden auf Dauer verloren gehen und in der Folge auch Arbeitsplätze bei der DB.« An anderer Stelle drohen andere Bahnmanager nicht nur mit dem Abbau von Arbeitsplätzen, sondern auch mit Fahrpreis­erhöhungen, sollte die GDL auch nur ansatzweise ihre Lohnforderungen durchsetzen.

Unterstützt wird der Druck der Bahn von Vertretern der Industrie, die der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) zufolge bei einem unbefristeten Streik schwere Störungen der Produktion vorhersagen. »Viele Unternehmen sind zwingend auf einen zuverlässigen Schienenverkehr angewiesen«, sagte der Hauptgeschäftsführer der DIHK. Das Deutsche Institut für Wirtschafts­forschung (DIW) rechnete den volkswirtschaftlichen Schaden durch den Streik gar auf »mindestens 500 Millionen Euro pro Tag« hoch.

Die kompromisslose Verhandlungshaltung der GDL, die ein wenig an den Pilotenstreik vor einigen Jahren erinnert, führt zudem zu harten Konflikten der Gewerkschaften untereinander. Denn der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, sieht durch die GDL nicht weniger als den »Flächentarif« in Gefahr. Dem Focus sagte er, dass die GDL aus der Tarifgemeinschaft ausgeschert sei, um für wenige Berufsgruppen mehr herauszuholen: »Ich hoffe, damit findet sie keine Nachahmer.« Über den Deutschen Beamtenbund (DBB), dem die GDL angehört, äußerte sich Sommer ähnlich. »Ich appelliere an den Vorsitzenden des Beamtenbundes, Peter Heesen, endlich Ordnung in seinem Laden zu schaffen«, sagte er dem Handelsblatt. Sommer verwies überdies auf den erreichten Tarifabschluss. Daher sei es nicht akzeptabel, dass »die GDL ihn bekämpft«.

Dass die Bahn sich derart unnachgiebig zeigt, dürfte nicht zuletzt mit dem geplanten Gang an die Börse und der Teilprivatisierung zusammenhängen, die das Bundeskabinett in der vorigen Woche mitten in den Parlamentsferien während der Tarifauseinandersetzungen beschloss. Einen ersten Anteil von »20 bis 25 Prozent« will der Bund laut Verkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) bis Ende 2008 an die Börse bringen. Mit einem Teil des Erlöses von geschätzten vier bis sechs Milliarden Euro soll die Bahn »zukunftsfähig« gemacht werden, sagte der Minister. Die 230 000 Arbeitsplätze bei der Bahn seien angeblich nicht gefährdet.

Zwar ist noch unklar, wie und ob die Teilprivatisierung stattfindet, Kritiker befürchten jedoch viele negative Auswirkungen. Auch Manfred Schell, der sagt: »Wenn die Bahnprivatisierung dennoch kommt, dann wird der Druck auf die Eisenbahner ungleich steigen. Denn alles, was nicht die gewünschte Kapitalrendite abwirft, wird zur Disposition gestellt werden.« Noch vor der Bekanntgabe des Ergebnisses der Urabstimmung am 6. August wollen die Arbeitsgerichte über die Rechtmäßigkeit des Arbeitskampfs entscheiden. Egal, wie die Entscheidung ausfällt, der Streik der Lokführer könnte der Beginn der Auseinandersetzungen um die Teilprivatisierung der Deutschen Bahn sein.