Eine Frau setzt sich durch

Ein Skelett im Brautkleid erobert die Herzen der mexikanischen Gläubigen. Immer mehr Menschen, vor allem in den ärmeren Gegenden, verlassen sich auf den Schutz der Heiligen Toten. Der Totenkult nimmt inzwischen äußerst skurrile Formen an. von nils brock, carmen delgado viveros (text), und pamela cuadros (fotos), mexiko-stadt

»Als Katholik in Mexiko erzogen worden zu sein, hatte sicher einen besonderen Einfluss darauf, dass ich heute Horrorfilme mache. Die Heiligen in den Kirchen haben alle riesige, blutende Wund­male – barocke, künstlerisch reiche Interpreta­tionen einer ziemlich morbiden Phantasie.« In Kirchen und populären Legenden findet der mexikanische Regisseur Guillermo de Torro bis heute immer wieder visuelle Anregungen für seine Filme. Doch auch andere Mexikaner und Mexikanerinnen würzen ihren Alltag gern mit religiösen Anekdoten und Happenings. So wurde kurz nach dem Tod von Papst Johannes Paul II. eine Grillbude im Norden des Landes zur nationalen Pilgerstätte. Ein halbrohes Stück Fleisch hatte auf unverkennbare Weise die Gesichtszüge des verstorbenen Oberhirten angenommen. Die mexikanischen Bischöfe waren not amused.

Religiöse Hingabe entspricht in Mexiko nicht immer den Erwartungen des Klerus. Religion ist etwas Alltägliches, ein Bedürfnis, dem man auf ganz persönliche Weise nachgeht. So begegnet man auch in Mexiko-Stadt auf Schritt und Tritt Darstellungen von Heiligen, Verstorbenen und Jungfrauen. Kleine Kreuze auf den Fußwegen künden von den hier Ermordeten, Rosenkränze und Jesusfigürchen schmücken die Armaturenbretter beinahe aller Taxis. Und an vielen Haltestellen wartet auf einem improvisierten Altar auch die heilige Jungfrau von Guadelupe auf den nächsten Bus. Lange Zeit von der katholischen Kirche geschmäht, ist die keusche Latina heutzutage die offizielle Patronin Mexikos.

Kein Wunder also, dass in Mexiko auch eine der ungewöhnlichsten katholischen Heiligen Zuflucht gefunden hat. Die Santa Muerte, die »Heilige Tote«, musste nach ihrer Verbannung aus dem offiziellen europäischen Glaubenskosmos lange Zeit in der Bedeutungslosigkeit überwintern, bis sie in Mexiko erneut eine große Anhängerschaft gewinnen konnte – eine Wiederauferstehung à la mexicana, jenseits der großen Kathedralen. Die Santa Muerte feierte ihr öffentliches Comeback Mitte der neunziger Jahre in Tepito, einem der berüchtigtsten Barrios (Stadtteile) der Hauptstadt. Heute gibt es hier vier öffentliche Altäre zu Ehren der grinsenden Skelett-Frau, die sich abwechselnd in Bischofskutte oder im Brautkleid präsentiert.

Allgemeine Berühmtheit erlangte die Heilige Tote zunächst, als Drogenhändler sie in den siebziger Jahren als eine weitere Schutzpatronin für ihre Geschäfte wählten. Doch wachsende Gewalt und wirtschaftliche Not haben ihr inzwischen eine große Anhängerschaft beschert, vor allem in den ärmeren Gegenden von Mexiko-Stadt. Kinder und Großmütter, Straßenhändler, Hausfrauen, Punks und Kleinkriminelle – sie alle suchen regelmäßig spirituellen Schutz bei ihrem »schönen Mädchen«, wie das Skelett oft auch liebevoll genannt wird.

Am Ersten jedes Monats werden bei der »Wäch­terin« Enriqueta im Stadtviertel Tepito überall auf den Straßen und Gehwegen kleine Altäre aufgebaut, geschmückt mit Süßigkeiten, Zigaretten, Ketten und Blumen, und natürlich mit Figuren der Santa Muerte in den unterschiedlichsten Formaten. Enriqueta, eine charismatische Frau in den Vierzigern mit einer auffälligen weißen Haar­strähne, war die erste, die der »Frau in Weiß« einen dauerhaften öffentlichen Altar baute. An der Außenwand im Erdgeschoss ihres bescheidenen Hauses ließ sie ein großes Schaufenster einsetzen, in dem die Santa Muerte Tag und Nacht die Gesuche ihrer Anhänger entgegennimmt.

»Wie schön, dass ihr gekommen seid«, begrüßt Enriqueta jeden Einzelnen der hier Versammelten, so als handle es sich um alte Bekannte. »Es ist noch früh, die Kapelle trifft noch die richtigen Töne«, amüsiert sie sich und zeigt auf die Musiker, die neben der Santa-Muerte-Figur ihre corridos spielen. Ein Hauch von Marihuana, künstlichem Zimt und Rosenduft liegt in der Luft – eine religiöse Kirmes. Immer mehr Familien, insbesondere aber Frauen und Jugendliche, belagern am frühen Nachmittag die Straße, die zum Altar führt. Fast alle haben ihre eigene Santa Muer­te dabei.

Auch José und seine Mutter Guadelupe tragen ihre Heiligen in zwei Pappkartons vor sich her, tauschen Armbändchen und Figuren ihrer Patronin mit anderen Gläubigen. Die kleinen Geschenke verbinden, genauso wie gegenseitige Segnungen der mitgebrachten Figürchen. Mit ernster Miene blasen Männer in Feinrippunterhemden Zigarrenrauch auf die Knochenfrau. Kinder laufen mit Spraydosen durch die Menge und sprühen Rosenparfüm über die bunten Devotionalien. Nachschub kann man für ein paar Pesos an etlichen Straßenständen erwerben.

Die eigene Santa-Muerte-Figur dagegen kauft man besser nicht sofort, sondern wartet auf eine persönliche Begegnung. »Mir erschien sie im Traum«, erzählt José. »Sie versprach, mich zu beschützen, wenn ich ihr im Haus meiner Mutter einen Altar errichte. So kam ich zum ersten Mal hierher nach Tepito, erzählte den Leuten von meiner Begegnung mit der Santa Muerte und bekam eine erste Figur geschenkt.« Heute wohnen José und seine Mutter mit 15 der »schönen Mädchen« unter einem Dach und verpassen keines der monatlichen Gebete zu Ehren ihrer Beschützerin.

Die katholische Kirche sieht es nicht gern, dass mehr und mehr Gläubige eine Extraportion Schutz jenseits der Kanzel suchen. Gemeinsam mit der konservativen Regierung Mexikos haben die Bischöfe sogar ein Verbot angestrebt – bisher ohne Erfolg. »Wozu auch«, echauffiert sich die Ethnologin Elsa Malvido, die oft die religiösen Treffen zu Ehren der Santa Muerte besucht. Die Forscherin, die seit vier Jahrzehnten der Heiligen Toten auf der Spur ist, findet es paradox, dass die Santa Muerte oft als Ketzerin diffamiert wird. »Die Anfänge des Kults gehen auf mittelalterliche Bräuche europäischer Katholiken zurück«, erklärt Elsa. So könnten aufmerksame Religionstouristen bis heute in alten sakralen Bauten Italiens und Frankreichs auf Bildern und Altarschnitzereien große Mengen an Knochen und Schädeln bewundern.

Und die Santa Muerte steht, sehr zum Missfallen ihrer einstigen Erfinder, zu ihrer Herkunft. Zur Ausrüstung der Todesbotin gehören nach wie vor Sense und Sanduhr, Werkzeuge, die ihr bereits im 12. Jahrhundert zugeordnet wurden. Die Mexikaner eigneten sich dann auf ihre Art die Darstellung des Todes an, bauten die Figur in den nationalen Glaubenskosmos ein und verändern immer wieder auf einfallsreiche Weise ihr Erscheinungsbild. Der letzte Schrei ist die Santa als Motorradrockerbraut mit viel Chrom und Leder. Avantgardistisch mutet auch die in afrikanisches Tuch gehüllte Santa Muerte an, umringt von einem Dutzend schwarzer Heiligenkinder. Gebaut hat diesen außergewöhnlichen Altar Pablo, der verblüffte Traditionalisten an Ort und Stelle über die Beziehungen der Heiligen Toten zu afro-brasilianischen Kulten aufklärt.

Für Jorge Quijano, einen weiteren spirituellen Wächter der Santa Muerte aus Mexiko-Stadt, liegt in der Wandelbarkeit der Heiligen ein wesentlicher Grund für den Erfolg des Kultes. »Wir nähern uns der Santa Muerte, damit sie mit unserem Gebet eine Brücke zu Gott baut. Weltweit brauchen wir alle etwas von Gott, wie Liebe, Verständnis und Fröhlichkeit. Wir brauchen eben spirituelle Nahrung«, sagt Quijano.

Diese religiöse Kost ist gefragter denn je in Mexiko-Stadt. In den weniger gut betuchten und historischen Stadtteilen wie Tepito, La Morelos oder La Merced versuchen Tausende, wirtschaftliche Notlagen, familiäre Krisen und die stete Gefahr von Raub und Mord mit einer Spende zu Ehren der Santa Muerte zu bannen. Die Einwohner Tepitos stellen zudem einen nicht unwesentlichen Anteil der Gefängnisbelegschaft in der Hauptstadt. So empfängt Wächterin Enriqueta wöchentlich Mütter, die für die Freilassung ihrer Kinder beten. »Letzte Woche brachte mir eine Señora diese Figur«, erzählt Enriqueta und zeigt auf eine geflügelte Santa Muerte aus rosa Kernseife. »Der Sohn dieser Frau sitzt zu Unrecht im Knast, doch die geflügelte Todesbotin kann ihm helfen. Ich glaube, er ist so gut wie frei.«

Angesichts harter Schicksalsschläge das Bündnis mit dem Tod zu suchen, sei im Grunde eine nur allzu menschliche Geste, sagt Elsa Malvido mit Blick auf die Kulturgeschichte der westlichen Welt. »Wenn der Tod eine große Präsenz erreicht und sich der Straßen und Häuser bemächtigt, dann verlangt der Tod selbst, verlangen Skelette und Schädel nach Anbetung. Nehmen wir die ­Pestausbrüche zu verschiedenen Zeiten oder den Zweiten Weltkrieg. Der Tod erscheint plötzlich als eine Person, die man verehrt, egal ob nun verewigt auf einer Freske oder auf der Mütze einer Naziuniform«, meint die Ethnologin und fügt hinzu: »Wenn der Tod dir nahe ist, kann dir nur eines Schutz vor dem Tod garantieren: der Tod selber.«

Eine allgemeine Verehrung des Todes nach europäischem Vorbild habe in dem kolonialisierten Landstrich, der später Mexiko genannt wurde, erstmals im 16. Jahrhundert stattgefunden, als auf den spanischen Schiffen die Pest ins Land segelte. »Seitdem ist der Tod, wie wir ihn aus den Kirchen Italiens kennen, in der gesamten mexikanischen Ikonografie sehr präsent«, beschreibt Malvido die Ursprünge des heutigen Kults.

Richtig berühmt wurde die »Schöne Braut« aber erst im 20. Jahrhundert »zur Zeit der mexikanischen Revolution, als der Maler José Guadalupe Posadas das Skelett in seinen Bildern und Grafiken feierte«, berichtet Malvido. Mit Posadas findet der Tod seinen künstlerischen Einzug in die mexikanische Moderne, modisch immer auf dem neuesten Stand, egal ob nun mit Zylinder und Zigarre, im eleganten Abendkleid oder auf dem Fahrrad.

Heute streiten sich in Mexiko-Stadt Dutzende selbst ernannte Wächter der Santa Muerte um die korrekte Robe der Todesbotin und die Bedeutung ihrer Gewänder. Wer sich eine Statue der Heiligen Toten in purpurnem Umhang zulegt, der erhält sich nach Meinung vieler Wächter die Hoffnung auf Liebe. In Weiß gehüllte Figuren sollen Glück bringen, und schwarze Kapuzenkutten garantieren Schutz und Macht. Für die langjährige Wächterin Enriqueta ist diese Art Farbberatung jedoch reiner Humbug: »Das spielt überhaupt keine Rolle, das ist einfach Geschmackssache. Verkaufsstrategien, mehr nicht«, empört sich die resolute Frau mit der Kittelschürze. »Es gibt die Santa inzwischen auf dem Pferd, im Sitzen oder Liegen. Wenn du dir so eine kaufst und glaubst, sie wird dich schützen – vergiss es.«

Der Zwist zwischen den Wächtern ist nicht nur ein spiritueller Disput, sondern eben auch ein Wettbewerb um den prallsten Klingelbeutel. Der Wächter David Romero kassiert für Presse­inter­views inzwischen um die 200 Euro und feiert sich als den einzig legitimen Boten der Heiligen Toten. An der Tür seiner improvisierten Kirche hängt ein Brief mit dem Stempel des Vatikans, der ihn angeblich als offizielle Autorität ausweist.

Die meisten Anhänger versammelt dennoch nach wie vor Enriqueta, die die Praktiken der übrigen Wächter lieber nicht kommentieren will. Für ein Foto posiert sie trotzdem gern, in Hausschuhen und mit einem unwiderstehlichen Lächeln. Doch da ist der Film voll. »Sie wollte eben nicht, dass ich schon wieder abgelichtet werde«, sagt Enriqueta lachend. »Da kann man nichts machen. Es ist ihr Wille.«

Von der Wundertätigkeit der Santa Muerte überzeugt ist auch die Obsthändlerin Martha. Sie stand kurz vor dem finanziellen Ruin, als sie sich an die Heilige Tote wandte. »Ich verkaufe Obst auf der Straße, und je mehr Geld ich in meinen Stand investierte, desto weniger Gewinn sah ich.« Eines Tages schenkte ihr eine Kundin dann eine Kerze der Santa Muerte mit der Aufschrift »Tod meinen Feinden« und empfahl ihr, ein Gebet an die »Weiße Frau« zu richten. »Zusammen mit meinem Mann zündeten wir die Kerze für ein Ritual an, um das Böse zu bannen«, erinnert sich Martha. »Es war wie Zauberei. Eine Woche später erhöhte sich mein Gewinn wieder.«

Es sind Geschichten wie die von der Markthändlerin Martha, die die ungewöhnliche Patronin inzwischen in ganz Mexiko bekannt gemacht haben. Auch an der US-mexikanischen Grenze finden sich inzwischen immer mehr Bildnisse der Heiligen Toten, berichtet Elsa Malvido: »Klar, die Leute, die versuchen, illegal die Grenze zu überqueren, haben ein viel größeres Risiko zu sterben als ich, die ich in einer Bibliothek hocke. Deshalb erbitten sie Hilfe, stellen Altäre auf. Deshalb ist die Santa Muerte heute überall.«

Sich im harten Alltag der mexikanischen Gesellschaft mit der Heiligen Toten zu verbünden, erscheint eben nicht als die schlechteste Idee und ist auf jeden Fall ein wirksames Narkotikum bei schlaflosen Nächten, Existenzängsten und für spirituell Bedürftige. Diese haben die Straße vor Enriquetas Altar inzwischen vollständig in Beschlag genommen. In der Abenddämmerung säumen die mitgebrachten Heiligenfiguren jetzt bereits in Dreierreihen die Fußwege. Die Wächterin und einige Helfer in gelben T-Shirts ordnen die Blumensträuße und Kerzen für das folgende gemeinsame Ritual. In zwei Stunden werden wie jeden Monat Hunderte Verehrer und Verehrerin­nen der Santa Muerte gemeinsam das ihr gewidmete Rosenkranzgebet anstimmen: »Meine verehrte heilige Tote, versage mir nicht deinen Schutz.«

Samuel, ein treuer Anhänger der Santa Muerte, wartet ebenfalls auf das Abendgebet. Er will sich so schnell nicht mehr von seiner Schutzheiligen trennen: »Die Santa Muerte nimmt mich immer an die Hand, deswegen habe ich sie auf meinen rechten Arm tätowiert. Sie ist meine ständige Begleiterin. Mit ihrer Sense befreit sie mich von allem Bösen, mit ihrem Gewand bietet sie mir Schutz, und so wird es bis zum letzten Tag meines Lebens sein – bis ich ihr dann begegnen werde. Früher oder später werde ich in ihrem Schoß sein.«