Jasager und Egoisten

Solange die großen Gewerkschaften einer Meinung mit Mehdorn sind und die Masse der Lohnabhängigen zersplittert ist, führen Berufsgruppen wie die Lokführer ihren Arbeitskampf eben für sich allein. Ihre Forderungen sind egoistisch, aber keineswegs unverschämt. von felix klopotek

Wie immer gilt: Die Wirklichkeit ist im Zweifelsfall vulgärmarxistischer als die Theorie. Allein die Aussicht auf einen großen Streik, allein der ernsthaft bekundete Wille der Lohnabhängigen, sich einmal nicht herumschubsen zu lassen, reicht aus, um einerseits den Verfall von Ideologien in äußerst kurzer Zeit zu beobachten und andererseits die Stärke reaktionär-bourgeoiser Reflexe zu bestaunen.

Hat jemand angesichts des Lokführerstreiks noch die Ideologeme der vergangenen Jahre vernommen? Dass wir in einer flexibilisierten Dienstleistungsgesellschaft leben, in der die »Arbeitskraftunternehmer« und Ich-AGs im lustvoll-diskursiven Spiel individuell ihre Honorare aushandeln? In einer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht und in der deshalb »wir alle« bitte noch etwas knapper kalkulieren wollen? Fehlanzeige. Stattdessen überall hektische Diskussionen und Artikel darüber, dass bald Millionen Deutsche zu spät oder gar nicht zur Arbeit kommen könnten. Alle wollen arbeiten, nur die Lokführer nicht, weswegen ihr Streik verboten gehört, und zwar höchstrichterlich, weil die anzunehmenden Schäden für »die Wirtschaft« zu schwerwiegend sind.

Man kann bereits zu einem Zeitpunkt, in dem der Arbeitskampf noch nicht eskaliert ist, feststellen: Der – angekündigte – Streik demonstriert, dass die Ideologien vom »Ende der Arbeit« nur in einer gesellschaftlichen Situation gedeihen können, in der es keine beziehungsweise keine öffentlich wahrgenommenen Konflikte um Lohn und Arbeitszeiten gibt. Ändert sich die Situation, verschwinden diese »weichen« Ideologien, und es wird eine härtere Gangart eingeschlagen.

»Gewerkschaften müssen eine realistische Politik machen, für unsere Mitarbeiter, für das Unternehmen. Manchmal sind wir uns eben mit Herrn Mehdorn einig. Wir können doch nicht aus Prinzip Neinsager sein«, schimpfte Klaus-Dieter Hommel, der Vorsitzende der Verkehrsgewerkschaft GDBA, auf die Lokführergewerkschaft GDL. »Die Gehaltsforderungen der Lokführer sind völlig überzogen«, sagte er an anderer Stelle. Das Schimpfen geht einher mit völliger Selbstaufgabe (»realistische Politik«), was zusammengenommen ein armseliges Bild abgibt. Die Front der Gegner der Lokführer reicht von den Kollegen verwandter Gewerkschaften bis zu den üblichen Verdächtigen der Springer-Presse. Da wird dazu aufgerufen, sich zu entsolidarisieren, da wird die Vergeblichkeit des Streiks beschworen, da wird die Kriminalisierung der Lokführer angedroht – die ja das offizielle Streikverbot bei andauernder Renitenz ohnehin in Aussicht stellt.

Das Arbeitsgericht Nürnberg, das am 8. August den Streik untersagt hat, tritt aber nicht als Repressionsorgan auf. Es hat die vier Voraussetzungen eines legalen Streiks geprüft und eine verworfen. Die Voraussetzungen sind eine Urabstimmung mit dem entsprechenden Ergebnis, das Ende der Friedenspflicht (die Friedenspflicht gilt während der Laufzeit eines Tarifvertrags), die Zielgerichtetheit des Streiks (am Ende muss eine tarifvertragliche Regelung herauskommen) und die Verhältnismäßigkeit – des für den Unternehmer entstehenden Schadens. Eben diese Verhältnismäßigkeit sieht das Arbeitsgericht wegen der Hauptreisezeit bis zum 30. September nicht gewährleistet.

Von einem repressiven Auftreten der Justiz kann man deshalb nicht sprechen, weil sie gerade durch ihr Urteil zur Vermittlung aufruft und nachdrücklich daran erinnert, worum es bei einem Streik, zumindest in der nationalen Perspektive, eigentlich geht: um Ausgleich. Vielleicht wird das Nürnberger Urteil von der nächsthöheren Instanz aufgehoben. Entscheidend aber ist, dass mit dem Urteil das Ausgleichsgebot – der Appell, dass die Parteien zueinander finden müssen – wieder im Vordergrund steht. Sicher, auch hinter diesem Gerichtsbeschluss verbirgt sich Gewalt, da die Lokführer gezwungen werden, nicht zu streiken. Gleichzeitig übersetzt sich diese Gewalt direkt in den »demokratischen Diskurs« und tritt als solche gar nicht mehr auf.

Stattdessen betreten Heiner Geißler und Kurt Biedenkopf die Bühne, als von der Gewerkschaft bestellte oder zumindest akzeptierte Schlichter. Die Gewerkschaft bekundet, nachdem sie trotz des negativen Urteils zunächst noch mit unangekündigten Streiks gedroht hatte, ihren Willen zur Einigung. Heiner Geißler und »König Kurt« stehen für die nächste Transformation. Nachdem die Gewalt in einen auf Konsens ausgerichteten Prozess gemündet ist, wird dieser Prozess personifiziert. Die beiden Altpolitiker können ihre ganze Erfahrung als Dressurmeister der Volksgemeinschaft zum Einsatz bringen – wie es Geißler bei einigen Streikschlichtungen schon getan hat. Beide sind sie konservativ, beide haben aber bewiesen, dass sie der »Gegenseite« Respekt entgegenbringen. Geißler ist Mitglied von Attac; Biedenkopf hat in Sachsen den integrativ-gütigen Landesvater gegeben. Dieser Arbeitskampf, der noch keineswegs vorbei ist, führt sehr deutlich vor, wie institutionalisierter Klassenkampf funktioniert. Selten war in den vergangenen Jahren das Spiel von Unternehmensleitung, Justiz und Medien so durchschaubar.

Im Hintergrund rätseln die Strategen der großen Gewerkschaften und der Unternehmer bereits, welches Verhalten sie zukünftig bei solchen Konstellationen an den Tag legen sollen. Die taz hat in der vorigen Woche treffend beobachtet: »Kleine Fachgewerkschaften werden immer erfolgreicher – was Unternehmer wie Gewerkschaftslinke freut.« Es scheint, als schwäche die »Unbotmäßigkeit« der Lokführer (gemeint ist ihre angeblich unverschämte Lohnforderung – da es keinen gerechten Lohn gibt, kann es aber auch keine unverschämte Lohnforderung geben) die gesamte Gewerkschaftsbewegung einschließlich ihrer Flächentarifpolitik. Die Radikalität einer kleinen, hoch spezialisierten Berufsgruppe mag unmittelbar großen Schaden anrichten, könnte sich für das Kapital aber als leichter zu bewältigen herausstellen. Denn die Radikalität, so die Befürchtung der großen Gewerkschaften, ist nur partikular und trägt zur weiteren Entsolidarisierung unter den Arbeitern und Angestellten bei. Jede Berufsgruppe kämpft für sich, und kämpfen können – angeblich – einige besser (Facharbeiter) und andere schlechter (Prekarisierte, Geringqualifizierte, »Massenarbeiter«).

Was dabei verdrängt wird: Gespalten ist die Masse der Lohnabhängigen ohnehin. Dass die Forderungen der Lokführer egoistisch sind, ist unbestritten. Doch dass sich Arbeiterrigidität in Deutschland derzeit, wenn überhaupt, in der Form radikaler Formulierung berufsständischer Interessen äußert, ist auch eine Folge der gewerkschaftlichen Politik. Solange die Funktionäre der großen Gewerkschaften auf »Augenmaß« und Vermittlung setzen und es nicht seltsam finden, so häufig mit den Mehdorns dieser Welt einer Meinung zu sein, brauchen sie sich nicht wundern, dass ihre Klientel auf keinen grünen Zweig kommt. Ihr »Laden«, jene riesige Menge an Arbeitskräften, welche die Gewerkschaften in ihrer Eigenschaft als Marktkartelle betreuen, bricht dabei zusehends auseinander. Jedes noch so egoistische Handeln eines kleinen Teils der lohnabhängigen Bevölkerung erweist sich als realistischer als der von oben verordnete Realismus.