Reich wie die Schweizer

Boliviens Präsident verspricht eine bessere Zukunft und will die Industrialisierung fördern. Die Opposition spielt derweil auf Zeit. von benjamin beutler, la paz

Als einen Pessimisten kann man Präsident Evo Morales nicht bezeichnen: »Bolivien, mit all seinen natürlichen Ressourcen, kann besser sein als die Schweiz.« Derzeit ist Bolivien das zweitärmste Land Lateinamerikas. Doch in einer anlässlich des 182. Gründungstags der Republik gehaltenen Rede schilderte Morales die Erfolge seiner 18monatigen Amtszeit und erläuterte seine ehrgeizigen Pläne für die Zukunft.

Während im Kongress in der Hauptstadt Sucre geträumt werden durfte, machten draußen rassistische Demonstranten lautstark auf sich aufmerksam. »Geht euch waschen«, »lasst uns in Ruhe, ihr könnt nicht einmal lesen« und »ungebildete Ignoranten« riefen regierungsfeindliche Demonstranten in Sprechchören. Morales, der erste indigene Präsident in der Geschichte Amerikas, hat keinen Universitätsabschluss.

Auch der manchmal etwas feminin wirkende und unverheiratete Vizepräsident Alvaro García Linera wurde mit einbezogen in die Schmäh­gesänge: »Evo – Arschloch, Linera – Schwuchtel!« Morales jedoch ließ sich nichts anmerken, er sprach so lange, bis den Protestierenden die Lust am Schreien verging. Drei Stunden und 40 Minuten vergingen, ohne dass er einen einzigen Schluck aus seinem Wasserglas nahm.

Die von ihm proklamierte »demokratische Revolution« steht noch am Anfang, und wie jede Regierung wird auch die der Bewegung zum Sozialismus (Mas) an ihren wirtschaftlichen Erfolgen oder Misserfolgen gemessen. Deshalb präsentierte Morales viele Zahlen, und die makro­ökonomischen Daten sehen gut aus. Erstmals seit 1940, als die Zinnpreise eine Hausse erlebten, konnte ein Haushaltsüberschuss erwirtschaftet werden, vor allem wegen der höheren Einkünfte durch die Verstaatlichung der fossilen Brennstoffe, deren Weltmarktpreis zudem stieg.

Die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts beträgt 4,6 Prozent für das Jahr 2006, höher als vor seiner Wahl im Dezember 2005. Der Wert der Exporte stieg im ersten Jahr seiner Regierung um 600 Millionen Dollar, die Nationalbank und private Banken sammeln Devisenreserven an. Auch die Prophezeiung, die Wahl einer linken Regierung werde die Verhandlungen mit ausländischen Regierungen und internationalen Finanz­institutionen erschweren, hat sich nicht bewahrheitet. Dank eines Schuldenerlasses sank die Auslandsschuld um knapp 80 Prozent, auch die internationalen Kredite fließen weiter. In diesem Jahr erhielt Bolivien mehr als 500 Millionen Dollar, doppelt so viel wie im Jahr 2005. »Das beweist doch, dass die Anschuldigungen falsch waren, mit Evo als Präsidenten werde es keine Hilfe mehr geben«, resümierte der Präsident.

Experten warnen sogar vor der »holländischen Krankheit«. In rohstoffexportierenden Staaten können Außenhandelsüberschüsse zu einer Aufwertung der Währung und Inflation führen, die die übrigen Wirtschaftszweige schädigen. Um das zu verhindern, soll Bolivien möglichst schnell industrialisiert werden. Die Zusammenarbeit mit transnationalen Konzernen scheut die neue Regierung dabei nicht, Morales will jedoch die Bedingungen ändern: »Wir brauchen Partner, keine Chefs.« Bei dem Abschluss von Verträgen wird auf Investitionen in Bolivien bestanden.

Ende Juli wurde mit dem indischen Stahlkonzern Jindal Steel&Power ein Vertrag unterzeichnet. Für die kommenden 40 Jahre erhielt das Unternehmen die Schürfrechte in El Mutún, einer der weltweit größten Eisenerzminen. Im Gegenzug garantieren die Inder Investitionen von 2,1 Milliarden Dollar sowie die Errichtung der ersten Stahlhütte Boliviens bis zum Jahr 2010. Das staatliche venezolanische Erdölunternehmen PDVSA sicherte über die Gründung einer Tochterfirma in Bolivien Direktinvestitionen von anfangs einer Milliarde US-Dollar zu, vor allem zur Entdeckung und Förderung noch unausgebeuteter Ölvorkommen. Hugo Chávez weihte während seines jüngsten Besuchs die Baustelle eines thermo-elektrischen Kraftwerks ein, und in der vergangenen Woche unterzeichnete der argentinische Präsident Nestór Kirchner einen Vertrag zum Bau einer Gasverflüssigungsanlage.

In machtpolitischer Hinsicht vielleicht noch wichtiger ist die Landreform, denn der Großgrundbesitz ist die ökonomische Basis der weißen Oligarchie. »Die Agrarreform von 1953 hat uns nichts gebracht außer der Zersplitterung der Eigentumsverhältnisse im Hochland und dem Großgrundbesitz im Tiefland. Darum haben wir uns entschieden, diese Reform durch die Agrarrevolution zu ersetzen«, kündigte der ehemalige Koka-Bauer Morales in seiner Festrede an.

Diese »Revolution« fördert, wie die Rohstoff- und Industriepolitik, die nachholende kapitalistische Entwicklung. Kollektivierungen sind nicht geplant, das Privateigentum wird grundsätzlich respektiert. Ungenutztes oder zu Spekulationszwecken verwendetes Land kann enteignet und an landlose Bauern verteilt werden. Den Klein­produ­zenten soll der Zugang zu Krediten erleichtert werden.

Von diesen potenziellen Enteignungen wären vor allem Unternehmer aus den Departements Santa Cruz und Beni betroffen, und so verwundert es nicht, dass sich dort auch der politische Widerstand gegen Morales konzentriert. Die größte Sorge der Oligarchie ist die legislative Verankerung der gesellschaftlichen Reformen durch die immer noch tagende Verfassunggebende Versammlung.

Eigentlich sollte die legislative »Neugründung Boliviens« bereits am 6. August abgeschlossen sein. Doch die Opposition im Verfassungskonvent blockierte die Verhandlungen, acht Monate lang passierte nichts. Anfang Juli verlängerten die 255 Wahlmänner eigenständig ihr Mandat, der Kongress stimmte vor zwei Wochen einem entsprechenden Gesetz zu.

Das wurde allerdings nur möglich durch einen Pakt aller Parteien, den Linera als »patriotisches Verhalten« lobte. Um ein Scheitern des Verfassungsprozesses zu verhindern, musste die Mas Kompromisse machen, die von vielen sozialen und indigenen Basisorganisationen kritisiert werden. Sie sehen Forderungen wie die nach »indigenen Autonomien«, der Selbstverwaltung auf traditioneller Basis, gefährdet.

So gerät Morales auch von Seiten der sozialen Bewegungen unter Druck. Sie hatten ihre Unterstützung an klar formulierte Forderungen und Bedingungen geknüpft und beharren darauf, dass die Regierung ihre Zusagen einhält. Die wirtschaftsliberale Oligarchie hingegen schreckt zwar derzeit vor einer direkten Konfrontation zurück, nutzt jedoch jede Gelegenheit, um die neue Regierung zu schwächen.