Schleier statt Viagra

Radikale Gruppen wie die »Schwerter der Wahrheit« und die »Armee des Islam« nehmen der Hamas im Gaza die Arbeit ab und zwingen Frauen unter Todesdrohungen, den Schleier zu tragen. von ido zelkovitz

Die palästinensische Nationalbewegung bot fürFrauen von Anfang an eine Plattform. Sie hatten die Möglichkeit, ihre Interessen öffentlich zu vertreten und an der Gestaltung der ausgebrannten Gesellschaft mitzuwirken. NGO, Wohlfahrtsorganisationen und Frauenvereinigungen wurden gegründet. Wichtige Posten in der politischen Führung des Landes wurden von Frauen besetzt, so war Um Jihad Ministerin für soziale Angelegenheiten und Fatma Birnawi Leiterin der palästinensischen Frauenpolizei.

Aber das ist alles längst Vergangenheit. Inzwischen ist das tägliche Leben der Frauen in Palästina die Hölle, vor allem im Gaza-Streifen. Nach der gewaltsamen Machtübernahme der Hamas im Juni flohen viele säkulare Frauen, nicht nur ausländische. Mehr als 300 palästinensische Witwen mit ihren Kindern flüchteten in die liberalere Westbank.

In den Straßen von Gaza trifft man schon seit Jahren kaum eine Frau, die ihr Haar offen trägt. Doch die Angst vor gewalttätigen Übergriffen, die im Namen der Ehre begangen werden, hat zugenommen. Die Streitkräfte der Hamas und die Izz al-Din al-Kassam-Brigaden beherrschen die Straßen. Sie haben die Exekutive übernommen. Anklage und Strafe werden oft im selben Moment ausgeführt.

Schon bevor die Hamas die Macht übernahm, hatte sich in Gaza die Situation verschärft. Im Juni vergangenen Jahres tauchte eine neue Gruppe auf, die »Armee des Islam«, die zuletzt durch die Entführung des BBC-Reporters Alan Johnson weltweite Aufmerksamkeit erhielt. Gruppen wie diese versuchen gewalttätig, die strikte Einhaltung des islamischen Rechts durchzusetzen. Internetcafés, Musikläden, Schönheitssalons und Apotheken, die Viagra verkaufen, wurden überfallen. Die ersten Betroffenen dieser neuen Brutalität sind die Frauen

In den palästinensischen Medien hört man davon so gut wie nichts. Doch der Journalist Martin Chu­lov berichtete am 24.März in The Australian über die Jagd auf Frauen in Gaza. Saha Rijab erzählte ihm im Krankenhaus von Gaza, dass sie von vermummten Männern, die sich als Angehörige der »Armee des Islam« ausgaben, bedroht wurde, die ihr ins Bein schossen, weil sie sich weigerte, einen Schleier zu tragen. Sie sei von ihrem eigenen Cousin, dem Hamas-Mitglied Wael Rijab, als Fatah-Anhängerin und wegen »unmoralischer Haltung« bei der Polizei angezeigt worden. Doch die Polizei in Gaza gibt es nicht mehr. Sämtliche Polizeistationen sind von den Angehörigen der al-Kuwa al-Tanfidia, der Streitkräfte der Hamas, besetzt. Diese Gruppe besteht vor allem aus Mitgliedern der Diri-Familie, während die »Armee des Islam« mit der Dormush-Familie verbunden ist. Gerüchteweise verüben die Diris Übergriffe auf Frauen, um sie den Dormushs in die Schuhe zu schieben und diese auf diese Weise zu diskreditieren.

In israelischen Militärkreisen spricht man von 25 Frauen, die seit Juni umgebracht wurden. Über die tatsächliche Anzahl von Ehrenmorden oder brutalen Übergriffen auf Frauen und darüber, wer sie verübt hat, lässt sich jedoch nur spekulieren. Todesdrohungen islamistischer Organisationen sind hingegen belegbar. Viel Aufsehen und sogar Proteste in Gaza erregte die Gruppe »Schwerter der Wahrheit« am 3. Juni mit ihrer Botschaft an die Moderatorinnen von Palestine TV: »Wir werden ihnen von Ader zu Ader die Kehle durchschneiden, wenn dies notwendig sein sollte, um die Religiosität und die Moral dieses Volkes zu unterstützen«, hieß es in ihrer Erklärung, mit der sie die Journalistinnen zwingen wollten, den Schleier aufzusetzen. Ihren Job verloren die Frauen allerdings vorläufig deswegen, weil das Gebäude der Palestinian Broadcasting Cooperation bei den Kämpfen zwischen der Fatah und der Hamas in Brand gesteckt und zerstört wurde.

Den islamistischen Kämpfern geht es jedoch nicht nur um das sündhaft offen getragene Frauenhaar. Die Drohung der »Schwerter der Wahrheit« beschränkte sich nicht nur auf die westlich gekleideten Moderatorinnen. Auch die Nachrichtensprecherinnen, die sich dem islamischen Dress­code anpassten, wurden eingeschüchtert. Lana Shaeen, Programmdirektorin der englischen Ausgabe von Palestine TV, glaubt, dass der Kampf um das Erscheinungsbild der Frauen darauf abzielt, sie von ihren Arbeitsplätzen und aus der öffentlichen Sphäre zu verdrängen. »Sie wollen uns einsperren, damit wir nichts anderes tun, als den Männern zu dienen. Das ist in ihren Augen unsere Rolle, und sie erdreisten sich, das im Namen des Islam zu fordern.«

Auch die Hamas will die Frauen unter das islamische Recht zwingen. Doch die islamische Organisation hält sich nach wie vor für eine Verfechterin der Rechte von Frauen in der öffentlichen Sphäre. So gibt es Stimmen in der Hamas, die eine Wiedereinführung der Frauenpolizei fordern. Nach islamischem Recht kann kein Mann die Frau eines anderen Mannes untersuchen. Hunderte von Frauen haben sich bereits als Freiwillige für diesen Dienst gemeldet. Des Weiteren rühmt sich die Hamas damit, die Bildung von Frauen zu unterstützen, spricht sich grundsätzlich gegen Ehrenmorde aus und prahlt damit, dass sechs von ihren 74 Sitzen im palästinensischen Parlament von Frauen besetzt sind. Eine von ihnen ist Miriam Farhat, die »Mutter der Märtyrer«, deren drei Söhne zu Märtyrern der Izz al-Din al-Kassam-Brigaden, einem weiteren militärischen Arm der Hamas, wurden. Bevor ihr Sohn Muhammad fünf Menschen in einer israelischen Siedlung mit sich in den Tod riss, ermutigte Farhat ihn in einem Video zu dieser Tat und äußerte nach seinem Ableben den Wunsch, 100 Söhne zu haben, die sie auf diesem Weg opfern könnte.

Als politische Symbolfiguren oder als militärische Hilfssoldatinnen spielten Frauen in der Tat eine wichtige Rolle bei der Hamas. Während der Belagerung in Bait Hanon im vergangenen November folgten Hunderte Frauen der Aufforderung der Partei, sich als lebende Schutzschilder vor die Moschee zu stellen, um die dort verschanzten Männer vor der israelischen Armee zu schützen.

Auch wenn es in Gaza nach wie vor Zentren gibt, die für die Gleichberechtigung der Frauen eintreten, werden die Frauen zunehmend ihrer Rechte und Möglichkeiten beraubt. Das Regime der Hamas ermutigt Extremisten zu ihrer Frauenfeindlichkeit, die sie im Namen der Moral und Allah zuliebe pflegen. Die Frauen in Gaza haben Angst. Vor der starken Feindschaft, die ihnen entgegenschlägt, können sie sich nur schützen, wenn sie ihren Kopf mit dem Schleier bedecken.

Ido Zelkovitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Geschichte des Mittleren Ostens an der Universität Haifa in Israel.