Handy vergessen, trotzdem frei

Der beschuldigte Stadtsoziologe Andrej H. ist aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Die Bundesanwaltschaft (BAW) hält jedoch den Vorwurf, er sei Mitglied der »Militanten Gruppe«, aufrecht. Von Martin Kröger

Hin und wieder dringen Wortfetzen über die zehn Meter hohe gekachelte Mauer, auf der in langen Reihen Stacheldraht befestigt ist. Einige Insassen des Gefängnisses in Berlin-Moabit versuchen, mit den Leuten draußen Kontakt aufzunehmen. Sie rufen und winken durch die Gitterstäbe. Vor den Mauern hat sich eine kleine Demonstration versammelt. Rund 250 Menschen sind gekommen, um ihre Solidarität mit den Beschuldigten des Verfahrens wegen angeblicher Mitgliedschaft in der terroristischen »Militanten Gruppe« – mit Florian L., Oliver R., Axel H. und Andrej H. – kund­zutun.

Unter den Demonstranten befanden sich am Mittwoch voriger Woche viele Studenten und Kol­legen des an der Humboldt-Universität lehrenden Stadtsoziologen Andrej H., den die Bundesan­walt­schaft unter Generalstaatsanwältin Monika Harms, die das Ermittlungsverfahren seit September 2006 führt, beschuldigt, »der intellektuelle Anführer der MG« zu sein.

Fast ein Jahr lang hatten Ermittler sein Telefon abgehört, sein Handy geortet, seine E-Mails gelesen und die Eingänge seines Wohnhauses gefilmt. Schlagwörter des Soziologen, die er in wissenschaftlichen Abhandlungen gebraucht haben soll, würden sich in den Bekennerschreiben der »Militanten Gruppe« wiederfinden, behauptet das Bundeskriminalamt. Doch am Tag der Demonstration gab es Grund zur Freude für die Freunde, Kollegen und Demonstranten vor dem Gefängnis. Der dreifache Familienvater Andrej H. war kurz zu­vor am selben Tag freigekommen. An dem Vorwurf, er sei ein mutmaßlicher Terrorist, hält die Bundesanwaltschaft zwar ausdrücklich fest; dennoch hielt der zuständige Bun­desgerichtshof (BGH) den Beschluss zur U-Haft nicht mehr aufrecht, da der zuständige Ermittlungsrichter davon ausgeht, dass der »Fluchtgefahr mit weniger einschneidenden Mitteln als der Untersuchungshaft« begegnet werden könne.

Nach fast drei Wochen Haft, in der die Beschuldigten getrennt von den anderen Gefängnisin­sassen gehalten wurden, war H. wieder in Freiheit. Um selbst an dem Protest teilzunehmen, sei er allerdings zu schwach, ließ er über seine Anwältin Christina Clemm ausrichten. »Der Haftbefehl wurde nicht aufgehoben, sondern der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof hat meinen Mandanten nach Zahlung einer Kaution und unter Auferlegung verschiedener Auflagen von der Untersuchungshaft verschont«, erläuterte sie.

Gegen die so genannte Haftverschonung legte die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe umgehend Beschwerde ein, über die erneut vom Bundesgerichtshof entschieden werden muss. »Einen Termin dafür gibt es noch nicht«, sagte ein Sprecher der Bundesanwaltschaft. Trotz des Widerspruchs kann Andrej H. zunächst in Freiheit bleiben. Am Wochenende erneuerte die Generalstaatsanwältin Monika Harms in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung jedoch die schwerwiegenden Vorwürfe gegen den Universitäts­dozenten und die insgesamt sechs anderen Beschuldigten in dem Verfahren.

»Es sind keine dummen Bubenstreiche, wenn Bundeswehrfahrzeuge angezündet werden«, sagte Harms. Sie verteidigte auch den Haftbefehl gegen Andrej H.: »Der Ermittlungsrichter beim Bundesgerichtshof erlässt keine Haftbefehle nur aufgrund von wissenschaftlichen Veröffent­lichungen, wie es in manchen Medien unterstellt wurde.« Es gebe konkrete Anhaltspunkte für »konspirative Verbindungen« zwischen dem Wissenschaftler und drei anderen in Brandenburg Verhafteten, behauptet die Generalstaatsanwältin. Nach Angaben der Anwältin von Andrej H. begründet die Bundesanwaltschaft die Konspi­rativität dieser Treffen u.a. damit, dass Andrej H. bei den Begegnungen mit einem der angeblichen Brandstifter kein Handy dabei gehabt haben soll.

Zum Inhalt der Gespräche sagten die Anwälte der Beschuldigten, von denen viele dem Republikanischen Anwälteverein (RAV) angehören: »Die Behörden haben keinerlei Erkenntnis darüber, was bei den Treffen im Februar und April 2007 überhaupt besprochen worden sein soll. Es wird jedoch ein sehr weitgehender Schluss aus den angeblichen Treffen gezogen.« Denn die beiden Treffen sind nicht nur grundlegend für den Terrorismusvorwurf gegen den Soziologen, sondern stellen auch die einzige Verbindung zwischen den in Brandenburg Festgenommenen und den vier weiteren Beschuldigten in Berlin dar.

Vage Zusammenhänge mit weitreichenden Konsequenzen, die in den vergangenen Wochen unter kritischen Akademikern im In- und Ausland für Proteste gesorgt haben. »Guantanamo in Germany« glaubte die liberale englische Tageszeitung The Guardian zu erkennen. Weit über 2 000 Forscher, Studenten und Lehrende unterschrieben inzwischen einen offenen Brief an die General­bundesanwaltschaft, in dem sie die Einstellung des Verfahrens forderten und sich gegen die Diskriminierung von kritischer Forschung wandten. Unter den Unterzeichnern befinden sich viele renommierte Professoren. Nicht zuletzt dieser öffentliche Druck dürfte mit zur Freilassung von Andrej H. beigetragen haben.

Wie sehr die Bundesanwaltschaft offenbar in der Bredouille steckt, belegt auch eine rechtlich überaus zweifelhafte Aktion vom Wochenende: Ohne Vorlage eines Durchsuchungsbefehls klingelte am Sonntagnachmittag erneut das Bundeskriminalamt bei Andrej H. und durchsuchte seine Wohnung. Gesucht wurde ein schwarzer Beutel, in dem sich Ermittlungsakten befanden, die H. bei seiner Haftentlassung dabei hatte. Aufgrund der Überwachung war den Ermittlern offenbar bekannt, dass der Wissenschaftler für den Nachmittag ein Gespräch mit seiner Verteidigerin geplant hatte. »Bei der Durchsuchung hat der anwesende Beamte die Unterlagen, mit denen sich der Beschuldigte auf das Gespräch vorbereitet hat, durchgesehen und nach handschriftlichen Notizen gesucht. Das ist selbstverständlich illegal, und eine stärkere Einschränkung der Rechte auf faire Verteidigung ist kaum vorstellbar«, sagte Anwältin Clemm nach der Durchsuchung.

Fragwürdige Praktiken, die bereits in der Woche zuvor für Aufsehen sorgten, als Details über die Festnahme der Beschuldigten, die angeblich Brandanschläge auf drei Bundeswehrfahrzeuge hatten verübt haben sollen, bekannt geworden waren. Die Festnahme soll wie in schlechten Actionfilmen abgelaufen sein. »Einem blitzartigen Überfall gleich wurde die Straße blockiert und das Fahrzeug abrupt zum Stehen gebracht, dann wurden die Scheiben eingeschlagen und die Insassen durch die herausgebrochenen Fenster­schei­ben nach draußen gezerrt. Dabei kam es zu Schnitt­verletzungen an verschiedenen Körper­stellen«, berichten die Anwälte der Betroffenen. Einer der drei angeblichen Brandstifter soll von den Polizisten des Sondereinsatzkommandos misshandelt worden sein, und allen Verdächtigen sollen nach der Festnahme weiße, dünne Plastikoveralls übergezogen und Säcke über die Köpfe gestülpt worden sein. Erst nach mehreren Stunden soll den Beschuldigten erklärt worden sein, wo sie sich überhaupt befanden, behauptet das »Bündnis für die Einstellung des §129a-Verfahrens« in einer Erklärung.

Die Gruppe, die auch die oben erwähnte Kundgebung unter dem Motto »Alle raus jetzt!« vor dem Gefängnis in Berlin-Moabit organisiert hat, plant indessen die nächsten Schritte. »Wir wollen uns an der bundesweiten Demonstration am 22. September gegen den Überwachungswahn in Deutschland in Berlin beteiligen«, erzählt Claudia Grote, die sich bei dem Bündnis gegen den Paragrafen 129 a und b engagiert. Immerhin würden sich nach den jüngsten Ereignissen mehr Menschen an den Protesten beteiligen. »Das steht auf breiteren Füßen als die ersten Spontankundgebungen«, sagt Grote.