Die Unsichtbaren

Vor dem Gipfel der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek wollten die Behörden den internationalen Gästen eine saubere und ordentliche Stadt präsentieren. »Unerwünschte Elemente« wurden von der Polizei von den Straßen vertrieben. Dazu zählen insbesondere obdachlose Jugendliche und Kinder, die aus den armen Regionen in die Hauptstadt kommen. von tim banning (text und fotos)

Scharfschützen auf den Häuserdächern, verriegelte Fenster, alle paar Meter ein bewaffneter Milizionär auf der Straße, der ständige Lärm der patrouillierenden Helikopter – das waren Mitte August die auffälligsten Anzeichen eines bevorstehenden Großereignisses in der kirgisischen Hauptstadt Bischkek.

Auch die endlose Schlange vor dem beliebten Hamburger-Verkäufer Ecke Kievskaja-Sovietskaja war plötzlich verschwunden, einigen Cafés und Restaurants wurde eine Zwangsrenovierung verordnet, der Platz vor der Philharmonie war monatelang eine Großbaustelle. Bischkek wollte sein Erscheinungsbild schnellstmöglich aufpolieren für das Gipfeltreffen der Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), an dem hohe Repräsentanten der Mitgliedsländer Russland, China, Kirgisien, Kasachstan, Tadschikistan und Usbekistan, auch der iranische Präsident Mah­moud Ahmadinejad, teilnahmen. Zumindest optisch wollte sich die Stadt dem internationalen Publikum von ihrer besten Seite zeigen. Sogar die Opposition spielte mit und verzichtete auf Demonstrationen.

Die staatlichen Bemühungen, aus Bischkek eine Art Puppenstube zu machen, beschränkten sich jedoch nicht auf die Korrektur kleinerer Schönheitsfehler. »Man möchte die Oberfläche der Stadt von allen unerwünschten Elementen reinigen – und dazu zählen vor allem Straßenkinder«, klagt Johannes Gehrs, Direktor des nichtstaatlichen Heims Putnik Center. Mit Straßenkindern verfährt die Regierung schon länger nach dem Prinzip »aus den Augen, aus dem Sinn«. Seit der Machtübernahme von Kurmanbek Bakijew im April 2005 begann die Polizei mit »Säuberungs­aktionen«, wodurch die Anzahl obdachloser Kinder auf den Straßen von Bischkek drastisch zurückging. »Früher fanden wir auf unseren Rundgängen bis zu 40 Kinder an einem Ort. Das wäre heute undenkbar«, sagt Gehrs. Dies bedeutet aber nicht, dass sich die Situation für die Jugendlichen verbessert hat.

Die meisten Straßenkinder in der kirgisischen Hauptstadt sind zwischen 13 und 16 Jahre alt und einem Elternhaus entflohen, in dem Armut, Gewalt und Alkoholismus den Alltag prägen. Ein Großteil von ihnen stammt nicht aus dem massenhaft verarmten Stadtproletariat, das schon immer in Bischkek gelebt hat, sondern aus den ländlichen Regionen der Republik, wo es kaum noch russischstämmige Kirgisen gibt, insbesondere aus dem Distrikt Batken im Süden des Landes.

Die größten Probleme auf der Straße sind Kälte und Hunger, Krankheiten und Probleme mit der Polizei kommen oft noch hinzu. Erleichterung suchen die oft mehrfach drogenabhängigen Kinder beim Klebstoffschnüffeln oder Wodkatrinken. Viele von ihnen konsumieren auch regelmäßig Naswaj, eine traditionelle Droge, die aus Tabak besteht.

Clara und Slava arbeiten als so genannte Streetworker für das Putnik Center. Auf ihren täglichen Rundgängen durch Bischkek versuchen die beiden jungen Frauen, Kontakt zu den Kindern herzustellen, Soforthilfe zu leisten und das Putnik Center als Zufluchtsort bekannt zu machen. An diesem Tag ziehen sie über den Osch-Basar, den größten Markt der Stadt. Die T-Shirts über die Gesichter gezogen, um sich vor dem beißenden Gestank und dem entweichenden Wasserdampf zu schützen, umrunden sie ein drei Meter tiefes Loch, dessen Boden von einer Schicht aus Exkrementen und Müll bedeckt ist. Die verzweigten Röhren und Schächte darin gehören zum städtischen Fernwärmesystem. »Im Winter ist das einer der bevorzugten Schlafplätze«, bemerkt die 23jährige Slava.

Nach mehreren Stunden im dichten Marktgedränge treffen sie Tante Natascha. Die etwa 60jährige betreibt einen kleinen Verkaufsstand für Blumentöpfe. Neben ihrer Arbeit engagiert sich die weißhaarige Frau für die Kinder auf dem Basar. »Viele Jahre lang habe ich Kleidung und Medizin für sie gesammelt. Damit musste ich aufhören, als die Kinder anfingen, Medikamente weiterzuverkaufen, um das Geld für Wodka auszugeben«, erzählt sie. »Überhaupt ist es in letzter Zeit schwieriger geworden, mit den Kindern in Kontakt zu kommen.«

Tatsächlich treffen Clara und Slava während des Rundgangs kaum obdachlose Jugendliche. Die Polizeiaktionen haben zu einem erhöhten Druck unter ihnen geführt, der die Patrouillen der Sozialarbeiter zu einer Sisyphusarbeit macht. »Durchschnittlich zehn Kinder im Monat nehmen unsere Visitenkarten. Es ist fast unmöglich geworden, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihnen aufzubauen«, beklagt sich Slava. Gehrs vermutet, dass die Mehrheit der Jugendlichen sich mittlerweile in Verstecken in den Vorstädten aufhält und nur noch für wenige Stunden täglich das Stadtzentrum aufsucht. »Viele Kinder tendieren heute eher dazu, den Druck im Elternhaus zu akzeptieren, da sie sich auf der Straße gefährdeter fühlen«, sagt Gehrs.

Seit etwa acht Monaten begegnet man auffallend wenigen Straßenkindern im Zentrum der Stadt. Mira Itikeeva, Leiterin des Center for the Protection of Children in Bischkek, erklärt dies mit den »Säuberungen«, deren Intensität sich vor dem SOZ-Gipfel noch erhöht habe. Dass die Anzahl der Jugendlichen mit der Präsenz von Polizeipatrouillen zusammenhängt, wurde im April besonders deutlich, als alle Polizeieinheiten der Hauptstadt gegen Anti-Regierungs-Demonstrationen eingesetzt wurden. »Unsere Streetworker stellten damals einen sprunghaften Anstieg an Straßenkindern fest, nach den Demonstrationen wurden sie genauso schnell wieder weniger«, erinnert sich Itikeeva.

Im Gegensatz zu den anderen Sozialarbeitern kann sich Herr Akyl nicht über den Erfolg seiner Hilfsangebote beklagen. Er leitet eine Einrichtung am Osch-Basar, die Kinder unter anderem mit kostenlosen Mahlzeiten versorgt. »Ungefähr 80 Kinder nehmen täglich an unserem Ernährungsprogramm teil«, berichtet er. »Das ist unsere Chance, mit ihnen in Kontakt zu treten, sie an unsere Einrichtung zu binden und schließlich auch mit den Eltern zu kooperieren.« Im Esssaal sitzen junge Schuhputzer in zerschlissener Kleidung Suppe löffelnd neben gleichaltrigen Mädchen in adretten Schuluniformen.

Der 15jährige Aibek lebt schon seit über einem Jahr auf der Straße und verdient in der Nähe des Basars täglich ungefähr einen Euro mit Schuhputzen. »Als mein Vater vor einigen Jahren starb, hat meine Mutter angefangen, zu trinken und mich zu schlagen«, erzählt er. Auch sei oft nichts zu essen im Haus gewesen. »Hier gibt es immer etwas Warmes zu essen. Ich komme gern zu Herrn Akyl, und meine Freunde treffe ich auch hier.« Und seine Mutter? »Ich besuche sie nur noch selten, immer für sehr kurze Zeit. Lange halte ich es zuhause einfach nicht aus.«

Das Projekt am Basar wird von einer dänischen Organisation gesponsert und hat sich zum Ziel gesetzt, Kinder von der Straße und aus verarmten Familien in die Schule zu reintegrieren. Effiziente Projekte von Nichtregierungsorganisationen können die sozialen Probleme in einem Land mindern, ein funktionierendes staatliches System ersetzen können sie jedoch nicht. »Es scheint nicht einmal eindeutig geregelt zu sein, welches Ministerium Verantwortung für die Straßenkinder trägt«, beklagt sich der Direktor des Putnik Center über die Zustände in Kirgisien. Das staatliche System ist selbst nicht in der Lage, den Folgen der Armut wirkungsvoll zu begegnen, während eine fruchtbare Zusammenarbeit mit NGOs an Kompetenzstreitigkeiten sowie an der willkürlichen und exzessiven Bürokratie scheitert.

In der Regel lesen die Polizisten jedes Kind, das obdachlos zu sein scheint, von der Straße auf. Jungen bringen sie in eine Art Internierungslager, Mädchen kommen ins Frauengefängnis, da für sie keine geeignete Einrichtung vorhanden ist. Der Versuch, die Identität der Kinder festzustellen, bleibt meist erfolglos. Danach sollen die Minderjährigen theoretisch in einem der staatlichen Heime Unterkunft finden, was aber praktisch gar nicht möglich ist, da diese bereits überfüllt sind und ihre finanziellen Mittel regelmäßig gekürzt werden.

»Vom Staat erhalten wir Medikamente, deren Verfallsdaten häufig schon lange überschritten sind«, erzählt die Krankenschwester eines staatlichen Kinderheims. »Einmal wurde uns sogar eine Kiste von Medikamenten zur Bekämpfung von Alzheimer geliefert.« Das Personal in den staatlichen Heimen ist stark überlastet. Auf einen Erzieher kommen durchschnittlich 20 bis 30 Kinder. Obendrein liegt das Gehalt der Erzieher bei nur 1 300 Som im Monat. Das sind umgerechnet 26 Euro – selbst in Kirgisien ist das zum Leben zu wenig.

Viele Kinder landen daher bald wieder auf der Straße. »Das System mag vielleicht zu Sowjetzeiten funktioniert haben. Aber der Staat hat versäumt, es an die enormen gesellschaftlichen Veränderungen seitdem anzupassen«, kritisiert Gehrs.

Mira Itikeeva macht konkrete Vorschläge, wie sich Entwicklungshilfe und staatliche Sozialarbeit effektiver gestalten ließen. »Der Schwerpunkt der meisten Hilfsprojekte liegt heute auf Interventionsmaßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, das akute Leiden benachteiligter Bevölkerungsgruppen zu lindern«, sagt sie. »Man sollte aber vielmehr mit den bereitgestellten Mitteln die sozialen Probleme unserer Gesellschaft an ihren Wurzeln bekämpfen. Das ist der Grund, warum viel mehr in präventive Maßnahmen investiert werden müsste.« Da über 80 Prozent der Straßenkinder aus verarmten Familien kommen, die hauptsächlich aus den ländlichen Provinzregionen stammen, »wäre es an der Zeit, in diesen Gegenden Aufklärungsstationen einzurichten, in denen man den Gemeinden Konzepte der Familienplanung vermittelt und ihnen wirtschaftliche Chancen eröffnet. Ohne solche langfristigen Ansätze wird es niemals zu dem dringend notwendigen Strukturwandel im kirgisischen Gesellschaftsgefüge kommen«, erklärt Itikeeva.

Natürlich stößt die Entwicklungshilfe in Staaten der ehemaligen Sowjetunion auf besondere Probleme. »Zwar findet man in vielen Teilen der Bevölkerung einen relativ hohen Bildungsstandard vor, doch Kommunismus und Planwirtschaft haben den Menschen auch den Willen zur Partizipation und die Bereitschaft, Verantwortung zu tragen, genommen. So ist es wesentlich schwieriger, die Landbevölkerung in Projekte zu integrieren und sich auf ihre aktive Teilnahme zu verlassen, als in anderen Weltregionen ohne kommunistische Prägung«, meint sie.

Große Organisationen wie die Weltbank beschließen oft umfangreiche Entwicklungspläne mit der Regierung. Gemessen an dem enormen Maßstab solcher Projekte profitiert die Landbevölkerung jedoch nur wenig davon. Denn als allgemeine Gewissheit unter Entwicklungshelfern gilt, dass auf jeder Verwaltungsebene korrupte Funktionäre die Hand aufhalten und so die Hilfsleistungen stark verringern.

Besonders anschaulich belegt das internationale Ranking von Transparency International aus dem Jahr 2006 die Korruptionsprobleme in Kirgisien. Den zentralasiatischen Staat findet man noch hinter der Republik Kongo und hinter Kenia auf dem 145. von 163 Plätzen wieder.

Um die wachsende Verarmung in den Provinzen gezielt zu bekämpfen und Familien mit Kindern Perspektiven zu bieten, müssten die Landgemeinden von der Regierung unabhängiger werden. Dazu bräuchte es vor allem eigene Finanzquellen.

Dass auf der anderen Seite dezentrale Entwicklungshilfe auch nicht unproblematisch ist, zeigt die hohe Anzahl an NGO in Bischkek. Unter den ungefähr 400 Organisationen in der Hauptstadt sind viele eher klein, verfügen über ein geringes Budget und haben dazu oft relativ hohe Verwaltungskosten. Auch wenn die einzelnen NGO alle so effizient arbeiten würden wie das Ernährungsprogramm von Herrn Akyl, stünde diese Zersplitterung dem ersehnten Strukturwandel eher entgegen. Neue, bessere Maßnahmen in der Sozialarbeit sind dringend erforderlich, denn die Teuerung, die hohe Arbeitslosigkeit und ein marodes Sozialsystem geben kaum Hoffnung auf eine Zukunft ohne Kinderarmut und Obdachlosigkeit.

Bis dahin bleiben die Straßenkinder Bischkeks ein sichtbares Zeichen für die vielschichtigen sozialen Probleme des Staats, auch wenn die Regierung sich bemüht, durch gezielte Polizeiaktionen die Situation zu verschleiern.

Auf dem SOZ-Gipfeltreffen in Bischkek riefen der russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti zufolge allerdings die Vertreter ebendieser Regierung die Initiative ins Leben, den 20. Februar zum »Welttag der sozialen Gerechtigkeit« zu erklären.

Der »Club der Diktatoren«, wie die SOZ häufig von Kritikern bezeichnet wird, diskutierte jedoch viel mehr über geostrategische Fragen als über soziale Gerechtigkeit. Hauptthema des Gipfels war die Einschränkung des US-amerikanischen Einflusses in Zentralasien, um, wie Putin es formulierte, »eine multipolare Welt sicherzustellen«.