Schwester erschossen, dann SMS geschickt

Der Bundesgerichtshof hat die Freisprüche für die beiden älteren Brüder im Prozess um die Ermordung von Hatun Sürücü aufgehoben. In einem neuen Verfahren müssen die ideologischen Hintergründe, die zu dem Mord geführt haben, stärker beleuchtet werden. von kerstin eschrich

Junge Musliminnen sind während ihres Urlaubs besonders gefährdet. In der Türkei, im Kosovo oder etwa im Libanon droht ihnen die Zwangsheirat. Viele junge Frauen und Mädchen haben sich deswegen in den vergangenen Wochen bei Hilfsorganisationen gemeldet. Der Bundesgeschäftsstelle von Terre des Femmes zufolge hat sich seit dem Jahr 2004 die Zahl der Frauen, denen die Organisation Beistand geleistet hat, verdoppelt. Ein Grund dafür ist auch, dass derartige Verbrechen in den vergangenen Jahren öffentlich eher wahrgenommen werden als früher. Weniger optimistische Einschätzungen besagen dagegen, dass immer mehr Hochzeiten unter Zwang und mit Hilfe von Gewalt zustande kommen.

Auch Hatun Sürücü war in der Türkei zwangsweise von ihrer kurdisch-islamischen Familie mit einem Cousin verheiratet worden. Doch sie ließ sich scheiden und lebte ihr Leben, wie sie es wollte. Das bedeutete ihr Todesurteil: Ayhan Sürücü, ihr jüngster Bruder, erschoss sie am 7. Februar 2005 an einer Bushaltestelle im Berliner Bezirk Tempelhof. Er habe den Lebenswandel und die Moralvorstellungen seiner Schwester nicht akzep­tiert, sagte er später dazu.

Dass über die Verstrickungen von Familienmit­gliedern in so genannte Ehrverbrechen, über das infame Vorgehen, einen jungen, am besten dem Jugendstrafrecht unterliegenden Verwandten als Täter vorzuschicken, in der Öffentlichkeit diskutiert wird, ist auch einer jungen Frau zu verdanken. Melek A. hieß sie früher, nun lebt sie versteckt unter einem anderen Namen irgendwo in Deutschland. Sie trat als Hauptbelastungszeugin gegen die Brüder Mutlu und Alpaslan Sürücü im Prozess um die Ermordung von deren Schwester Hatun auf.

Melek A. hat ausgesagt, ihr damaliger Freund Ayhan, der verurteilte Mörder, habe ihr von der Beteiligung der beiden Brüder an der Tat berichtet. Zwar hat Ayhan dies nie geleugnet, behauptete aber, Melek angelogen zu haben, um sie zu beruhigen und ihr vorzugaukeln, die Familie stehe hinter ihm.

Bei dieser Argumentation folgte ihm das Gericht im ersten Prozess. Die beiden älteren Brüder wurden mangels Beweisen freigesprochen. Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs in Leipzig hat jedoch in der vergangenen Woche die Frei­sprüche für Mutlu und Alpaslan Sürücü aufgehoben und den Fall zur Neuverhandlung an das Berliner Landgericht zurückverwiesen. Dies könnte bedrohte Frauen ermutigen, sich gegen ihre Verwandten und deren archaische Vorstellungen zur Wehr zu setzen.

Nach dem ersten Prozess waren viele Fragen offen geblieben, nicht nur zum Tathergang. Kaum angesprochen wurde die Ideologie, die der Tat zugrunde lag; etwa wenn der spätere Mörder Frauen, die sich nicht verschleierten, als »Huren« und »Schlampen« beschimpfte. Oder das Umfeld, in dem bei dem jungen Mann der Gedanke aufkommen konnte, seine Schwester müsse ermordet werden, weil sie »zu westlich« lebe. Oder die Verbindungen der Familie zu dem radikalen islamistischen Prediger Metin Kaplan. (Jungle World 16/06)

Clemens Basdorf, der Vorsitzende Richter des Strafsenats, kritisierte in seiner mündlichen Begründung, die Jugendkammer des Berliner Landgerichts habe in ihrem Urteil im April 2006 die Zeugenaussage von Melek A. nicht genug gewürdigt. »Es gibt erhebliche Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Angaben von Melek A.«, sagte er. Es sei beispielsweise unklar, warum Ayhan Sü­rücü gleich beide Brüder falsch belastet haben sollte. Außerdem habe das Jugendgericht weitere belastende Indizien nicht berücksichtigt.

Insbesondere eine SMS, die Ayhan Sürücü fünf Minuten nach der Tat an seinen Bruder Alpaslan geschickt hatte. Und zwar mit dem Inhalt: »Ich bin am Kotti. Wo bist du?« Mit »Kotti« war das Kottbusser Tor in Berlin Kreuzberg gemeint. Diese SMS müsse »als potenziell gravierendes Indiz« neu bewertet werden; möglicherweise habe es eine nicht eingehaltene Verabredung gegeben, sagte Basdorf. Zudem gebe es auch noch Ayhans Aussage, er habe sich mit seinem Bruder in der Nähe des Tatorts verabredet. Diese zog er später wieder zurück.

Wenn es zu einem neuen Prozess kommen sollte, liegt die Hauptlast bei Melek A. Bereits beim ersten Mal musste sie mit schuss­sicherer Weste auftreten. Von den Angeklagten wurde sie als Lüg­nerin beschimpft und angeschrieen. Nach mehrstündiger Befragung durch deren Anwälte, die versuchten, sie mit allen Mitteln zu verunsichern, begann sie zu weinen. Aber sie blieb bei ihrer Aus­sage. Möglicherweise wird ihr dies noch einmal abverlangt.

Sicher ist das aber nicht. Denn die beiden Brüder befinden sich in der Türkei – mehr oder weniger freiwillig. Alpaslan Sürücü ist türkischer Staatsangehöriger, und da er sich mehr als sechs Monate in dem Land aufgehalten hatte, wurde ihm im Frühjahr die Einreise nach Berlin verweigert. Nun kann Deutschland bei der Türkei um seine Auslieferung ersuchen, wenn er nicht freiwillig zu dem Prozess nach Deutschland kommen sollte. Allerdings liefert die Türkei keine eigenen Staatsbürger aus. Mutlu Sürücü besitzt dagegen die deutsche Staatsbürgerschaft.

Dabei kommen nun auch die Merkwürdigkeiten deutscher Behörden und Unzulänglichkeiten der Gesetzgebung ins Spiel. Unklar ist, wie jemand, dessen Freispruch noch nicht rechtskräftig ist, aus Deutschland ausreisen kann und anschließend, wenn er wieder zurückkommen will, nicht mehr einreisen darf, obwohl eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs ansteht.

Auch die Musliminnen, die keinen deutschen Pass besitzen und im Ausland zu einer Zwangs­ehe gedrängt werden, können nach sechs Monaten nicht mehr zurückkehren. Das bedeutet, sie, die verschleppt und zwangsverheiratet wurden, werden dann auch noch bestraft, indem sie, wenn ihnen nach einiger Zeit die Flucht gelingt, in Deutschland keine Aufenthaltserlaubnis mehr bekommen. So wird den Verfechtern menschenverachtender Traditionen in die Hände gearbeitet.