Glück allein macht nicht glücklich

Beim Poker sollte man sich nicht auf seine Sonnenbrille verlassen. Berechnungen gehören dazu. von tim blömeke

Die Titelseiten der Männermagazine sind voll davon, ebenso die Spamfilter, im Sportfernsehen wird es übertragen, und selbst in der Berliner U-Bahn sind hin und wieder ein paar Gesprächsfetzen zum Thema aufzuschnappen: Poker boomt. In den USA nimmt es traditionell einen ähnlichen Rang ein wie hierzulande Skat und hat mit einer Vielzahl von Redewendungen wie when the chips are down (wenn alle Stricke reißen) oder up the ante (den Einsatz erhöhen) den allgemeinen Sprachgebrauch bereichert. In den vergangenen Jahren ist die Popularität des Spiels auch international stark gestiegen. Die derzeit beliebteste Pokervariante heißt Texas Hold’em (Regeln z. B. unter ­wikipedia.de/texas_hold%27em).

Begünstigt wird diese Entwicklung vielleicht dadurch, dass in Zeiten gefühlter individualökonomischer Perspektivlosigkeit großer Teile der Bevölkerung Poker die Heilsversprechen des Kapitalismus gewissermaßen in kondensierter Form anbietet: Alles, was du brauchst, sind gute Nerven und ein wenig Glück. Allerdings stehen beim Poker als Quelle des eigenen Wohlstands ausschließlich die anderen Spieler zur Verfügung. Lässt man die an den Ausrichter des Spiels möglicherweise zu entrichtenden Gebühren außer acht, ist Poker also ein Nullsummenspiel – des einen Freud ist des anderen Leid.

Wirklich gut pokern zu lernen, dauert seine Zeit. Die vordergründige Einfachheit täuscht, die meisten Pokervarianten sind recht komplexe Spiele. Dass Poker eine starke Zufallskomponente hat, erschwert zudem das Lernen aus Erfahrung: Im Einzelfall führt die optimale Spielweise keineswegs zwangsläufig zum Erfolg, während man auch mit haarsträubenden Fehlern gelegentlich gewinnen kann. Wer versucht, aus einzelnen Situationen allgemeine Grundsätze abzuleiten, erhält widersprüchliche Informationen, erst die Gesamtbetrachtung einer großen Anzahl von Spielen und theoretische Überlegungen bringen Licht ins Dunkel. Eine hohe Frustrationstoleranz und ein gewisses Guthaben sind ebenfalls gefragt: Selbst Profis kann es gelegentlich passieren, dass sie in einem Monat verlieren, auch wenn sie im Jahresmittel gewinnen.

Das wohl bekannteste Pokerklischee überhaupt ist der Bluff, der wie viele Phänomene im Poker neben der psychologischen eine mathematische Komponente hat. Diese sei anhand des folgenden Beispiels erläutert. Es ist im Vergleich zu einem echten Pokerspiel stark vereinfacht, hat aber struk­turelle Parallelen.

Antje und Bertram vereinbaren eine Wette. Beide setzen jeweils einen Euro. Anschließend zieht Antje eine Karte aus einem normalen Kartenspiel mit 52 Blatt. Handelt es sich dabei um eine Zehn, einen Buben, eine Dame, einen König oder ein As, gewinnt sie. Bei allen anderen Karten gewinnt Bertram. Dann werden die Karten neu gemischt, und das Spiel beginnt von vorn. Eine kleine Berechnung ergibt, dass Antje bei dieser Wette auf Dauer verlieren wird: Sie gewinnt nur bei 20 der 52 vorhandenen Karten, Bertram bei 32. Würden die beiden dieses Spiel 52 Mal spielen, wäre Bertram am Ende im statistischen Mittel um 12 Euro (32 minus 20) reicher.

Nun vereinbaren sie eine Regelergänzung: Antje zieht ihre Karte verdeckt. Nachdem sie sie gesehen hat, darf sie den Einsatz um zwei Euro erhöhen. Geht Bertram mit, legt er also ebenfalls weitere zwei Euro in den Topf, wird die Karte aufgedeckt und der Gewinn ausbezahlt. Geht er nicht mit, gewinnt Antje. Kann sie von dieser neuen Regel profitieren?

Wenn sie eine Zehn oder eine höhere Karte zieht, sollte Antje den Einsatz in jedem Fall erhöhen. Verderben kann sie sich damit nichts, denn wenn Bertram passt, ist das Ergebnis das gleiche, als hätte sie ihre Karte gleich aufgedeckt und normal gewonnen. Erhöht Antje den Einsatz aber nur dann, wenn sie tatsächlich eine Zehn oder mehr auf der Hand hat, würde Bertram ihr schnell auf die Schliche kommen und jedes Mal passen. Das Spiel ginge dann genauso aus, als wäre die Zusatzregel nie vereinbart worden.

Würde Antje hingegen den Einsatz immer erhöhen, also in 32 von 52 Fällen bluffen, wäre dies für Bertram ebenfalls leicht zu durchschauen. Seine optimale Strategie wäre, immer mitzugehen, schließlich ist er ja der Favorit. Das wäre für Antje noch schlimmer als die ursprüngliche Variante, da praktisch das gleiche Spiel mit dem dreifachen Einsatz gespielt würde (ein Euro Grund­einsatz plus zwei Euro Erhöhung). Nach 52 Spielen hätte Antje im Mittel also 36 Euro verloren.

Aber mal angenommen, Antje entscheidet sich, immer und nur dann zu bluffen, wenn sie die Herz Neun zieht. Mitzugehen würde sich für Bertram nicht lohnen – Antje erhöht bei 21 Karten, davon 20 Mal legitim. Bertrams beste Strategie wäre, bei jeder Erhöhung zu passen, da er ja nicht wissen kann, was Antje auf der Hand hat, denn sie verbirgt jede Gemütsregung. Auf diese Weise gewinnt Antje von 52 Spielen jedoch 21 statt vorher 20 und reduziert so ihre Verlust­erwartung von 12 auf zehn Euro (31 minus 21). Ein guter Anfang.

Angenommen, sie entscheidet sich, den Einsatz immer dann zu erhöhen, wenn sie eine Neun oder eine höhere Karte zieht – bei 24 Karten also. Würde Bertram bei jeder Erhöhung passen, hätte dies die gleiche Wirkung, als hätten die beiden eine Regeländerung vereinbart, nach der Antje nun auch bei Neunen gewinnt. Sie hätte die Anzahl ihrer Gewinnkarten von 20 auf 24 erhöht. Bertrams Gewinnerwartung für 52 Spiele schmilzt auf karge vier Euro zusammen (28 minus 24). Ist also Mitgehen die bessere Strategie? Eindeutig nein. Geht Bertram bei jeder Erhöhung mit, erwischt er Antje in vier von 52 Fällen beim Bluffen und gewinnt zusätzliche zwei Euro, verliert jedoch jeweils zwei zusätzliche Euro in den 20 Fällen, in denen Antje eine Zehn oder eine höhere Karte hält. Passen ist die bessere Strategie.

Aber Antje will ihren Gewinn nun bei optimaler Spielweise Bertrams maximieren. Der Schlüssel hierzu ist, eine Strategie zu finden, bei der es für Bertram keine optimale Gegenstrategie gibt. Aber an welchem Punkt zwischen den zwei Extremen »immer bluffen« und »nie bluffen« liegt diese Strategie?

Um diese Frage zu beantworten, muss Antje die Struktur des Wetteinsatzes genauer unter die Lupe nehmen. Wenn sie den Einsatz erhöht, liegen im Topf vier Euro – zweimal ein Euro Grund­einsatz, plus ihre Erhöhung von zwei Euro. Bertram hat nun die Wahl, entweder zu passen oder mitzugehen – also zwei Euro zu zahlen für die Chance, vier Euro zu gewinnen. Dieses Verhältnis zwischen Einsatz und Größe des Topfs, dem potenziellen Gewinn, ist ein zentrales Konzept im Poker und wird pot odds genannt.

Wenn es für Bertram keine optimale Strategie geben soll, er also weder durch Eingehen noch durch Vermeidung des Risikos seinen Gewinn maximieren kann, muss Antje so spielen, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Bertram gewinnt, im umgekehrten Verhältnis zu den pot odds steht. Bertrams pot odds stehen bei zwei zu eins, also muss Antje ein Verhältnis von eins zu zwei zwischen Bluffs und echten Gewinnerkarten herstellen. Da sie das Spiel nach der vereinbarten Regel bei 20 von 52 Karten normal gewinnt, sollte sie bei zehn weiteren Karten bluffen – sagen wir, bei allen Neunen und Achten sowie bei den beiden roten Siebenen.

Jetzt hat sie Bertram am Wickel: Geht er immer mit, verliert er seine drei Euro Einsatz immer dann, wenn Antje eine Zehn oder mehr gezogen hat (20 von 52 Karten, 20 × -3 Euro = ‑60 Euro). Er gewinnt Antjes drei Euro, wenn er sie beim Bluffen erwischt (10 von 52 Karten, 10 × 3 Euro = 30 Eu­ro), und gewinnt in den verbleibenden 22 Fällen, wenn Antje weder blufft noch eine Zehn oder eine höhere Karte hat, Antjes Grundeinsatz von einem Euro. Bertrams Erwartung für 52 Spiele liegt also bei 22 Euro + 30 Euro - 60 Euro = -8 Euro.

Wenn Bertram hingegen passt, verliert er seinen Grundeinsatz jedes Mal, wenn Antje erhöht (30 von 52 Fälle), und gewinnt ihren Grundeinsatz, wenn sie nicht erhöht (22 Fälle). Seine Erwar­tung für 52 Spiele liegt wieder bei -8 Euro. Mit der korrekten Strategie kann Antje unser kleines Modellspiel zu ihrem Vorteil wenden und Bertrams Handlungsalternativen bedeutungslos machen.

Im echten Poker variieren pot odds und Gewinn­chancen erheblich, und klare Berechnungen sind selten möglich. Gute Pokerspieler haben jedoch die oben erläuterten Prinzipien – und einiges mehr – verinnerlicht und können sie an die realen Gegebenheiten sowie die Stärken und Schwächen der Gegner anpassen. Übrigens, wen die doch stark monetär orientierten Beispiele abschrecken – Poker muss man zwar mit Chips, aber nicht unbedingt um Geld spielen. Auch der Monatsabwasch in der WG eignet sich als Spiel­einsatz.