Gehen, nicht laufen

Man muss kein Dandy sein, um sich fürs Spazierengehen zu begeistern. Flanieren funktioniert als ­künstlerische Praxis und urbane Welterfahrung. Wie sich die Wahrnehmung der Umgebung zu schärfen beginnt, wenn man sich im richtigen Tempo durch die Stadt bewegt. Von Martina Mescher

Die Berliner bewegen sich fast so schnell wie New Yorker Passanten, das war jedenfalls das Ergebnis einer im Frühjahr veröffentlichten Studie über die Schrittgeschwindigkeit von Großstadtbewohnern. New York bleibt Spitzenreiter, klar, Big Apple und Beschleunigung, das passt, die Stadt schläft nie und Zeit ist Geld, aber warum sollte man in Berlin rennen statt laufen? Schließlich gibt es hier nicht ganz so viele Nine-to-five-Jobs, die zur Eile nötigen, und trotzdem traut man sich nur mit den Alibi-Accessoires Hund und Kinder­wagen oder sonntags durch die Stadt zu spazieren.

Wenn langsames und zielloses Schlendern von den sozio-ökonomischen Zwängen eines urbanen Lebens verdrängt wird, ist es, so scheint es, an der Zeit, dem Spaziergang ein Denkmal zu setzen oder ihm wenigstens eine Ausstellung zu widmen. Das Ausstellungsprojekt »Walk! Spazie­rengehen als Kunstform« im Berliner Künstlerhaus Bethanien, will den Spaziergang nicht nur als Entspannungsmöglichkeit, sondern auch als ästhetische Erfahrung wieder beleben, es geht also nicht nur um das »Gehen«, sondern auch um die Frage, wie Großstadtmenschen ihre Stadt wahrnehmen, wenn sie eigentlich gar keine Zeit haben, sie mal genauer zu betrach­ten.

Als ersten professionellen Spaziergänger kann man den Dandy bezeichnen. Die gelangweilten Sprösslinge französischer Adelsfamilien entdeckten die Pariser Boulevards als Spielwiese für ihre Selbstinszenierungen und loteten dabei die ästhetischen Dimensionen des Spaziergangs aus. Die Straße wurde zum Laufsteg, die Architektur zur Kulisse und die Passanten wurden zum dankbaren Publikum. Das Stilmittel ihrer Performance war für die Dandys Verlangsamung. Möglichst wenige Meter Straße wurden in möglichst viel Zeit zurückgelegt, besonders lässig und elegant war es für die ganz Extremen, mit Edelsteinen besetzte Schildkröten Gassi zu führen.

In der Moderne wurde der Dandy von der Figur des Flaneurs abgelöst. Die Transforma­tion der Großstadt durch Industrialisierung und Technisierung in einen urbanen Lebensraum führte zu einer Beschleunigung der Raum- und Zeitwahrnehmung. Vor allem in der Literatur wurde der Spaziergang als wahrnehmungs­ästhetisches Experiment gefeiert, das Flanieren wurde zum Selbsterfahrungstrip, die Stadt zum Rauschmittel, zum Beispiel in Walter Benjamins Studien zu Charles Baudelaire oder im literarischen Werk Franz Hessels. Der Flaneur taucht in das Treiben der Menschenmassen auf den Straßen ein, schwimmt im Verkehrsstrom mit und sammelt bei seinen Spaziergängen Selbstentgrenzungserfahrungen, ganz so, als sei er auf Drogen.

Wie jedoch funktioniert Spazierengehen in den gegenwärtigen Metropolen, und wo lässt sich der Spaziergang als Kunstform überhaupt noch praktizieren? Gibt es in den urbanen Groß­städten, außerhalb der Areale von Stadtpark und Fußgängerzone, überhaupt noch andere Räume, in denen man sich langsam und ziellos treiben lassen kann? Um das zu klären, bezieht sich »Walk!« bei der Betrachtung des Spaziergangs nicht nur auf dessen ästhetische Aspekte, sondern bringt auch ökonomische und stadt­planerische ins Spiel. Die Ausstellung besteht aus mehreren miteinander verbundenen Elementen. Es gibt einen Rechercheraum, »La Salle Verte«, mit Dokumentationsmaterial zu den Kunstprojekten, Beiträgen von Berliner Schülerinnen und Schülern, in denen Stadtarchitektur beispielsweise zu einem Parcours zum Skaten umfunktioniert wird, eine kleine Bibliothek mit einer klugen Literaturauswahl zur Kulturgeschichte des Spaziergangs und ein Archiv zu Lucius Burckhardts Spaziergangswissenschaft, die auf den hübschen Namen »Promenadologie« hört. Außerdem sind einige Exponate des Wettbewerbs »Mein liebster Spaziergang – mein schönster Spaziergang« zu sehen, eine Art Veranstaltungsprogramm mit Vorträgen und Sonn­tagsspaziergängen, bei denen man sich unter der professionellen Anleitung von Künstlerinnen und Künstlern in der Kunst des Spazierengehens üben kann.

Und es gibt natürlich die Ausstellung selbst.

»Walk!« konzentriert sich nicht nur auf die Möglichkeiten von Fortbewegung und Orientierung im System Großstadt, sondern sucht auch explizit nach den spezifischen Sinneseindrücken, die man bei den Streifzügen durch den urbanen Raum macht. Die Visualisierungen von optischen Eindrücken bewegen sich überwiegend auf der Ebene von Momentaufnahmen oder folgen einer kinematografischen Optik. Es gibt aber auch zahlreiche Tonaufzeich­nungen von Spaziergangserlebnissen. Die Arbeiten von Janet Cardiff und Georges Bures Miller etwa versuchen, den spezifischen Sound der jeweiligen Großstadt einzufangen, und man kann die Unterschiede zwischen London und Paris nicht nur an den Gesprächsfetzen in verschiedenen Sprachen hören, auch die Polizei­sirenen und die Schritte der Passanten auf den Straßen klingen anders.

Ein Beispiel für die haptische Orientierung im urbanen Raum dagegen ist die Skulptur des Alexanderplatzes von Larissa Fassler. Die Künst­lerin hat mit Händen und Füßen den begehbaren Innenraum des Bahnhofs vermessen und nach ihren subjektiven Eindrücken ein Modell des von außen unsichtbaren und beim Gehen un­überschaubaren Gewirrs aus Gleisen, Gängen und Treppen gebaut. Eine schöne Referenz an die dandyistischen Selbstinszenierungen ist die Videoperformance von Francis Alys, der einen Eisblock durch Mexico-Stadt transportiert. Dieses paradoxe Unternehmen ist ein Ereignis für die Passanten, mit dem Schmelzen des Eisblocks kommt der Zeitfaktor ins Spiel, kleine Wasserlachen bilden für kurze Zeit flüchtige Spuren im Stadtlabyrinth.

Der Spaziergang als historische Spurensuche und Möglichkeit zur Erhaltung von Gedenken und Gedächtnis wird in Romuald Karmakars Film »Land der Vernichtung« und Christoph Mayers »Parts of the Audioweg Gusen« thematisiert. Karmakar schreitet mit der Kamera den Zaun eines Konzentrationslagers ab, Mayer zeigt eine Eigenheimsiedlung, auf deren Gelände ein Konzentrationslager stand, das abgerissen wur­de. Während des virtuellen Spaziergangs hört man Interviews mit ehemaligen Häftlingen, Tätern und Anwohnern des Ortes. Diese Kunstform des Spazierengehens übernimmt stellvertretend die Aufgabe von Gedenkstätten und entgegnet subtil, aber wirksam den Argumenten des »Wir haben nichts gesehen, nichts gehört, nichts gewusst«.

Sucht man nach den Wahrnehmungsoptionen in einer Stadt, stellt sich immer auch die Frage nach dem Beobachten und dem Beobachtetwerden. Das Ausstellungsprojekt arbeitet mit drei Modellen von Beobachtung. Die fotografischen Dokumentationen einer Performance von Vito Acconi zeigen die Figur des Spaziergängers als Detektiv, der einen zufällig ausgewählten Passanten verfolgt und dessen Aufenthaltsorte in der Stadt qua Beweisfoto festhält. Die Fotoserie »Girls from behind« von Thomas Hauser bewegt sich im Kontext von Beobachten und Begehren und zeigt schöne Spaziergängerinnen, die den Spaziergänger nicht nur zur Langsamkeit, sondern gleich zum Stehenbleiben animie­ren. Und es gibt die Aufzeichnungen von Sicher­heitskameras in Bankfilialen, Polizeirevieren und zahlreichen als Gefahrenzonen definierten Orten der Großstadt, als Beispiel für die staatliche Praxis der Überwachung von Spaziergängern.

Das Ausstellungsprojekt zeigt das Thema »Walk!« in seinen schönen, schrecklichen, beunruhigenden und beglückenden Momenten. Höchste Zeit also, das Gehen nicht nur auf den Laufbändern der Fitnessstudios zu praktizieren, sondern auch mal wieder schön langsam ganz provokant draußen auf der Straße, schließ­lich gibt es kaum etwas Schöneres als Herbstspaziergänge.

Walk! Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Berlin. Bis 14. Oktober