Billig für’s Allgemeinwohl

Die Lokführergewerkschaft hat sich nicht über den Tisch ziehen lassen: Die Schlichtung im Bahn-Tarifstreit ist gescheitert. Kommentar von Paul Urban

Etwas Schreckliches scheint Deutschland bevorzustehen. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefenseee (SPD) meint, es gehe um nichts weniger als um die Belange »des Allgemeinwohls und der Volkswirtschaft«. Muss die Bundesregierung den Notstand ausrufen?

In der vorigen Woche scheiterten die Verhandlungen im Tarifstreit bei der Deutschen Bahn. Auch so geübte Weichspüler wie Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler, die als Schlichter berufen worden waren, konnten keinen Kompromiss erzielen. Die Gewerkschaften Transnet und GDBA erklärten ihre zuvor von den Schlichtern verlangte Zusammenarbeit mit der Lokführergewerkschaft GDL für beendet.

Tiefensee kommentierte: »Ich weise niemandem eine Schuld zu, aber dieser Tag bedeutet einen schweren Rückschlag für die Tarifverhandlungen und für die Gewerkschaftsbewegung.« Ein »schwerer Rückschlag« ist es für den Minister, wenn eine Gewerkschaft für die Interessen ihrer Mitglieder eintritt. Denn nichts anderes tut die GDL. Ihr Vorsitzender, Claus Weselsky, hat darauf hingewiesen, dass Lokführer bei einer 41-Stunden-Woche gerade mal 1 970 Euro Anfangsgehalt und nach sechs Jahren 2 142 Euro brutto erhalten. Das sei kein ausreichender Lohn für die Arbeit im Schichtdienst, sagte er. Die GDL verlangt u.a. ein Einstiegsgehalt von 2 500 Euro.

Der Vorsitzende der Transnet, Norbert Hansen, hingegen forderte die Führung der GDL auf, »den Weg der Vernunft einzuschlagen« und »auf sinnlose Streiks« zu verzichten. Aber wie sieht er aus, der »Weg der Vernunft«? Mit mickrigen 4,5 Prozent Lohnerhöhung für die übrigen Beschäftigten der Bahn hat sich die Transnet in der Tarifrunde begnügt.

Am Montag wurde eine Statistik des Bundesarbeitsministeriums bekannt, derzufolge die realen Nettolöhne in Deutschland so gering sind wie seit 20 Jahren nicht mehr. Darüber ist das Lamento allseits groß. Aber wenn sich eine Einzelgewerkschaft gegen diese Tendenz wehrt, notfalls mit einem Streik, dann stellt sich die Brudergewerkschaft gegen sie, und der zuständige sozialdemokratische Minister spricht von einer Gefährdung des »Allgemeinwohls«.