Frauenpower auf Abruf

Mit Sebahat Tuncel ist eine bekannte kurdische Frauenrechtlerin ins türkische Parlament gewählt worden. Ihre Zukunft als Abgeordnete ist allerdings ungewiss. von pinar ögünç, istanbul

Ein Auto nähert sich dem nicht existierenden Bürgersteig in der größten Straße einer schäbigen Gegend in Esenler, einem Viertel von Istanbul. Als eine junge Frau Anfang 30 aus dem Auto steigt, branden in der Menge, die das Auto sofort verdeckt, Applaus und Rufe auf. Wenn man die Sprüche der Frauen und ihre Zilgits (Geräusche mit der Zunge, sie gehören traditionell zu kurdischen Hochzeiten) hört, könnte man denken, dass die junge Frau eine berühmte Schauspielerin ist.

Dem ist aber nicht so. Sebahat Tuncel ist eines der jüngsten Mitglieder des neuen türkischen Parlaments. Bemerkenswert daran ist unter anderem, dass sie direkt aus dem Gefängnis in Gebze ins Parlament eingezogen ist. Sie war es, eine kurdische Frau, die die meisten Stimmen erhalten hat, die ein unabhängiger Kandidat auf sich vereinigen konnte. Tuncel ist im 3.Wahlbezirk in Istanbul angetreten, einem neuen Teil der Stadt, in dem vor allem Migranten aus Anatolien leben.

Für Parteien gilt eine Zehn-Prozent-Hürde, aber es konnten sich unabhängige Kandidaten ins Parlament schleichen. 20 der unabhängigen Kandidaten bilden nunmehr eine Fraktion der pro-kurdischen Partei der demokratischen Gesellschaft (DTP) im Parlament. Eine der acht Frauen in der DTP-Fraktion ist Tuncel, die im Gefängnis erfuhr, dass sie als Kandidatin aufgestellt wurde. Sie war im November verhaftet worden ist, weil sie beschuldigt wurde, Kontakte zur PKK zu unterhalten. Da sie im Gefängnis saß, übernahmen die Frauen in ihrem Wahlbezirk die meiste Wahlkampfarbeit für sie.

Tuncel kommt aus einer Bauernfamilie in Malatya, einer Stadt in Zentralanatolien. Schon mit 15 Jahren war sie eine eifrige »Revolutionärin«. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass sie vor allem Frauenpolitik machen wollte. Im Jahr 1998 kam sie nach Istanbul und arbeitete in der Frauenorganisation der später verbotenen Partei Hadep. Seit der Zeit ist sie eine der führenden Figuren der kurdischen Frauenbewegung. Sie werde im Parlament den Vorteil nutzen, dass sie »von der Straße« komme und die Leiden der Frauen kenne, betont sie. Sie war es, die viele Proteste vor dem Parlamentsgebäude organisierte, und nun sitzt sie selber als Parlamentarierin in diesem Gebäude.

Die Parlamentswahl im Juli hat die konservativ-islamische AKP mit 47 Prozent der Stimmen gewonnen. »Wir können das nicht einfach als ein Zeichen von immer stärker verbreitetem islamistischen Denken betrachten, sondern müssen die Gründe dafür analysieren, die diesen Anstieg hervorgerufen haben«, betont Tuncel. Daher sei es wichtig, gerade jetzt im Parlament zu sitzen. »Wir können den Menschen zeigen, dass es eine Alternative gibt. Genau wie wir auf der Straße gekämpft haben, werden wir jetzt im Parlament kämpfen.« Ihr zufolge sind Zwangsheiraten und so genannte Ehrenmorde aber nicht alleine ein kurdisches Problem oder einzig ein Problem des Glaubens.

Genau wie Tuncel kommen auch die anderen sieben DTP-Frauen aus der Frauenbewegung. Tuncel ist sich sicher, dass sie einen Weg finden werden, das Feudaldenken erfolgreich zu bekämpfen. Gemeinsam wollen sie vor allem bei den bevorstehenden Gesetzesänderungen für die Gleichstellung der Geschlechter kämpfen. Das ist der Grund, warum Tuncel davon ausgeht, dass gerade dieses Parlament eine historische Rolle innehat.

Die Freilassung von Tuncel beruhte allerdings alleine auf einem juristischen Trick. Denn sie kam nicht frei, weil sie als gewählte Abgeordnete parlamentarische Immunität genießt, sondern weil das Gericht entschied, dass »ihre Möglichkeit, aus dem Land zu fliehen, nicht mehr vorhanden sei«. Am 11. Oktober steht ihr nächster Prozess an. Und es könnte sein, dass sie ihr Parlamentsmandat wieder verliert. Zumindest wäre dies für die Regierung eine gute Gelegenheit, die DTP-Fraktion auseinanderzubrechen, denn für eine Fraktion sind mindestens 20 Parlamentarier nötig. Nachdem sie gewählt worden war, sagte Tuncel, »vor 16 Jahren war eine Leyla Zana im Parlament, jetzt sind es acht«. Werden es bald nur noch sieben sein?