Lebenslange Einzelhaft

Prekäre Zeiten – wie reagiert das Kino darauf? Zwei neue Filme, »Immer nie am Meer« und »Gegenüber«, zelebrieren einen Neo-Existenzialismus. Von Jürgen Kiontke

Den Leuten geht es nicht gut. Die Konjunktur hat zwar angezogen, aber in den Nettolöhnen spiegelt sich das nicht wider. Es bleibt we­nig Platz für Entwicklung, wenn man sich dauernd ökonomisch be­droht fühlt. Außerdem steht der Überwachungs­staat vor der Tür.

Das mag der Grund sein, warum lockere Beziehungskomödien im Kino derzeit nicht funktionieren. Selbst »Zwei Tage in Paris«, Julie Delpys flockige Sommerdialogparade, ist nicht Report einer glücklichen Liebe, sondern die Geschichte einer Trennung. Lustigkeit und Happy-end scheinen ihre glaubwürdige Basis verloren zu haben; Wünsche, freies Begehren, fröhliche Auswahl – nichts für diese Zeiten. Wir haben schließlich nicht 1967. In Sachen Beziehung ist Kontrolle und Härte angesagt, Zwang und Murks – das kommt der Realität näher.

Und die schöne neue Ursula-von-der-Leyen-Familienwelt? Kinderzoo im Prenzlauer Berg, Eigentumswohnung, Allradantrieb? Der neue Familiensinn scheint zumindest die Filmemacher Antonin Svoboda und Jan Bonny nicht zu interessieren. Svoboda zwingt in »Immer nie am Meer« drei Idioten in ein Auto und lässt sie nicht wieder raus. Bonny sperrt in seinem Debütfilm »Gegenüber« ein Ehepaar in sich selbst ein. Fluchtwege werden gezeigt – aber sind sie auch gangbar?

Auswege sind bloß dazu da, Hoffnung zu schüren, wo man besser keine hätte. Im Zentrum beider Filme steht Klaustrophobie, der Leinwand enges Kleid.

»Immer nie am Meer« kommt aus Österreich, Heimatland aller lebendig Begrabenen: Baisch (Dirk Stermann) fährt seinen Schwager Anzengruber (Christoph Grissemann) nach ­einer Familienfeier nach Hause. Unterwegs gabeln sie einen Anhalter, den Alleinunter­halter Schwanenmeister (Heinz Strunk), auf, der mit seinem Auto von der Straße abgekommen ist, weil er einer Spaziergängerin ausweichen musste. Sie fahren weiter durchs dunkle Gehölz, bis die Frau zum zweiten Mal auftaucht und die kleine Reisegruppe vom Weg abbringt. Das Auto rast in den Wald und kommt zwischen zwei Bäumen zu stehen. Die Türen sind versperrt, der Wagen ist ausbruch­sicher. Den hat Baisch gerade ersteigert und war auch ganz stolz drauf: Es handelt sich um den Dienst­wagen des Ex-Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Die Fenster aus Panzerglas sind dementsprechend stabil. Hat denn keiner ein Handy? Doch, aber keinen Empfang.

Am Anfang besteht noch die Hoffnung, gefunden zu werden. Da hört man eine Säge oder auch die Polizeisirene auf der fernen Straße. Man bleibt locker, als Proviant dienen eine Schüs­sel Heringssalat und ein paar Flaschen Prosecco. Alsbald muss Schwanenmeister aufs Klo. Nur gut, dass eine Flasche schon leer getrunken ist.

Bevor man sich über die Logik Gedanken ­ma­chen kann – sind sie wirklich für immer eingeschlossen? –, werden sie tatsächlich gefunden. Von einem zehn­jährigen Psychopathen, der ansonsten Stress­experimente mit Ratten veranstaltet. Der freut sich, dass er nun drei große Ratten gefunden hat.

Relativ schnell verliert sich in »Immer nie am Meer« die Gesamtspannung. Raus kommen die drei hier nicht mehr. Aber sie haben jetzt viel Zeit, einander kennenzulernen.

Alsbald hat man sich an die drei gewöhnt und fühlt sich selbst ein bisschen eingeschlossen. Hunger, Langeweile, Wut, Panik. Ohne viel Aufwand macht Svoboda die Situation und die Gefühle der Protagonisten physisch erlebbar. Hier sitzen wir mittendrin. So wurde auch die Kame­ra postiert: Das Personal wird jeweils so ge­filmt, dass wir uns mit im Wagen befinden. Die Komö­dienelemente werden seltener und bleiben schließlich ganz aus. Aus einem Film über eine absurde Situa­tion wird ein Film übers Sterben. Man bleibt irgendwo hängen und kommt nicht weg. Es ist unangenehm, es tut weh, man möchte gern aufstehen und weggehen, aber damit hat es sich jetzt.

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Gefangenschaft ist auch das Thema des Films »Gegenüber«. Gegenüber stehen sich darin der Streifenpolizist Georg (Matthias Brandt) und seine Frau, die Grundschullehrerin Anne (Victoria Trauttmansdorff) – zu einem Zeitpunkt, wo Berufliches nicht mehr gar so auf der Agenda steht und wohl alles andere auch nicht. Die Kinder schmeißen das Studium – und werden ihrerseits aus den Kinderzimmern geschmissen: Sie sind zu alt geworden, um liebgehabt zu werden. Ein Ziehkind verheißt neuen Lebens­inhalt.

Wir erleben ein Beziehungsdrama, wie es heute etwas aus der Mode gekommen ist: Al­kohol, Kette rauchen, aufgestaute Wut. Anne hat für sich eine Lösung der lebenszeitbedingten Frustration gefunden: Sie verprügelt Georg nach Strich und Faden. Der ist so genügsam geworden, dass er sich in der Spielothek abreagiert – dahin geht doch heute kaum noch einer. Aber mit dem Internet hat es Georg nicht, er muss raus aus der Bude. Ein zweiter Lieblingsort: die Autobahnbrücke. Dort kann er ungestört über Selbstmord nachdenken.

Dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst lebt er im Job aus: Scheinbar todesmutig rettet er den Kollegen Michael (Wotan Wilke Möhring) aus den Fängen eines Verbrechers, die Beförderung winkt. Umgehend lässt sich Anne mit Michael ein, der selbst auf den Leitungsposten erpicht ist.

Es wird nicht besser: Bald sind auch noch Georgs bisher nette Kollegen wütend auf Annes Mann, spätestens, als er seine Blutergüsse herumzeigt; und was er sonst noch an Blessuren mit Annes Handschrift hat. Sie fragen sich, was für eine perverse Sau der neue Chef ist.

Lustiger wird es denn auch in »Gegenüber« nicht mehr – offensichtlich geht es darum zu zeigen, wie man sich und anderen in kürzester Zeit ein Höchstmaß an Schmerzen zufügt.

Dort sehen wir ihn stehen und werden unverhohlen depressiv, unsere letzte Zuschauerhoffnung ist, die Schauspielerin Victoria Trautt­mansdorff möge uns im Alltag nie begegnen; wir verkriechen uns ja jetzt schon unter ebenjenem Kinositz, in dem wir uns bei »Immer nie am Meer« nur wanden: Die einen können nicht, die anderen wollen nicht gehen. Und: Wer eingeschlossen ist, wird ausgeschlossen.

Beide Filme speisen sich aus derselben absurden Sicht auf eine krank-phantastische Wirk­lichkeit: aus der Enge, dem kammerspielartigen Stillstand, der Geschlossen- und Niedergeschlagenheit – in ihrer geschwinden Ereignislosigkeit sorgen »Immer nie am Meer« wie »Gegen­über« für Remmi-Demmi. Zuschauen verursacht Schmerzen. Diese Filme haben wenig Geld gekostet, sind auf ihre Weise effektiv, alle Schauspieler perfekt.

Ein Manko haben beide noch, aber sonst wären sie auch zu gut: Irgendwann haben sie eine Schlusspointe, oder naja: einen Schluss. Für Filme vom Dauerzustand ist das eine eher störende dramaturgische Notwendigkeit. »Gegenüber« wurde schon mit Preisen überschüttet (Lobende Erwähnung in Cannes 2007, »Quinzaine des Réalisateurs«; »Bestes Drehbuch« – Förderpreis beim Filmfest München), bei »Immer nie am Meer« kommt’s hoffentlich noch.

»Immer nie am Meer« (Ö 2007). Regie: Antonin Svoboda. Start: 4.10.

»Gegenüber« (D 2007). Regie: Jan Bonny. Start: 11.10.