Alle haben Frust, keiner hat Sex

Frank Goosens Roman »So viel Zeit« kann als Plädoyer dafür gelesen werden, alternden Jungs in der Midlife Crisis Doppelkopf ärztlich zu verschreiben. von regina stötzel

Wer die Regeln des Doppel­kopf­spiels nicht beherrscht und sein Leben vergehen lässt, ohne von Zeit zu Zeit an ausgewählten Abenden mit Freun­dinnen und Freunden dieser äußerst vergnüglichen Beschäftigung nachzugehen, ist ein bedauernswerter Tropf. Er oder sie wird überdies die entscheidende Szene in Frank Goosens Roman »So viel Zeit« nicht einmal im Ansatz verstehen können.

Um den unwissenden Leserinnen und Lesern eine kleine Hilfestellung zu geben, sei Folgendes erklärt. Obwohl vom Prinzip her dem Skat recht ähnlich, hat Doppelkopf etwas von der Komplexität des Schachspiels. Doch im Gegensatz zum vermeintlichen Königsspiel, dem bereits mehr als genug literarische Werke gewidmet wurden, muss nicht jeder Spielzug aus den Gehirnwindungen herausgequetscht werden wie Öl aus Sonnenblumenkernen. Beim Doppelkopf geht es hoch her. Genialität, Esprit und Elo­quenz der Spielerinnen und Spieler sind gleichermaßen unabdingbar für eine gelungene Doppelkopfrunde. Ein beherzt angegangener Spielabend kann die Wirkung eines Trinkspiels unter Pubertierenden entfalten. Ebenso ist es möglich, dass sich tiefenpsychologische Effekte einstellen und die Anwesenden ihr Innerstes preisgeben.

Höchste Hochgefühle oder abgrundtiefe Verzweiflung korrespondieren nicht zwangsläufig mit dem notierten Punktestand und vermögen sich auch dann einzustellen, wenn ein konkretes Ergebnis bereits aus dem Kurzzeitgedächtnis gelöscht ist und sich wegen des Alkoholpegels der Mitspielenden nicht mehr rekonstru­ieren lässt. Doppelkopf ist wie das Leben selbst. Es gibt Phasen, in denen nichts gelingt, andere, in denen noch die gewagteste Ansage von Erfolg gekrönt wird. Doppelkopf ist das Spiel für die rosigen Zeiten des Lebens wie für jene der Krise.

Frank Goosens Roman kann man als Plädo­yer dafür lesen, das Spiel der Spiele Herren in der Midlife Crisis ärztlich verordnen zu lassen. Seiner Romanfigur Konni, Lehrer für Biologie und katholische Religion, wird beinahe täglich der Parkplatz vom Kollegen Barnstedt mit seinem Alfa Romeo weggeschnappt. Für seine Ex-Freun­din war Konni »ein 15 Jahre langes Telefongespräch«, täglich hat er das »Denkmal seines Schei­terns« (die Baustelle eines Anbaus für die nicht gezeugten Sprösslinge) vor Augen. Und dann hat die »arme Katholenwurst« auch noch seit Monaten beim Doppelkopf kein gutes Blatt mehr bekommen oder meint das zumindest. Sicher ist, sein Selbstbewusstsein liegt danieder.

In der entscheidenden Szene bekommt Konni ein Bombenblatt mit zwei Kreuzdamen, das einen »glanzvollen Sieg« verspricht. Er spielt eine Hochzeit, sagt nach dem ersten Stich »Re« an, ohne bereits seinen Partner gefunden zu haben. Alles scheint so sicher. Doch das Unmögliche geschieht. Rainer spielt dreimal Trumpf hintereinander an, die beiden Dullen und einen Karokönig, und zwingt Konni, der mit dem ersten fremden Fehl spielen wollte, zum Solo. Allein gegen drei hat Konni keine Chance. Die Niederlage ist vernichtend, und die Gefühle, die aus ihm herausbrechen, verlassen unweigerlich die Ebene des Spiels: »Eine Unverschämtheit ist das! So etwas tut man nicht! Jemanden, den man als Freund bezeichnet, so derartig … in eine derartige Situation zu bringen.« Die Schmach, die ihm Rainer im Spiel zufügt, erinnert Konni an eine Geschichte, die drei Jahrzehnte zurückliegt. Er war damals in Gisela Kaufmann verliebt, aber Rainer machte sich »an sie ran«. Doppelkopf und frühes Leid sind in seinem Kopf nicht mehr zu trennen. »Du wolltest mir nur zeigen, dass du sie haben kannst und ich nicht!«

Es fehlen bloß noch ein paar Gläser Grappa, dann ist sie da, die Erkenntnis: »Wir produzieren gar keine Erinnerungen mehr, leben nur noch von den alten. Woran sollen wir denken, wenn wir uns in zwanzig Jahren an diesen Fe­bruar erinnern? Dass wir uns gestritten haben über ein blödes Doko-Spiel?«

Ausgerechnet Konni, der einzige der vier Bochumer Freunde, der früher nicht »betrunken grölend während der langen Rockpalast-Nächte« davon geträumt hat, selbst eine Band zu gründen und auch noch nie ein Musikinstrument an­gefasst hat, schlägt vor, Ernst zu machen mit dem Running Gag »Wenn wir erstmal die Band haben … «. Die Voraussetzungen sind günstig. Denn: »Wo andere ein Gehirn hatten, war bei ihnen noch immer ein großer Schulhof, jedenfalls nachts um eins, jenseits von 1,0 Promille.«

Nicht erst an dieser Stelle des Buches wird deutlich, dass es um »Männer Mitte vierzig« in der Midlife Crisis geht, sondern spätestens im zweiten Satz des kleinen Vorspanns, der »Früher« spielt: »Fünfundzwanzig Jahre später würde einer der vier verlassen auf einer Baustelle sitzen und der vermeintlichen Liebe seines Lebens nachtrauern, der Zweite würde Vater von Zwillingen sein, aber keine Frau mehr haben, der Dritte in alten Unterhosen auf einem Bett in einem billigen Loch sechshundert Kilometer weiter östlich liegen, und der Vierte könnte nachts nicht mehr schlafen.« Was so viel heißt wie: Alle haben Frust, keiner hat Sex. Allein Thomas, drei Jahre jünger als die vier Bochumer Schulfreunde und später zu ihnen gestoßen, hat Sex, aber dafür andere Probleme. So oder so will er noch, bevor es Zeit ist, sich in »die Kiste« zu legen, »mit der eigenen Band in New York auftreten und es hinterher im Ho­telzimmer mit zwei Frauen gleichzeitig treiben«.

Liegt es an der Schlichtheit von Männerträumen, dass man meint, so etwas bereits zig Mal gelesen zu haben? »So viel Zeit« ist unterhaltsam und witzig, bloß jenseits der äußerst authentischen Doppelkopfszenen und der selteneren ernsten Passagen nicht wirklich originell. Man kennt die Männer, ihre Sprüche und fixen Ideen (»Wie oft soll ich dir noch sagen, zu viert ist man nur eine Band, keine Rockband. Zu viert ist man Beatles. Erst zu fünft wird man Deep Purple.«). Sogar der Mittdreißiger im Musikgeschäft, der ihnen die Instrumente verkauft und alle Begebenheiten des Lebens in die Ka­tegorien a), b) und bisweilen auch c) einordnet, wirkt wie ein alter Bekannter. Die Sorgen der alternden Jungs, die sich wundern, wo die Zeit geblieben und was aus ihnen geworden ist, ihr gefühltes Versagen, die kleinen Demütigungen des Alltags, all das ist mit leichter Hand, aber ohne sprachliche Auffälligkeiten oder formale Raffinesse aufgeschrieben.

Auch ist es nicht schwer zu erraten, dass bis zum bevorstehenden Abiturtreffen und an dem Abend selbst einiges geschehen wird. Die Band wird gegründet, Ole aus Berlin geholt. Eine alte ausgewaschene Jeansjacke von Levi’s mit Buttons von der Friedenstaube bis Judas Priest, ein Led-Zeppelin-T-Shirt, ein violettes T-Shirt mit Kordelleiste und eine schwarze Kluft (»In einem Hemd mit Palmen drauf konnte man unmöglich Paranoid spielen.«) werden recycelt. Gerüch­te kursieren im Bekanntenkreis der Fünf, sie wollten »sich die Haare wachsen« lassen und »Hottentottenmusik« machen. Die Vergangenheit wird aufgearbeitet und an einer besseren Zukunft gefeilt.

Irgendwann muss Bulle den Satz sagen, den man trotz aller Distanzierung nicht mehr hören kann: »Na ja, man könnte sagen, wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs.« Und im letzten Kapitel unter der Überschrift »Später«, so­­viel sei verraten, stellt sich Thomas als Erzähler und die Geschichte als Wiedereinstieg in seine literarische Karriere heraus, was ebenso wenig originell wie überzeugend ist.

Frank Goosens großes Verdienst ist es, das Motiv des Doppelkopfspielens belletristisch angemessen gewürdigt zu haben. Allerdings Doppelkopf mit Neunen.

Frank Goosen: So viel Zeit. Eichborn, Frankfurt am Main 2007, 347 S., 19,95 Euro