100 Tage Bicycle Race

In der kommenden Woche soll mit der Produktion der Strike-Bikes in der besetzten Fabrik in Nordhausen begonnen werden. Die Zukunft der Belegschaft ist un­sicher. von bernd beier (text und fotos)

Vermutlich ist es schon ein Fall für das Guinness-Buch der Rekorde. »Seit dem 10. Juli machen wir hier ununterbrochen eine Betriebsversammlung«, sagt die Betriebsratsvorsitzende Heidi Kirchner im Streikzelt auf dem Gelände der Fahrradfabrik Bike-Systems in Nordhausen. »Vielleicht ist es ja die längste, die es in Deutschland je gab. Recherchiert das doch mal!«

In dieser Woche ist es so weit: Seit mehr als 100 Tagen läuft ununterbrochen die Betriebsversammlung; so wird die Betriebsbesetzung, die ansonsten verboten wäre, bezeichnet. Es streiken noch rund 125 Arbeiter in Nordhausen, eine Handvoll ist in der Umschulung. Die rund 160 Leiharbeiter, die bis vor kurzem auch hier arbeiteten, spielen in dem Konflikt keine Rolle; sie verbindet nichts mit dem Betrieb.

Vor der Fabrik stehen drei Fahnenmasten. An einem hängt die Fahne der IG Metall, am zweiten die der FAU, der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union, der dritte ist nicht bestückt. An dem Zaun vor der Fabrik sind Trans­parente befestigt. »Bitte hupen!« werden vor­beifahrende Autofahrer aufgefordert.

Das Streikzelt besteht aus Paletten, die bis in eine Höhe von zweieinhalb Metern aufeinander gestapelt wurden, einige Plastikplanen darüber, Biertisch und Bierbänke, ein Kühlschrank, eine Kaffeemaschine, ein Zwei-Platten-Herd für die »Streikwürste«, zu denen die Bockwürste hier geadelt werden – fertig.

Seit dem Jahr 2000 gehört Bike-Systems zur Biria-Gruppe, ebenso wie ein Werk im sächsischen Neukirch mit rund 230 Mitarbeitern. Statt einer Million Fahrräder pro Jahr aus beiden Fabriken werden keine Stückzahlen über 650 000 erreicht. Ende 2005 übernimmt eine Tochtergesellschaft des texanischen Private-Equity-Investors Lone Star die Biria-Gruppe. Zum Jahresende 2006 wird zunächst die Schließung des Werks in Neukirch beschlossen, im Juni 2007 auch die des Werks in Nordhausen. Dieses fungierte zu diesem Zeitpunkt bereits als verlängerte Werkbank für die Mitteldeutsche Fahrradwerke AG (Mifa) im gut 30 Kilometer entfernten Sangerhausen, dem größten deutschen Fahrradhersteller und Hauptkonkurrenten der Biria-Gruppe. Lone Star hatte gegen ein Aktienpaket der Mifa Kundenaufträge und Ma­terialvorräte der Biria-Gruppe gegeben.

»Lone Star hat von Anfang an die Werke in Neukirch und Nordhausen nur abwickeln wollen«, sagt Jens Müller, Ersatzmitglied im Betriebsrat. Lone Star bestreitet das. »Erst wurde Neukirch geschlossen, aber es gab jedenfalls genügend Auf­träge für einen Standort, von Neckermann, Quelle und anderen, für rund 300 000 Stück pro Jahr, 220 000 könnten in Nordhausen jährlich hergestellt werden.«

Auf der Betriebsversammlung am 10. Juni kommt es zu Verhandlungen über einen Sozialplan, der Geschäftsführer habe ein Angebot vor­gelegt, »das jeder Beschreibung spottet«, sagt Müller. Nur 830 000 Euro seien zu verteilen ge­wesen, das habe nicht einmal gereicht, um die Kündigungsfristen abzudecken, die bei manchen sieben Monate, bei den meisten drei bis vier Monate betragen habe. Um zwölf Uhr sei das mitgeteilt worden, um 14 Uhr kam es zur Besetzung.

»Seither schlagen die Politiker hier auf, um sich zu informieren«, sagt er. »Die Linken kamen bereits vom ersten Tag an und haben uns unterstützt.« Welche Ziele werden mit der Besetzung verfolgt? Druck aufbauen, meint Müller, um die Arbeitsplätze zu retten und möglicherweise einen neuen Investor zu finden. Als Anfang August der Insolvenzantrag gestellt wurde, wirkte das wie eine kalte Dusche. »Wir sind in ein Loch gefallen«, meint Jens Müller. »Die Kollegen fragten sich: ›Wo stehen wir, hat es noch Sinn weiterzumachen?‹«

Aber es gibt ja noch den Nordhausen e. V., in dem die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter Mitglied sind. Es ist der Zweck des Vereins, das Strike-Bike herzustellen, am 22. oder 23. Oktober soll die Pro­duktion beginnen.

Jens Müller erzählt, wie die Idee des Strike-Bikes entwickelt wurde. Vor einigen Tagen war er in Hamburg bei einem Fest des Cafékollektivs Liber­tad. »War ganz schön krass«, sagt er und lacht. Das Cafékollektiv, das mit der anarchosyndikalistischen FAU verbandelt ist, war auf den Arbeitskonflikt in Nordhausen aufmerksam geworden und schickte den Streikenden einige Pakete Bio-Kaffee aus Chiapas. Zwei aus dem Café­­kollektiv kamen in Nordhausen vorbei und meinten: »Wenn ihr mal wieder Fahrräder baut, würden wir welche abnehmen.« Die Idee ging zu­nächst verschütt, wurde aber zwei Wochen später wieder aufgegriffen, das Cafékollektiv wurde kontaktiert und eine Verbindung zur alternativen Kreuzberger »Rad-Spannerei« hergestellt. Mit ihr wurde der Prototyp des Strike-Bikes entwickelt. Dieses gibt es in zwei Versionen geschlechts­spezifischer Bauart. Es ist ein robustes Dreigang­rad in schickem Rot, verziert mit der Aufschrift »Strike Bike« und dem Logo der struppigen schwar­zen Katze. Als besonderes Extra verfügt es über einen stabilen Gepäckträger, stabil genug, um nach einer wilden Party einen betrunkenen Anarchisten nach Hause zu kutschieren.

Bestellungen wurden aufgenommen, gegen Vorauskasse von 275 Euro, um die Teile für das Strike-Bike bei den Zulieferern bestellen und bezahlen zu können. 1 800 Strike-Bikes sind geordert worden, etwa 250 aus dem Ausland, vor allem Frankreich und Italien, auch aus den Niederlanden; weitere Bestellungen wurden nicht angenommen, weil es zu stressig wurde mit dem ständigen Telefongeklingel.

Für die Herstellung des Strike-Bikes ist eine 36-Stunden-Woche vorgesehen, einen Obolus von etwa zehn Euro pro Stunde soll es dafür geben. Aus der Vorauskasse werden die Kosten für Strom, Gas usw. bezahlt, ein gewisser Teil wird für die Produkthaftung zurückgelegt. Es ist mehr Zeit für die Herstellung vorgesehen als normalerweise. Es macht dann mehr Spaß, und die Qualität soll für das besondere Strike-Bike auch eine besondere sein.

Seit August haben die Arbeiterinnen und Arbeiter keinen Lohn mehr erhalten. Es gibt große finanzielle Emgpässe, sagt Jens Müller, teilweise hätten Banken bereits mit der Kündigung von Konten gedroht. Das Arbeitsamt zahlt einen Teil des früheren Lohns, aber es wird eng, etwa wenn Kredite bedient werden müssen.

Wie geht es weiter? Eine Option: Anfang November wird eine Auffangesellschaft gegründet und die Belegschaft in sie überführt, von Qualifizierungsmaßnahmen ist die Rede. Dann gibt es ab dem 1. November rückwirkend für drei Monate Konkursausfallgeld, ein gewisser Ausgleich für den bisherigen Einkommensverlust.

Eine zweite Möglichkeit: den Betrieb in Selbstverwaltung übernehmen. »Das Risiko ist groß«, meint Heidi Kirchner. »Eigenverwaltung mit 125 Leuten ist schwierig. Wir bräuchten wohl acht oder zehn Millionen Euro.« Eine dritte Möglichkeit: Ein Investor wird gefunden. Zwei sind im Gespräch. Es ist unklar, was daraus wird.

»Das Strike-Bike hat uns einen wichtigen Schub in den Medien verschafft«, sagt Heidi Kirchner. »Zum Teil waren ja täglich drei, vier Fernsehsender da. Das wird bestimmt wieder so, wenn wir das Strike-Bike herstellen. Dann können wir das nutzen, um weiter Druck zu machen. Auch politisch. Merkel und Co. unterstützen ja, dass alles platt gemacht wird.«

Jedenfalls gibt es neue Kontakte, auch international. Kürzlich fand eine »Strike-Bike-Party« in Rom statt, in einem sozialen Zentrum in der Via Prenestina, einer ehemaligen Stofffabrik. »Es gibt auch eine Einladung nach Gent in Belgien«, sagt Jens Müller.