Klassentreffen

Wer wir waren, was wir wurden – diese F ragen beantwortet man sich am besten bei einem Klassentreffen. Die passende Sendung dazu läuft derzeit auf Sat.1 und heißt »Verdammt lange her«. Von Elke Wittich

Während die anderen in der Wohnung ausschwärmen und damit beginnen, Schubladen aufzuziehen, den Inhalt zu überprüfen und zu begutachten, fährt der Mann mit dem Zeigefinger prüfend über den Türrahmen. Was sich anhört wie eine Razzia des Bundeskriminalamts oder wenigstens wie die ­Invasion eines Hygienekommandos, ist in Wirk­lichkeit ein Klassentreffen, allerdings unter verschärften Bedingungen.

Die neue Sat.1-Vorabendserie »Verdammt lan­ge her« begleitet jeweils fünf ehemalige Klas­sen­kameraden fünf Tage lang beim Wieder­sehen. Reihum werden die jeweiligen Protagonisten der Doku-Soap besucht, und weil es so furchtbar öde ist, Leuten, die man nicht kennt, beim Austauschen von Erinnerungen zuzuschauen, sorgt die Regie mit diversen Spielchen dafür, dass immer wieder Zweiergrüppchen entstehen, in denen ausgiebig getratscht und spekuliert wird. Zusammen versucht man dann herauszufinden, welche Geheimnisse der Besuchte den Gästen verschweigt und was sich hin­ter der Fassade wirklich verbirgt. Und bleibt erfolglos, denn es besteht kein Grund, vor Leuten, mit denen man selbst zu Schulzeiten nicht wirklich befreundet war, seine innersten Geheim­nisse offenzulegen. Gesucht wird nach ihnen trotzdem, was nicht besonders spannend ist.

Einzig in diesem Punkt entspricht »Verdammt lange her« dem wirklichen Leben, denn auch bei echten Treffen geht es darum, einerseits klar zu machen, wie erfolgreich und glücklich man selber ist – und gleichzeitig nach Indizien zu su­chen, ob der zur Schau gestellte Lebensstil der anderen wirklich den Tatsachen entspricht, wobei natürlich der örtliche Tratsch mehr hilft als das Aufziehen von Schubladen oder eine allgemeine Staubkontrolle.

Klassische Klassentreffen sind schließlich Leis­tungsshows, bei denen vor allem diejenigen, die zu den Jahrgangstrotteln zählten, nun mit tollen Jobs, teuren Autos und begehrenswerten Partnern angeben und sich für die vielen er­littenen kleinen Gemeinheiten rächen wollen. Wohl auch deswegen sind die ehemaligen Klassenidioten oft die Organisatoren solcher Meetings, die sie dann auch noch bevorzugt in besonders beeindruckende, sauteure Lokale ver­legen.

Dabei haben die Deppen von damals wohl ein­fach nur den Nachteil, zum falschen Zeitpunkt geboren worden zu sein. Denn ihre sture Beschäf­tigung mit seltsamen, meist vollkommen unverständlichen Themen und ihr konsequentes Ignorieren des realen Lebens galt nur so lange als lächerlich und doof, bis Computer und das Internet ihren Siegeszug antraten.

Heute würden die Langweiler von damals Nerds heißen und vollkommen selbstverständlich mit all ihren freakigen Eigenarten akzeptiert werden, denn zum einen sind sie dieje­­nigen, denen später lukrative Jobs in der IT-Bran­che winken, zum anderen können sie den Schul­­computer innerhalb weniger Minuten so umprogrammieren, dass die Klasse auf ewig von den früher so gefürchteten Briefen an die Erziehungsberechtigten verschont bleibt. Oder auch nur vom mindestens genau so grässlichen Wandertag.

Das wird insgesamt prima Stories für künftige Klassentreffen hergeben, und die werden dringend benötigt, denn zieht man von Schwär­mereien über die Schulzeit die nostalgische Verklärtheit ab, dann bleiben viele langweilige Tage, angefüllt mit Mathematik, Physik und anderem Krams, den man komplett vergessen hat, plus endloses Vorne-an-der-Tafel-Stehen-und-keine-Ahnung-haben. Dazu kommen schau­derhafte Pflichtveranstaltungen wie Bundes­jugendspiele, Klassenfahrten in unwirtliche Gegenden – aus irgendwelchen Gründen war man stets in der Klasse, die niemals nach Berlin, London, Paris fuhr, sondern Wochen in Land­schulheimen in der Eifel oder im Saarland verbrachte – und Klassenpartys, auf denen man gezwungen war, in Ermangelung cooler Jungs mit den extremen Langweilern von der Nachbarbank zu tanzen.

Die männlichen Schulstars waren schließlich grundsätzlich mindestens zwei Jahrgangsstufen über einem – oder gingen nach viel Sitzenbleiben in die Parallelklasse, mit der sie tolle Abenteuer in Berlin, Paris, London erlebten.

Sie auf einem Klassentreffen vorzufinden, ist grundsätzlich eine vergebliche Hoffnung, nicht deswegen, weil sie den Kontakt mit dem gewöhnlichen Volk nach wie vor scheuen, sondern weil sie meist durch besondere Umstände daran gehindert werden.

Die männlichen Schulstars zeichneten sich durch allgemeine Coolness aus. Sie wären niemals auf die Idee gekommen, beispielsweise T-Shirts in hellblau oder mit albernen Aufdrucken oder peinliche Billigjacken zu tragen, sie wären lieber tot umgefallen, als vorbereitet zu Tests zu erscheinen, und verbrachten ihre freie Zeit keinesfalls mit Lernen oder gar – obwohl es dringend notwendig gewesen wäre – mit Nachhilfestunden. Und sie flogen in aller Regel von der Schule, bevor sie ihren Abschluss machen konnten. Was sie nicht störte und ihren Ruhm eher noch vermehrte, schließlich hatten sie mit gezieltem Rebellentum ungefähr seit der siebten Klasse auf das hingearbeitet, was zur Kaiserzeit »consilium abeundi« hieß und noch vor wenigen Jahren, als sich Jugendliche nicht übermäßige Sorgen um spätere Jobs machen mussten, eine große Schande war, aber als Statussymbol galt.

Dass die Kombination Unverschämtheit und Lernresistenz im späteren Leben eher hinderlich sein würde, ahnte man damals noch nicht.

Jahre später werden die ehemaligen coolen Jungs zwar immer noch Thema sein, zum Beispiel bei Klassentreffen, aber die Gespräche drehen sich dann beispielsweise eher um die Frage, ob sie nicht eigentlich schon wieder längst aus dem Knast sein müssten – die coolen Jungs haben einen Hang zu besonders blödsinnigen Delikten wie dem jahrelangen Fahren ohne Führerschein. Dies plus ihre ganz besondere Begabung, im falschen Moment das Falsche zu sagen, sowie ihre Neigung zu Auffälligkeit als Lebensprinzip ergibt meist zwei Jahre, selbst­verständlich ohne Bewährung.

Das ist schade, denn ihre Geschichten sind immerhin lustig, was man von den Stories der meisten anderen nicht sagen kann. Zu denje­nigen, die man mag, hat man den Kontakt über all die Jahre sowieso aufrecht erhalten, und wenn einen interessieren würde, was der Rest so treibt, dann würde man sicher Mittel und Wege gefunden haben, sie ohne die Einladung des Klassenidioten zu treffen.

Der bedauerlicherweise auch der Klassenlehrer von einst gefolgt ist, den man schon damals vertrottelt fand und der nun dasitzt und beständig Namen, Klassen, Jahreszahlen verwechselt. Bloß den vom ehemaligen Streber Nummer 1 – heute nach erfolgreicher Einheirat in den Betrieb Besitzer des führenden Autohauses am Platz – kennt er noch, der allerdings hat den pensionierten Lehrer nach nur wenigen Minuten zielsicher als uninteressant, weil kein Neuwagenbenötiger, eingestuft und macht sich nun daran herauszufinden, welches seiner Modelle zu welchem ehemaligen Schulkame­raden passen könnte.

Bei der sich grundsätzlich in der hinteren rechten Ecke jedwedes Klassentreffen-Orts aufhaltenden Tuschelgruppe wird er aber keinen Erfolg haben, denn die hat längst die Parole aus­gegeben, dass man beim Streber keine Autos kaufen darf. Zum einen, weil er vermutlich seine Frau schlägt und ein stadtbekanntes Verhältnis mit seiner Sekretärin hat. Und zum anderen, weil er irgendwie Schuld an der letzten Verhaftung des Schulstars ist, der justament, als er nach einer Inspektion vom Hof des Autohauses fuhr, von einer ganz sicher nicht zufällig dort wartenden Polizeistreife angehalten und um »Führerschein und Fahrzeugschein, bitte« gebeten worden war.

Wofür man ihm eigentlich ein Klassenrollkomando auf den Hals wünscht – Sat.1 ist dafür allerdings die vollkommen falsche Adresse. Bei »Verdammt lang her« wird schließlich kein Staub aufgewirbelt, sondern bloß geguckt, ob welcher da ist.