Keine Katze für die Türkei

Viele Kurden befürchten, dass es der Türkei in dem aktuellen Konflikt nicht nur um die PKK geht, sondern auch um eine Destabilisierung der kurdischen autonomen Region. Die irakischen Kurden solidarisieren sich vorsichtig mit der PKK. von siamend hajo und eva savelsberg, arbil

Khabur, an der Grenze zwischen der Türkei und Irakisch-Kurdistan. Ein junger Mann liegt nur wenige Meter von uns entfernt auf dem Boden, er stöhnt und windet sich sich vor Schmerzen. »Gallensteine«, erklärt der türkische Soldat, der unsere Pässe kontrolliert und mit mäßigem Erfolg versucht, die deutschen Vornamen von Vater und Mutter der Einreisenden auf dem entsprechenden Formular einzutragen. Ein norwegischer Arzt, der zur selben Zeit abgefertigt wird, bietet an, den Kranken zu untersuchen, ihm Schmerzmittel zu geben. Keine Chance: »Ich darf Sie nicht zu dem Mann lassen. Er ist Iraker.«

Kurze Zeit später sind wir auf der irakischen Seite der Grenze. Außer uns ist kaum jemand hier. Dass sich die Einreise verzögert, liegt allein daran, dass die syrischen Kennzeichen unseres Autos gegen solche der kurdischen Stadt Dohuk ausgetauscht werden. So sind wir nicht auf den ersten Blick als Ortsfremde und potenzielle Entführungsopfer zu erkennen. Tatsächlich wurden in den kurdisch verwalteten Gebieten bislang keine Ausländer entführt. Dass wir die Aufmerksamkeit der Grenzer heute fast für uns alleine haben, liegt vermutlich eher daran, dass manch einer auf eine Einreise über die Türkei verzichtet, seit das Parlament der Armee die Möglichkeit eröffnet hat, bei Bedarf in das Nachbarland einzumarschieren. Die PKK hat einen Teil ihrer Kämpfer in die irakisch-kurdischen Berge zurückgezogen und greift von dort die Türkei an. Im türkisch-kurdischen Diyarbakir, dem Ausgangspunkt unserer Reise, wurden bereits Panzer zusammengezogen. Die Atmosphäre in der Türkei ist angespannt, in Istanbul wurden in den vergangenen Wochen immer wieder Personen angegriffen, weil sie in der Öffentlichkeit Kurdisch sprachen.

In der kurdischen autonomen Region hingegen scheint die türkische Gefahr nicht gar so ernst genommen zu werden. »Die meisten wissen vermutlich gar nichts von den Drohungen der Türkei«, so Dr. Kiki, ein in Arbil lebender Arzt. »An einer Demonstration gegen den Einmarsch haben hier nur etwa 600 Personen teilgenommen.« Andererseits ließen sich rund 3 000 Freiwillige registrieren, die bereit sind, gegen die türkische Armee zu kämpfen. Außerdem hat die kurdische Regionalregierung 30 000 Soldaten an strategisch wichtige Grenzpunkte entsandt. Gleichzeitig lehnt sie eine Kooperation mit der Türkei und gegen die PKK entschieden ab.

Diese Solidarität mit der PKK ist alles andere als selbstverständlich. Anfang der neunziger Jahre waren die PKK und die Peschmerga der KDP in heftige Kämpfe verwickelt, bei denen zahlreiche irakisch-kurdische Dörfer zerstört wurden. Erst Mitte der Neunziger gewann die KDP die militärische Oberhand, die PKK zog sich ins Kandil-Gebirge zurück und wird seither dort geduldet. Wenn der Präsident der kurdischen Regionalregierung, Masud Barzani, ebenso wie Jalal Talabani, der irakische Präsident und Vorsitzender der PUK, eine Kooperation gegen die PKK ablehnen, dann deshalb, weil es in dem Konflikt nicht allein um die PKK geht. Obwohl die türkische Armee seit dem Golf-Krieg 1991 regelmäßig in den Nordirak einmarschiert ist, konnte sie deren Kämpfern nur wenig anhaben. Ziel eines türkischen Einmarsches ist weniger die PKK als vielmehr die Destabilisierung der autonomen kurdischen Region. Der worst case wäre in den Augen der Militärs die Eigenstaatlichkeit der kurdischen autonomen Region – und deren Auswirkungen auf die eigene kurdische Bevölkerung.

Die jüngste Eskalation der Gewalt im irakisch-türkischen Grenzgebiet ist somit sicher kein Zufall. Wer genau für sie verantwortlich ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ein ehemaliger PKKler, der heute in Arbil lebt, behauptet etwa: »Bis heute folgt die PKK den Direktiven Abdullah Öcalans. Dieser steht unter der Kontrolle der Generäle, und die würden es kaum zulassen, dass er aus dem Gefängnis heraus gegen ihre Interessen handelt. Wenn die PKK heute verstärkt Angriffe gegen die Türkei führt, dann auf Anweisung Öcalans – das heißt auf Anweisung der Armeeführung.« Andere vermuten, dass die Armee zumindest für einen Teil der Angriffe selbst verantwortlich ist: »Bei dem letzten Angriff, der angeblich von der PKK verübt wurde, sind nur Kurden gestorben, er war gegen eine Eliteeinheit der türkischen Armee gerichtet, in der nur Kurden waren. Ein anderer Vorfall fand auf irakischem Boden statt. Die türkische Armee tötet ihre eigenen Leute und sagt, es war die PKK«, so ein Führungsmitglied einer explizit PKK-kritischen kurdischen Partei aus der Türkei.

Den Stellungnahmen der PKK – und auch den Aussagen Masud Barzanis – lässt sich folgende Sichtweise entnehmen: Die PKK habe ihre Politik geändert, es sei die türkische Armee, die die PKK angreife, nicht umgekehrt.

Bereits heute bombardiert die türkische Armee regelmäßig Dörfer in der irakisch-kurdischen Grenzregion – ob es zu einem Einmarsch größeren Ausmaßes kommt, hängt nicht zuletzt von den diplomatischen Erfolgen der USA ab. Diese haben keinerlei Interesse daran, dass auch im kurdischen Norden, der einzigen stabilen Region des Landes, die Gewalt eskaliert. Dort ist möglich, was in anderen Landesteilen einem Selbstmord gleichkäme: Amerikanische Soldaten gehen unbewaffnet durch die Stadt, essen in denselben Restaurants wie die lokale Bevölkerung. Bei manchen geht die Identifikation mit der Region so weit, dass sie auf ihrer Ausgehuniform neben der amerikanischen auch die kurdische Fahne tragen. Solche Sentimentalitäten spielen freilich keine Rolle, wenn es um politische Entscheidungen geht: Die Türkei ist einer der wichtigsten Partner der USA in der islamischen Welt, nicht zuletzt wird über den amerikanischen Stützpunkt Incirlik ein Großteil des Nachschubs in den Irak transportiert.

Es stellt sich die Frage, ob der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan dem Druck der Militärs einmal mehr standhalten kann. Er selbst oder die AKP hat vermutlich kein eigenes Interesse an einer Eskalation des Konflikts; das wurde deutlich, als Erdogan die türkische Presse zu mehr Zurückhaltung in ihrer Berichterstattung aufforderte. Unter der Regierung der AKP konnten in der kurdischen Frage größere Erfolge erzielt werden als in den Jahren zuvor – im Verlauf der Beitrittsverhandlungen zur EU, die die AKP intensiv betrieben hat. So wurden beispielsweise der seit 1984 über elf überwiegend kurdisch besiedelte Provinzen verhängte Ausnahmezustand und damit weitreichende Sonderbefugnisse des Militärs sukzessive aufgehoben. Dass von Seiten der AKP – im Gegensatz zur kemalistischen CHP und zur ultrarechten MHP – keine ideologischen Berührungsängste gegenüber den Kurden bestehen, hat diesen Prozess erheblich erleichtert. Ihr vorläufiges Ende fand diese Entwicklung allerdings im Juni 2004, als die PKK ihren 1999 ausgerufenen Waffenstillstand aufkündigte. Schon damals diente die Rückkehr zum bewaffneten Kampf ausschließlich den Interessen derer, die eine Lösung der kurdischen Frage in der Türkei verhindern wollten.

Nur wenn es den USA gelingt, Erdogan gegenüber der Armeeführung zu stärken, wird er wohl auf das militärische Abenteuer im Nordirak verzichten können. Helfen könnte aber auch der bevorstehende Wintereinbruch – Militäroffensiven, gar in den Bergen, sind im Frühjahr leichter durchzuführen. Bis dahin aber, so Jalal Talabani, werden die irakischen Kurden den Türken »nicht einmal eine Katze ausliefern«.