Metallurgie des 21. Jahrhunderts

Anfang November findet in Leipzig der Gewerkschaftstag der IG Metall statt. Es gibt Grund zu feiern: Der Mitgliederschwund lässt nach, und die IG Metall wird weiterhin gebraucht. Auch vom Kapital. Von Felix Klopotek

Chinas Kommunisten haben vor ihrem Parteitag eine Probeabstimmung abgehalten. Das war der deutschen Presse die eine oder andere hämische Bemerkung wert. Dabei weiß eigentlich jeder, dass es um die Demokratie in deutschen Par­teien und Verbänden auch nicht viel besser steht. Die Kritik, die sich die chinesischen Apparatschiks eingefangen haben, zielt wohl auch in eine andere Richtung: Muss es denn so etwas Plumpes wie eine Probeabstimmung sein? Die IG Metall benötigt so etwas nicht.

Vom 4. bis zum 10. November findet in Leipzig der Gewerkschaftstag der IG Metall statt. Die Ge­werk­schafter wählen dort einen neuen Vorstand. Damit nichts Unvorhergesehenes passiert, hat sich die Führungsriege bereits Anfang September auf ein Szenario verständigt. Der Vorsitzende Jürgen Peters tritt zurück, sein Nachfolger wird Berthold Huber, bislang Peters Stellvertreter. Hubers Stellvertreter wiederum wird Detlef Wetzel, seit Sommer 2004 Vorsitzender der IG Metall in Nordrhein-Westfalen und erfolgreich darin, den Mitgliederschwund seines Verbandes zu bremsen. Jürgen Peters gilt als links, Huber als Pragmatiker, Wetzel auch.

Eigentlich hätte Huber im Jahr 2003 Klaus Zwi­ckels Nachfolger werden sollen, er wurde aber von Peters am Ende doch noch ausgebootet, wes­halb er erst jetzt zum Zuge kommt; dafür darf er aber schon mal Wetzel als seinen wahrscheinlichen Nachfolger bestellen. Aus der Peters-Fraktion rücken in den geschäftsführenden Vorstand Jürgen Urban, bislang Leiter des Bereichs strategische Planung, und Helga Schweitzer, Gewerkschaftssekretärin in der Bezirksleitung Hannover, nach.

Überraschungen sind ausgeschlossen, die IG Metall ist so demokratisch wie die sizilianische Mafia. Blutig geht es in ihr zwar nicht zu, aber ihre leitenden Funktionäre sind penibel darauf bedacht, dass sich nur ja keine Abweichler regen. Mit der Entschlossenheit, der Öffentlichkeit mög­lichst keinen Einblick in das Innenleben der Organisation zu gewähren, reagiert man auf den permanenten Druck des Kapitals. Ihm kann man nur geschlossen widerstehen.

Die gewerkschaftliche Macht ist nämlich vor allem Organisationsmacht. Je mehr Leute die Gewerkschaft organisiert, je mehr sie über Betriebs­räte die Belegschaften kontrolliert, je besser ihre Kontakte zur großen Politik sind, desto wichtiger ist sie für das Kapital. Die Strategie einer Gewerkschaft ist es nicht, zu streiken, sondern die Drohkulisse aufzubauen, die die andere Seite von der Idee abbringt, durch tarifpolitische Hartnäckigkeit einen Streik zu provozieren.

Wird die Organisationsmacht durch einen ­in­ter­nen Zwist bedroht, reagiert man wenig zim­per­lich. Bei der Hetze gegen linksradikale Be­stre­bun­gen in den siebziger Jahren waren die Ge­werk­schaf­ten ganz weit vorne dabei. Die Organisationsmacht ist in den vergangenen Jahren aber nicht durch Linksradikale und auch nicht durch »gelbe Gewerkschaften« in Frage gestellt worden, sondern durch das Kapital selbst.

Ein Indiz dafür ist die Mitgliederentwicklung: Verdi hat seit der Gründung ein Fünftel der Mitglieder verloren; die IG Metall feiert einen abgebremsten Mitgliederschwund bereits als Erfolg. Im Jahr 2005 verzeichnete sie einen Schwund von knapp 50 000 Mitgliedern, nur noch halb so viel wie 2004. Allerdings hat die IG Metall seit Mitte der neunziger Jahre eine Million Mitglieder verloren; sie hat derzeit weniger als 2,4 Millionen. Der Rückgang hat mit einer veränderten Betriebsstruktur zu tun: Die Stamm­belegschaften, in denen die IG Metall am besten verankert ist, schrumpfen.

In ihrer Tarifpolitik zielt die IG Metall darauf, wie jede andere Gewerkschaft auch, dass die Beschäf­tigten von ihren Löhnen auch tauglich leben kön­nen (Löhne müssen mit der Produktivität steigen usw.). Das funktioniert zwar nicht, wie die derzei­tige Entwicklung demonstriert. Allerdings konn­te sich die Gewerkschaft in ihrem Bemühen, Lohn­sicherungspolitik zu betreiben, jahrzehntelang darauf stützen, dass die Stammbeleg­schaften eine verhältnismäßig stabile und gut zu mobilisieren­de Größe im Betrieb sind. Die Stammbelegschaften aber weden gespalten: durch Leiharbeiter, durch Outsourcing und durch die Einführung innerbetrieblicher Marktstrukturen (eine Abteilung »verkauft« ihre Teilprodukte an die andere und muss dabei »wirtschaftlich« kalkulieren).

Die politisch-technologische Entwicklung des Kapitals ist der Gegenwehr der Gewerkschaften nicht mehr nur einen Schritt voraus, sondern gleich zwei. Früher reagierten die Tarifverträge auf die jeweils aktuelle Intensivierung der Arbeit; waren sie einmal geschlossen, ging das Kapital daran, sie zu untergraben – durch neue Produktivitätssteigerungen.

War ihre Verbindlichkeit binnen kurzer Zeit Ma­kulatur, so ist sie heute schon im Vorhinein in Frage gestellt: Tarifverträge geben in erster Linie an, welche »Ausnahmen« die Unternehmer geltend machen können. Kein Wunder, dass die Leute die Gewerkschaften verlassen, wenn sie in dermaßen zersplitterten Erwerbsverhältnissen stecken, dass kein Tarifvertrag mehr sie zu schützen vorgeben kann.

Die Bilanz von Jürgen Peters sieht schlecht aus. Er hat nach einem (von ihm selbst) verloren gegebenen Streik das Amt übernommen, dem in Ostdeutschland um die Einführung der 35-Stunden-Woche im Jahr 2003. Von Beginn an stand er als schwacher Vorsitzender da. Gerhard Schröder konnte ohne größere Probleme die Agenda 2010 auf’s Programm setzen. Zahlreiche Arbeitskämpfe verliefen nicht günstig oder richteten sich gar gegen die IG Metall – wie der wilde Streik bei Opel in Bochum im Oktober 2004.

Warum wird der Gewerkschaftstag in Leipzig dennoch – und mit gutem Grund – als Triumph begangen? Derzeit sieht es nicht schlecht aus: Die Mitgliederzahlen sinken langsamer, es hat dieses Jahr gute Tarifabschlüsse gegeben, die Kontakte zur SPD sind erneuert. Kurt Beck hat seine Revision der Agenda 2010 direkt vom DGB übernommen. Und während die Führungsriege wieder treu zur SPD hält, ist weiter unten den Funktionären das Liebäugeln mit der Partei »Die Linke« erlaubt. Wenn Beck freiwillig-unfreiwillig eine Koalition mit der Linkspartei vorbereitet, finden seine möglichen Nachfolger, wie vielleicht Klaus Wowereit, in der IG Metall eine Partnerin, die den Spagat aus neuer und alter Sozialdemokratie bereits praktiziert.

Entscheidend für die gute Laune ist aber der »neue Korporatismus«, wie Georg Fülberth es nennt: die Renaissance der Gewerkschaften als starken Partnern in innerbetrieblichen Bündnissen. Die große Industrie kann kein Interesse an der Zersplitterung der Gewerkschaften haben. Denn mit der Prekarisierung der Arbeit holt sich das Kapital auch Unsicherheit in die Betriebe: Wer garantiert, dass schlecht bezahlte Unorganisierte sich nicht zusammentun und Arbeitskämpfe organisieren? Dass qualifizierte Fachkräfte nicht gegen die Entwertung ihrer Tätigkeit auf die Barrikaden gehen und etwa Siemens zusetzen, wie es die Lokführer mit der Bahn AG machen? Die Organisationsmacht der Gewerkschaften ist weiterhin gefragt: Die unübersichtliche Situation in den Betrieben und auf dem Arbeitsmarkt verlangt nach einer Kontrollinstanz. Am besten eine, die sich die Arbeiter selbst auferlegen.