Transnistrien: die reale Fiktion

»Hier spricht Radio PMR!«: Ein Fotoband möchte das wirkliche Leben in der international nicht anerkannten Pridnestrowischen Moldawischen Republik vermitteln. Was ist real in einem Land, das nicht existiert? Von Jutta Sommerbauer

Es scheint, als würde Gott uns schützen, während wir unseren Staat schaffen«, schreibt Igor Smirnow, Präsident der international nicht anerkannten Pridnestrowischen Mol­dawischen Republik, in seiner Autobiografie. Der gottesfürchtige Ton macht stutzig. Hat der frühere Direktor der Elektronikfabrik »Elektromash« denn gar Vertrauen in den Herrn gefasst, oder ist der Allmächtige hier nur ein bequemer Platzhalter für die Sol­daten der russischen Armee, die auf seinem Territorium seit Jahren Wache schieben?

Eines steht fest: Bis dato konnte Smirnow sein Lebenswerk noch nicht vollenden. Denn das Land mit dem unaussprechlich langen ­Namen – nennen wir es PMR oder, weniger korrekt, Transnistrien – hat auch nach 17 langen Jahren des Staatsaufbaus eines noch nicht ­geschafft: in die internationalen Institutionen aufgenommen zu werden. In der Uno hat es keinen Sitz. Im Europa-Rat auch nicht. Und selbst im Fischer Weltalmanach fehlt es. Kein Eintrag zwischen Tonga und Trinidad. Er fehlt auch zwischen Portugal und Ruanda. Offiziell existiert dieser Staat gar nicht.

Transnistrien ist ein schmaler Landstreifen am rechten Ufer des Flusses Dnjestr. Das Gebiet hat heute über eine halbe Million Einwohner, fast zwei Drittel davon sind Russen und Ukrainer. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Gebiet mit Bessarabien, das vorher zu Rumänien gehört hatte, zur neu gegründeten Mol­dawischen Sowjetrepublik vereinigt. Während der Sowjet­zeit baute man die Region zur Industriehochburg Moldawiens aus. Sprachlich und kulturell war man jenseits des Dnjestr stets stark an Russland orientiert. Zu Beginn der Neunziger, als Moldawien seine Eigenstaatlichkeit erlangte, verfolgte das Land zunächst eine pro-rumänische Politik: Nationa­listische Parteien forderten den Anschluss an Rumänien. Die mehrheitlich slawische Be­völkerung Transnistriens fürchtete eine ge­waltsame »Rumänisierung« und Einschränkung ihrer Rechte. Am 2. September 1990 ­wurde die Gründung einer pridnestrowischen Sowjetrepublik beschlossen. Im Juni 1992 kam es zum kurzzeitigen Bürgerkrieg zwischen moldawischen Truppen und transnistrischen Separatisten. Seit dem Waffenstillstand dient die in Transnistrien stationierte 14. Russische Armee als zweifelhafte Friedenstruppe.

Über die Jahre hat sich Pridnestrowien all jene Kleinigkeiten zugelegt, die für einen Staat im Allgemeinen unabdingbar sind. Die Repu­blik hat eine eigene Notenbank, die die lokale Währung – den pridnestrowischen Rubel – ausgibt; sie stellt Pässe aus (die im Ausland leider wertlos sind); sie hat eine Hymne, die das Land preist (»wo die Freundschaft der Nationen stark ist«); eine rot-grün-rot gestreifte Fahne und sogar eigene Autokennzeichen. Von der staatlichen Büro­kratie ganz zu schweigen. Der weißhaarige, gestrenge Präsident Smirnow, bereits zum vierten Mal im Amt, regiert das Land mit eiserner Hand. Eine nennenswerte politische Opposition zu sei­ner Respu­blika-Partei existiert nicht. »Es gibt niemanden mehr, der promoldawisch, proliberal und proeuropäisch ist. Diese Leute sind entweder gegangen oder gegangen worden«, sagt Claus Neukirch, Sprecher der OSZE-Mission in Mol­dawien.

Doch wie lebt es sich in Pridnestrowien? ­Worüber sprechen die Frauen auf der Straße? Wie verbringen die Jugendlichen ihre Tage? ­Diese Fragen haben sich die Wiener Fotografen Kramar und Marcell Nimführ gestellt. Sie sind nach Tiraspol, Bendery, Dubossary und Ribnitsa gefahren, und haben die Leute und das Land fotografiert. Nicht nur einmal, sondern viele Male. Fast 15 000 Fotografien haben die beiden Autoren dabei angefertigt. 150 davon finden sich in dem vierfarbigen Bildband »Hier spricht PMR. Nachrichten aus Transnistrien«.

Wenn westliche Journalisten nach Transnis­trien kommen (das passiert selten genug), dann bleiben ihre Augen meist an der alten sowjetischen Staffage hängen. An den groß­flächigen Porträts der örtlichen »Helden der Arbeit«, an den Leninfiguren, Kwas-Ständen und Panzern, vor denen sich frisch Vermählte zum obligatorischen Hochzeitsfoto aufstellen. Oder sie widmen sich den Geschichten über Schmuggler und Menschenhandel. Transnis­trien gilt vielen als »schwarzes Loch«, als Paria-Staat am Rande Europas. Eine Fotografie des Bildbandes zeigt die Präsidentenberaterin Anna Sacharowna Wolkowa. Eine rundliche Frau mit einer großen Brille, die hinter einem aufgeräumten Schreibtisch sitzt. »Es ist schwer, ein negatives Bild zu verändern«, sagt sie. Man glaubt es ihr sofort.

Kramar und Nimführ bezeichnen den Bildband als »Propagandabuch«. »Gegen die Me­dien­propaganda«, wie sie betonen. Die Autoren wollen zeigen, wie das Leben in Transnistrien aussieht. Wie man die transnistrische Wirklichkeit nun beurteilen solle – als wahr, ideologisch oder gar falsch –, sei eine andere Frage; eine Frage, die die Autoren nicht beantworten wollen. Die Wirklichkeit könne nur subjektiv wahr sein, sagt Nimführ. »Wir wollen die Leute so abbilden, wie sie sich sehen.« Man vertei­dige kein Regime, aber: »Wenn die Pridnestrowier ihren Staat so sehr wollen, dann sollen sie ihn haben.«

Eine persönliche Geschichte zieht sich durch das Buch: die von Andrey Smolensky, einem Pridnestrowier und Freund der Autoren. Die Fotografien gewähren einerseits Einblick in privates Leben: ein Picknick unter Freunden. Ein Junge, der zu Hause Gitarre spielt. Ein Wodkagelage.

Die meisten Fotografien aber stellen öffent­liches Leben dar: Stahlarbeiter an den Maschinen, Frauen in der Schuhfabrik, die neuen Stiefelmodelle in der Hand haltend. Dazwischen Aufmärsche, Massenfeste, staatliche Gedenk­tage. Viele dieser Bilder erinnern an die alten Alben aus der Sowjetzeit, die unfreiwillig komisch waren: Porträts von »öffentlichen Menschen«, die bemüht offiziös dreinschauen; Men­schen, die nicht in erster Linie Individuen sind, sondern in ihrer Eigenschaft als Direktoren, Ma­ler, Veteranen und Arbeiter vorgestellt werden. Diese offizielle Inszenierung wirkt immer auch schief, ideologisch, das Pompöse irgendwie fehl am Platz. Ist es das, was die »transnistrische Realität« ausmacht? Der sozialistische Themenpark – jetzt in positiver Umkehrung? Und wie weit kann man überhaupt in die transnistrische Realität vordringen? Denn jede Inszenierung gerät an ihre Grenzen. Vielleicht ist das Problem einfach, dass die Menschen in diesem Teil der Welt das eine tun, aber etwas ande­res denken. Und umgekehrt. Dass die Realität immer eine Fiktion ist und niemand ein Problem damit hat.

Denn selbst die harten Verteidiger der Sache sind nicht ganz so konsequent, wie es auf den ersten Blick scheint. Ein Beispiel: In Tiraspol hat die regimetreue Jugendbewegung »Proriv« (Durch­bruch) ihr Hauptquartier. Der Soziologie­student Iwan, der sich in seiner Freizeit dort en­gagiert, bezeichnet sich natürlich als »Patriot«. Wäre Pridnestrowien endlich anerkannt, dann würde das Leben hier einfacher, erzählt er. »Mol­dawien will uns unterdrücken und die Wirtschaft behindern.« Eine Konföderation mit dem verhassten Nachbarn lehnt er ab. Che Guevara, dessen Bild an der Wand des Proriv-Büros hängt, ist Iwans Vorbild. »Che hat für die Freiheit der Völker gekämpft.« Trotz seines Lokalpatriotismus würde der Student gerne einmal in die Ferne reisen. Nach Frankreich oder Tibet etwa, denn bisher war er nur im ukrainischen Odessa. Für größere Ausflüge hat schlicht und einfach das Geld nicht gereicht.

Der Künstler Artjom Nikolajewitsch Masur – ein Porträtfoto von und ein Interview mit ihm wurden in den Band aufgenommen – ist da viel­leicht eine Ausnahme. »Ich würde mich auch nicht unbedingt als Pridnestrowier bezeichnen«, wird er zitiert. Politik interessiere ihn nicht. »Es ist nicht einfach, in Pridnestrowien anders zu sein. Aber ich bin nun mal ich, ich bin ganz einfach Artjom. Dennoch liebe ich meine Stadt. Hier bin ich zu Hause. Zuerst will ich Tiraspol er­obern und dann die ganze Welt.«

Man sitzt in einem kleinen Land und ist an­ders­wo nicht recht willkommen. Wenn die Trans­nistrier ihr Land verlassen wollen, dann benötigen sie fremde Pässe, die von den Nachbarländern ausgestellt werden müssen: von Russland, der Ukraine oder sogar von Moldawien. Während sich die Moldawier in alle Welt zerstreuen, kehren die Transnistrier meistens wieder nach Hause zurück. Stefan Troebst, dessen Essay am Ende des Bildbandes ein bisschen Klarheit in die verwirrende Thematik bringen soll, spricht von einem »regionsbezogenen Iden­­ti­fi­ka­tions­prozess«: Identitätsbildung von unten.

Um noch einmal auf die Erfahrung von fiktiver Realität zurückzukommen: Vielleicht ist die PMR in dem Moment am wirklichsten, in dem man an ihre Grenze gelangt. Eine Stunde dauert die Fahrt mit dem Bus von der moldawischen Hauptstadt Chisinau in Richtung Osten. Auf mol­dawischer Seite gibt es keine Kontrollen, schließ­lich wird der Übergang nicht als offizielle Grenze betrachtet. Auf transnistrischer Seite hält der Bus vor einem Schlagbaum. Man übertritt die Schwelle. Passiert die Zollkontrolle (»Drogen auf den Tisch!«) und danach die Passkontrolle (»Sie bekommen ein Transitvisum für zehn Stunden, mehr nicht!«). Später in Tiras­pol kann das Transitvisum problemlos bei der Registrierungsbehörde verlängert werden. Nichts ist so, wie es scheint. Und endlich hat man ihn betreten, diesen Ministaat am Rande Europas, der bis zuletzt unerreichbar war. Dem Herrgott sei Dank.