Die Schlächter von Ruanda

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat am 8.November 1994 die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (ICTR) beschlossen. Bis zum Jahresende 2008 sollen alle Fälle abgeschlossen sein. Die Bilanz des ICTR fällt nach 13 Jahren jedoch bescheiden aus. von benjamin kumpf, arusha

Die Stimmung während der Gacaca-Verhandlungen in Ruanda ist geprägt vom Rauschen der Bäu­me, in deren Schatten die Menschen auf dem blanken Boden sitzen. Die Menschen mit den zer­fetzten Schuhen, zerschlissenen Kleidern und den Gesichtern, die von materiellen Entbehrungen gekennzeichnet sind, dominieren das Bild die­ser ruandischen Dorfgerichte. Der Großteil der­jenigen, die die Massaker überlebt haben, lebt in Armut, die seelischen Wunden werden bei den meisten nie verheilen.

In den klimatisierten Räumen des International Crime Tribunal for Rwanda (ICTR) im tansanischen Arusha hört man hingegen das Rascheln der Dokumente, die die Anwälte präsentieren, rezitieren und en detail durcharbeiten.

Die Infrastruktur des Strafgerichtshofs ist be­ein­druckend: vier Gerichtssäle, die Platz für jeweils 40 Zuschauer auf bequemen Stühlen bieten. Hin­ter der kugelsicheren Glasfront sitzen auf der linken Seite die Teams der Verteidiger, in der Mitte des Saals die drei Richter sowie die Protokollanten und rechts die Anklagevertreter. Die Ver­hand­lungen werden simultan in drei Sprachen (Englisch/Französisch/Kinyarwanda) übersetzt, zudem sorgen vier schwenkbare Kameras für eine Live-Übertragung auf die Bildschirme im Zu­schauerraum. Mit dem Rücken zu den Besuchern sitzt der Angeklagte, Audio-Guides werden jedem Zuschauer einzeln ausgehändigt. Touristen, die in Arusha Safaritouren in die Serengeti machen oder auf den Kilimanjaro steigen, besuchen hin und wieder die Verhandlungen, verweilen aber an­gesichts der juristischen Details und Kleinstarbeit nur kurz auf den Rängen und treten in der Regel schnell wieder hinaus auf die Straße.

In zahlreichen hauseigenen PR-Publikationen wird das ICTR gerühmt, und es wird stolz darauf verwiesen, dass man die erste und einzige UN-Institution sei, die ein eigenes Gefängnis unterhält. Insbesondere die vergleichsweise luxuri­öse Unterbringung der derzeit 55 Gefangenen wird jedoch von internationalen NGO und der ruan­di­schen Regierung scharf kritisiert. Überdies stehen einem bürokratischen Apparat mit über 1 000 Beschäftigten und einem Zwei-Jahres-Budget von fast 270 Millionen US-Dollar 33 abgeschlosse­ne Fälle gegenüber. Das geschätzte Gesamtbudget von 1995 bis 2007 beläuft sich auf über 1,032 Mil­liarden US-Dollar. Elf Prozesse mit insgesamt 27 Angeklagten werden derzeit verhandelt, sechs Verurteilte warten auf das Ergebnis ihrer Berufung und weitere neun Angeklagte auf den Beginn ihres Prozesses. Fünf Angeklagte wurden vom Straf­gerichtshof freigesprochen und drei Verurteilte bereits – nach der Verbüßung ihrer Strafe – wieder freigelassen.

Nachdem die Uno während des Völkermords an den Tutsi und gemäßigten Hutu zwischen April und Juli 1994 nichts unternommen hatte, um die Massaker zu stoppen, wurde wenige Monate nach dem militärischen Sieg der Tutsi-Rebel­lenarmee FPR (Front Patriotique Rwandais) das ICTR gegründet. Erklärtes Ziel war es, ein deutliches Zeichen gegen die Straflosigkeit für Massenmörder auf internationaler Ebene zu setzen und die Planer und Drahtzieher des Genozids vor Gericht zu bringen. Die Stimmung zwischen der neuen ruandischen Regierung, die sich aus den Kadern des FPR zusammensetzte, und der in­ternationalen Gemeinschaft war nach dem Ende des Völkermordes bereits eisig. Die Entscheidung, den Gerichtshof nicht in Ruanda, sondern im benachbarten Tansania zu platzieren, führte zu einer weiteren Verschlechterung der Beziehungen zwischen der neuen ruandischen Regierung und den Vereinten Nationen.

Inzwischen hat sich das Verhältnis zwischen der Uno und der ruandischen Regierung, die immer noch von der alten FPR-Garde gestellt wird, weitestgehend normalisiert. Der Strafgerichtshof hat einen Sitz im ruandischen Kigali und kooperiert eng mit der ruandischen Justiz und einigen zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich für die Versöhnung und die Aufarbeitung des Genozids engagieren.

Zu Beginn des Jahres beschuldigte der französische Richter Jean-Louis Bruguière den ruandischen Präsidenten und die Führung des FPR, am 7. April 1994 das Flugzeug des damaligen Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana abgeschossen und so den Genozid begonnen zu haben. Aber der Völkermord war keineswegs eine »spontane« Reaktion auf das Attentat, sondern vielmehr seit Jahren vorbereitet (Jungle World, 49/06).

Die Frage, wer das von Frankreich gespendete Flugzeug beim Landeanflug auf Kigali abgeschos­sen hat, ist bis heute ungeklärt. Theoretisch könn­te das ICTR in dieser Hinsicht tätig werden, reicht doch der Rahmen der Ermittler vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 1994. Somit fallen po­tenzielle Verbrechen gegen die Menschheit, die vom FPR begangen sein können, auch in die Verantwortung des ICTR, bis dato wurde jedoch nicht in diese Richtung ermittelt.

Ermittlungen gegen die ruandische Regierung würden mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Bereitschaft zur Kooperation, wie etwa die Ausstellung von Ausreisegenehmigungen für Zeugen, schnell beenden und so die Arbeitsfähigkeit des ICTR erheblich beeinträchtigen. Insofern dürfte der Verzicht auf Nachforschungen zu Menschenrechtsverbrechen des FPR auch einem strategischen Kalkül der ICTR-Ermittler geschuldet sein. Die Regierung in Kigali wiederum hat in den letz­ten Jahren fast keine kritischen Töne gegen das ICTR mehr laut werden lassen und Ende 2007 sogar die Todesstrafe abgeschafft, um in Zukunft Auslieferungsanträge an den Strafgerichtshof stellen zu können.

Tatsächlich wurde im September 2007 vom zuständigen Staatsanwalt in Arusha eine Auslieferung von drei Angeklagten an Ruanda vorgeschlagen. Daraufhin traten Mitte Oktober 38 der 55 Gefangenen in einen dreitägigen Hungerstreik. Eine Maßnahme, die den auch heutzutage sehr gut genährten ehemaligen Ministern, Militärs und Priestern kaum irreparable gesundheitliche Schä­den zugefügt haben dürfte, der aber in der tansa­nischen Presse große Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

Der Protest der Angeklagten gegen eine Verlegung nach Ruanda ist aus ihrer Sicht verständlich, ist dort doch eine Verurteilung wesentlich wahr­schein­licher und die Unterbringung deutlich bescheidener als in Arusha beziehungsweise in Mali, Benin, Swaziland, Frankreich, Italien oder Schweden. Diese Länder haben ein Abkommen mit dem Strafgerichtshof unterzeichnet und sich verpflichtet, die Verurteilten in ihren Gefängnissen unterzubringen.

Nicht die schlechteste Perspektive für Menschen wie beispielsweise Simon Bikindi, einen Liedtexter und Mitarbeiter von Radio Televi­sion Libre des Mille Collines (RTLM), der bereits Jahre vor dem Genozid Hasslieder gegen Tutsi komponierte. Er wird beschuldigt, sich ab April 1994 gemein­sam mit den Interahamwe-Milizen an den Morden beteiligt zu haben. Auch Em­manuel Rukun­do, ein Priester und ehemaliger Militärkaplan, steht derzeit in Arusha wegen Beteiligung am Genozid, Vergewaltigung und wei­teren Anklagepunkten vor Gericht. Der untersetzte Mitt­vierziger tritt stets im akkuraten Anzug auf, scherzt mit Richtern und Verteidigern und erzählt in endlosen Monologen noch die absurdeste Lüge. Etwa von der harmonischen Stimmung zwischen Hutu und Tutsi im Jahr 1993 in Ruanda – einem Zeitpunkt, zu dem bereits Massa­ker gegen Tutsi stattfanden und die staatlich unterstützte rassistische Hetze gegen die »Tutsi-Kakerlaken« auf Hochtouren lief. Auch die Beschuldigung einer Tutsi-Frau, die anonym vor Ge­richt aussagt, er habe sie und weitere junge Frauen ver­gewaltigt, weist Rukundo brüsk von sich und bezeichnet sowohl die Zeugin als auch andere Zeugen der Anklage als Lügner und Agenten des FPR.

Der zurzeit am meisten beachtete Prozess ist der Fall »Butare«, ein Sammelprozess gegen sechs Beschuldigte, darunter Pauline Nyirama­suhuko. Butare ist die Universitätsstadt im Süden Ruandas, in der das Morden erst beginnen konnte, nach­dem der kooperationsunwillige Präfekt umgebracht und durch einen der heutigen Angeklagten ersetzt worden war. Das Verfahren ist einmalig, da erstmals eine Frau wegen Aufruf zum und Beteiligung am Genozid und an Vergewaltigungen vor Gericht steht.

Pauline Nyiramasuhuko nahm der Anklage zufolge an Koordinierungstreffen der Interahamwe-Milizen teil und rief in ihrer Funktion als Ministe­rin für Familie und Frauen öffentlich zum Mord an Tutsi und zur Vergewaltigung von Tutsi-Frauen auf. Zudem wird ihr vorgeworfen, Waffen an Mili­zionäre ausgegeben und Trainings für freiwillige Zivilisten organisiert zu haben, die das Morden effektiver gestalten sollten. Ihr Sohn Arsene Sha­lom Ntahobali muss sich ebenfalls als Angeklagter vor den Richtern des ICTR für seine Rolle als Anführer der lokalen Interahamwe-Miliz verantworten. Auch in diesem Fall bestreiten die An­geklagten ihre Teilnahme an den Massakern und ihre Verantwortung für die Morde.

Die Urteile in den genannten Fällen werden Ende des Jahres erwartet. Trotz berechtigter Kritik an dem Apparat des ICTR ist es dieser Insti­tution zu verdanken, dass sich Drahtzieher des Mordens wie Rukundo und Nyiramasuhuko vor Gericht ver­antworten müssen. Waren es doch Ermittler des Strafgerichtshofs, die die Verhaftungen der Beschuldigten in Kenia und der Schweiz initiierten. Dank des vom ICTR und den UN erzeugten Drucks wurden weltweit inzwischen über 70 Flüchtige verhaftet, zuletzt der hochrangige Regierungsbeamte Augustin Ngirabatware am 17. Sep­tember in der Nähe von Frankfurt sowie Dominique Ntawukuriryayo, ebenfalls ein Mitglied der damaligen Regierung, am 31. Oktober in Carcassonne in Frankreich. 14 Beschuldigte befinden sich weiterhin auf der Flucht und werden per internationalem Haftbefehl gesucht. Nach Aussagen des Strafgerichtshofs erhöht das Team der hauseigenen Ermittler derzeit seine Anstrengungen.

Ob das ICTR aber seinen Anspruch erfüllen kann, auf internationaler Ebene abschreckend gegen Massenmord und Genozid zu wirken, ist unklar. Angesichts der Uneinigkeit der UN, etwa bei ihrem Umgang mit dem Sudan oder dem Iran, dürfte die erhoffte präventive Wirkung des Strafgerichtshofs samt der Neuformulierung ­internationaler Strafmaßstäbe kaum praktische Auswirkung auf das Verhalten von Massenmördern haben und auf solche, die es gerne werden möchten.