Das Wort entschläft

Claude Lanzmanns neuneinhalbstündige Dokumentation »Shoah« ist in Deutschland erstmals auf DVD erschienen. von jonas engelmann

Von 1974 bis 1985 arbeitete Claude Lanzmann an seinem Film. Nach dem Erscheinen wurde »Shoah« von New Yorker Kritikern zum Dokumentarfilm des Jahres gewählt. Lanzmann, ein ehemaliger Kämpfer der Résistance, erhielt mit seinem neuneinhalbstündigen Werk weltweit große Aufmerk­sam­keit. Bei der deutschen Fernsehpremiere sahen aber seinerzeit nur zwei Prozent der Zuschauer den Film, der nun in Deutschland auf DVD erschienen ist.

»Shoah« ist in formaler Hinsicht zu radikal für das versöhnliche Formen der Erinnerungspolitik gewohnte deutsche Fernsehpublikum. Es gibt keine Trennung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, keine für eine Dokumentation aufbereiteten historischen Filmaufnahmen, denen Interviews mit »Zeitzeugen« entgegengesetzt werden. Das wenige vorhandene Filmmate­rial ist von den Tätern angefertigt oder nach der Befreiung von den Alliierten gedreht worden, die für die Nachwelt festhalten wollten, was sie vorfanden. Lanzmann verwendet es nicht. Zu leicht habe es sonst der Zuschauer, sich von einer Vergangenheit zu befreien, die da so abgeschlossen in Schwarz-weiß daherkommt. Der Regisseur macht das kathartische Weinen unmöglich. Stattdessen leidet der Zuschauer selbst unter dem Film.

Darüber hinaus fand Lanzmann die Stätten der Vernichtung am Ende der Siebziger von der sie umgebenden Landschaft vereinnahmt, von Büschen überwuchert vor, wodurch die Spuren langsam zu verschwinden drohten. Der Regisseur hat den Film um das Verschwinden der Spuren und das Fehlen der Bilder konstruiert. Das verwendete Bildmaterial setzt sich aus Interviews mit Überlebenden, Tätern und anderen Augenzeugen und Aufnahmen der ehemaligen Orte der Vernichtung zusammen. 350 Stunden Filmmate­rial entstanden insgesamt in der elfjährigen Produktionszeit.

Zwar kommen Opfer wie Täter zu Wort, doch Lanzmann ist weit davon entfernt, aus ihnen »Zeitzeugen« in der Manier von Guido Knopp zu machen: Die Opfer werden niemals mit den Tätern konfrontiert. Weder müssen die Überlebenden ihnen persönlich begegnen, noch sind entsprechende Interviewsequenzen hintereinan­dergeschnitten. Täter und Opfer treten in keinen Dialog, es wird keine Gleichwertigkeit der Aussagen suggeriert, die es auch nicht geben kann. Um jeden Preis vermeidet Lanzmann eine Relativierung der Aussagen der Opfer. Ihre Schil­derungen werden zu keinem Zeitpunkt an­ge­zwei­­felt. Keine kommentierende Stimme greift aus dem Off ein, keine Musik versucht, eine Form von Sentimentalität aufkommen zu lassen. Lediglich bei den Interviews mit den Tätern, die zum Teil heimlich aufgenommen wurden, wird der neutrale Ton Lanzmanns angesichts der ihm aufgetischten Lebenslügen einige Male ungehalten.

Dennoch rekonstruiert der Filmemacher nicht in erster Linie das Vergangene. Er verfolgt die Spur der Verbrechen in der Gegenwart und zeigt die Verletzungen, die die Überlebenden noch immer mit sich tragen. Hier zeigt sich die Problematik des Begriffs »Dokumentarfilm«: Man kann nicht dokumentieren, authentisch darstel­len, was in den Vernichtungslagern passiert ist und was dies für die Überlebenden bedeutet. Lanzmann betont daher, keinen Dokumentarfilm gedreht zu haben. »Shoah« ist vielmehr ein Film über die Unmöglichkeit, einen Dokumentarfilm über die Shoah zu drehen. Die Erzählenden sind Darsteller in einer Inszenierung. »Es ist ihre eigene Geschichte, die sie erzählen, doch es reicht nicht aus, sie nur zu erzählen. Sie mussten sie spielen, d.h. irreal machen«, sagte Lanzmann in einem Interview. Um das Schweigen zu überwinden, das Unaus­sprech­liche kennt­lich zu machen, lässt Lanzmann die Überlebenden in Rollen schlüpfen. Rollen, die sie bereits in den Vernichtungslagern spielen mussten, beim Schneiden der Haare, beim Singen für die Offiziere.

Lanzmann spricht von einem Verfahren der Reinkarnation. Besonders eindrucksvoll wird dies im Falle des Überlebenden Simon Srebnik deutlich. Der Zuschauer wird Zeuge, wie sich aus dem Erinnerungsprozess ein Prozess des Wieder­erlebens entwickelt. Während Lanzmann schwei­gend mit Srebnik das ehemalige Lager­gelände von Chelmno durchwandert, beginnt dieser allmählich zu erzählen, kommt bruchstückhaft die Erinnerung zurück, das Geschehene wird ihm wieder lebendig. Lanzmann fordert mehr vom Zuschauer als die meisten an­deren Filme zum Thema. Er zeigt gerade das, was in Dokumentationen sonst ausgespart wird: das Schweigen, den Prozess des Erinnerns, abgebrochene Gespräche, in denen den Überleben­den die Stimme versagt. Das Schweigen wird zu einem Teil der Grammatik des Films, wie es auch Teil der Sprache der Überlebenden ist. »Das Wort entschläft überall dort, wo eine Wirklichkeit totalen Anspruch stellt«, formulierte Jean Améry in »Jenseits von Schuld und Sühne«.

Dass den Tätern, Profiteuren und anderen Au­genzeugen die Sprache nie versagt, dürfte klar sein. Srebnik, der zum Zeitpunkt der Dreharbeiten in Israel lebt, trifft in seinem Geburtsort etliche Polen, die noch immer in den enteigneten Häusern ihrer ehemaligen jüdischen Nachbarn leben. Er, der einzige überlebende Jude des Dorfes, steht sprachlos inmitten der Dorfbevölkerung vor der Dorfkirche. Er erntet Schulter­klopfen und versöhnliche Worte der Einwohner, man erkennt ihn und erinnert sich an den mit 13 Jahren deportierten Simon. Auf Lanzmanns Fragen hin fangen die Bewohner an, darüber zu sprechen, warum ihrer Meinung nach die Juden damals in der Kirche, vor der sie stehen, zusammengetrieben und ermordet wurden. Bis hin zum Christusmord wird kein antisemitisches Klischee ausgelassen. Während die Dorfbewohner in ihre alte Rolle zurückfallen, muss Srebnik versteinert und mit starrem Blick die versuchte Auslöschung von damals in der Gegenwart erneut durchleben.

»Ein Film wie ›Shoah‹ altert nicht. Er bekommt keine Falten, weil er seine eigene Aktualität schafft«, sagte Lanzmann 2002 in einem Interview. In der Tat bleibt der Film eine wichtige Alternative zur allgemein vorherrschenden Form der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Schon der Aufbau des Films durchbricht die gängige Erzählung von Geschichte. Er beginnt mit der Vernichtung der Juden in Chelmno und endet mit der Auflösung und Zerstörung des Ghettos in Warschau. Der Bruch in der Chronologie zeigt, dass die Logik der Vernichtung bereits in der Ghettoisierung zu finden war und keineswegs aus der Gegenwart, auf dem Kirchplatz in einem polnischen Dorf, verschwunden ist. Auch Simha Rotem, einem der wenigen Überlebenden aus dem Warschauer Ghetto, sind seine Gedanken nach der Niederschlagung des Aufstands noch gegenwär­tig: »Ich bin der letzte Jude, ich warte auf den Morgen, ich warte auf die Deutschen.« Die letzten Bilder zeigen einen fahrenden Zug.

»Shoah« (Frankreich 1985). Regie: Claude Lanzmann. Vier DVDs mit Beiheft, erschienen bei Absolut Medien, 75 Euro