Das Wunder von Meck-Pomm

Im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns ist innerhalb von drei Jahren die moderns­te Eisengießerei der Welt entstanden. Seit der Übernahme durch einen österreichischen Investor ist der Umsatz enorm gestiegen, aus 60 Mitarbeitern wurden fast 600. Ohne Dumpinglöhne und Zeitarbeit wäre das »neue deutsche Wirtschaftswunder« jedoch undenkbar. von martin behrens (text) und heiko brosin (fotos)

Hermann Josef Taterra, der Geschäftsführer der Eisengießerei EGT Torgelow GmbH, ist ein Erfolgs­mensch. Ein Mann mit dem richtigen Riecher, zur rechten Zeit am rechten Fleck zu sein. Ein Mann mit Ehrgeiz und Tatendrang. Er mag klare Worte. Manche davon sind so klar, dass sich die gescholtenen Mitarbeiter später rat­suchend an die IG Metall wenden. »Herr Taterra ist das, was man auf Arbeiterdeutsch einen Choleriker nennt«, sagt der Neubrandenburger Gewerkschaftssekretär Guido Fröschke.

Einen Ruf als Bulldozer hatte sich Taterra schon erarbeitet, als er 2004 in Torgelow vor den Toren der maroden Gießerei stand. Schwer wie Blei lag damals die Depression über der Kleinstadt im nordöstlichsten Zipfel Mecklenburg-Vorpommerns. Die Arbeitslosenquote hatte die 30-Prozent-Marke längst überschritten. Der einst größte Arbeitgeber am Ort schlingerte seit der Privatisierung 1993 von einer Insolvenz in die nächste. Selbst eine von der EU für wettbewerbswidrig befundene Millionenbeihilfe des Bundes hielt den Niedergang nicht auf. Doch Taterra und sein österreichischer Investor Carl Ludwig Anton Schön­feldt rochen wohl, dass hier noch nicht alles verloren war.

Schönfeldt ist der starke Mann im Hintergrund. Der Wiener Spezialist für Risikokapitalgeschäfte und Privatbeteiligungen hat viele Funktionen. In Torgelow stellte er sich als »Industrieller« vor. Wohl eine ungewohnte Rolle für den Geschäftsführer der kurz zuvor gegründeten Firma CLH Immobilien und Beteiligung GmbH. Vertriebsleiter Rudolf Schulz war von den beiden Männern sofort überzeugt. »Ich habe gleich gehofft, dass sie einsteigen«, sagt er. Taterra nickt zufrieden.

Drei Jahre später hat sich das Bild gewandelt. »Wir haben hier die weltweit modernste und um­satzstärkste Gießerei«, erzählt Schulz mit stolz. In den Schmelzöfen prasselt das Feuer. Das »neue deutsche Wirtschaftswunder«, so wagte Schönfeldt die Gießerei vergangenes Jahr gar zu nennen. Ausgerechnet hier, auf dem sandigen Boden Vorpommerns, in Uecker-Randow, Deutschlands ärm­stem Landkreis. 570 Mann beschäftigt die EGT heute wieder, darunter 102 Lehrlinge.

Warum »Bulldozer«? Taterra lacht, als er den Spitznamen hört. Von wem ich den denn gehört habe? Schulz lächelt ein wenig verklemmt und zieht es vor, diesmal nichts zu sagen. »Vom Bürgermeister von Hattenhofen? Ist ja interessant.« Taterra und Bürgermeister Jochen Reutter sind nie warm geworden miteinander.

»Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? Wo, wenn nicht hier?« Dieses Zitat von John Kennedy hängt groß im Foyer der Gießerei. Der Spruch ist Programm in Torgelow. Nirgendwo sonst wäre die Erfolgsstory der Gießerei so wiederholbar. Rund 47 Millionen Euro wurden bisher hier investiert. Etwa die Hälfte davon stammt aus öffentlichen Fördergeldern. Subventionen, ohne die der rasante Aufstieg an die Weltspitze kaum denkbar gewesen wäre; durch die zahlreichen Kapazitätserweiterungen hat Taterra den Umsatz von 5,3 auf gut 82 Millionen Euro im laufenden Geschäftsjahr gesteigert. Diesen »Standortvorteil Ost« hatte er bereits 2002 als technischer Geschäftsführer der Gießerei Plattenhardt in Hattenhofen erkannt. Subventionen sowie niedrige Löhne und Produktionskosten übervorteilten die Ost-Konkurrenz, warnte er damals. Auch damals schon trieb ihn der Ehrgeiz an. Zur »Nummer eins in Deutschland« wollte er es schaffen mit der Gießerei. Die dafür zunächst nötige Baugenehmigung für eine neue Produktionshalle bekam er auch.

»Er ist halt ein Global Player«, lacht Jochen Reutter. Wie ein Kompliment klingt das nicht. Soll es auch nicht. Als »ausgesprochen fordernd« beschreibt der Bürgermeister Taterra. Ansonsten wollen sich nicht viele frühere Weggefährten erinnern im Südwesten. Ob fordernd oder nicht: Taterra hat Erfolg. »Mit unseren Steigerungsraten kann niemand mehr Schritt halten«, sagt er und lehnt sich zurück in seinem Büro­stuhl.

Herbstlaub wirbelt draußen am Fenster vorbei. Die Glasscheiben des neu entstehenden Sozialgebäudes auf der anderen Seite des Parkplatzes spiegeln die backsteinrote Fassade des Gießerei-Verwaltungsbaus. Auch ein Betriebskindergarten soll entstehen. »Selbst die Reinigungsfirmen profitieren vom Aufschwung«, erzählt Ta­terra; vom Industriehafen im nahen Ueckermünde ganz zu schweigen. Mit einer ausholenden Geste deutet er auf den Parkplatz. »Die Leute können wieder planen«, sagt er. »Bevor wir kamen, herrschte hier Angst. Heute sind die Leute stolz, in der Gießerei zu arbeiten.«

Was Taterra nicht sagt: Viele seiner Angestellten sind nur als Zeitarbeiter beschäftigt. Eingestellt werden sie über die Firma Arbeit aktiv Torgelow GmbH. Geschäftsführerin ist seine Frau Erika Taterra, die gleichzeitig Personalchefin der Gießerei ist. Angeblich arbeitet ihre Firma jedoch »völlig unabhängig«. Weshalb deren Internetseiten jedoch auf den Namen der Gießerei registriert sind, kann Taterra nicht beantworten: »Das muss ein technischer Fehler sein.«

Wie viele Zeitarbeiter die Eisengießerei beschäf­tigt, ist nicht bekannt. Zahlen legt Taterra nicht auf den Tisch. Doch wozu so viel »Flexibilität« noch nötig ist, wenn alles so solide aussieht, fragen sich viele. Guido Fröschke klagt, dass »die prekäre Arbeits- und Lebenssituation der Beschäftigten« dazu genutzt werde, »die Leute gefügig zu machen«. Doch viel Widerstand regt sich nicht. In Torgelow freut man sich, überhaupt wieder Arbeit zu haben.

»Das Wunder von Torgelow«, titelte die Süddeutsche Zeitung. Die Neue Zürcher Zeitung sprach gar, geographisch ein wenig daneben, vom »Jobwunder aus der Uckermark«. Taterra mag solche Schlagzeilen. Mit Unmut erzählt er von Journalisten, die Stunden mit ihm sprachen, um dann nur ein paar Zeilen Mist zu veröffentlichen; selbst wenn dieser Mist noch weitestgehend positiv war. Doch schon die Nachfrage, wie haltbar der Aufschwung denn sei, empfindet er als Affront. Taterra erwartet Würdigung. Dafür macht er viel. Inzwischen spielt selbst der lokale Fußball-Oberligist in der Gießerei-Arena. 20 000 Euro lässt Taterra sich das jährlich kosten. Geld, das er in die Jugend investiert sehen möchte. »Ein Dankeschön an die Belegschaft«, nennt er dieses und anderes Engagement im Ort. Einige spotten schon, bald werde man den Ort umbenennen in »Hermann-Josef-Stadt«. So ist das halt, wenn man Erfolg hat wie Taterra.

Das Problem hatte bereits der Schwerindus­triel­le Alfred Krupp: »Ich bin Krupp, das heißt die Nächstenliebe / Ich allein, ich hab Verstand, /Ich bin Krupp, ich nur das Gute übe, / Doch ich dulde keinen Widerstand.«

Versuche der IG Metall, in der Gießerei mitzureden, seien mit der Drohung erwidert worden, die Investitionen zu vermindern, erzählt Fröschke. »Wir brächten nur Unruhe in den Laden.« Im Kern gehe es um Furcht vor Lohnforderungen. Mit 1 300 Euro liege der Bruttoverdienst für einen Facharbeiter rund 800 Euro unter Tarif, sagt Fröschke.

Taterra, der gar nicht viele Worte braucht, um zu erklären, was er von den »Gewerkschaften von heute« hält, argumentiert dagegen, dass »alle Be­schäftigten Prämien und Zuschläge« erhielten, also auch die Zeitarbeiter: bis zu 400 Euro im Monat. »Damit sind wir fast auf West-Niveau. Andere setzen den Grundlohn hoch an, wir schaffen Motivation.«

In vier Jahren wollen Taterra und Schönfeldt noch mehr erreicht haben: 1 000 Mitarbeiter, die dann 180 Millionen Umsatz erwirtschaften sollen. Zusätzliche 60 Millionen Euro wollen sie bis dahin investiert haben. Und weil Taterra vorwiegend Männern Arbeit bieten kann, betätigt er sich gleich noch als privater Wirtschaftsförderer. 500 Jobs soll ein Call-Center in Torgelow schaffen. Der Kontakt sei von seiner Frau angebahnt worden, sagt Taterra. Die Gießerei zahlt die Umbaumaßnahmen in einer ungenutzten Halle der Gießerei.

Ein paar Etagen unter dem aufgeräumten Büro gewährt Taterra einen Einblick in die Herzkammern des Aufschwungs. »Die Auftrags­bücher sind voll bis 2011«, redet er gegen den ohrenbetäubenden Lärm in der neuen Halle »GGT II« an. Politiker geben sich die Klinke in die Hand, selbst Ministerpräsident Harald Ringstorff (SPD) macht Reklame für die Gießerei, und sein ehemaliger Wirtschaftsminister Otto Ebnet (SPD) bringt gleich Frau und Tochter mit zum Sektempfang.

Die Luft in der Halle ist staubig, es ist dunkel wie unter Tage. Arbeiter in silberner Kluft laufen umher, Funken sprühen. In schweren Kesseln glüht flüssiges Roheisen. Riesige Rotornaben warten auf den letzten Feinschliff: vier Meter im Durchmesser, 30 Tonnen schwer. Solche Gussteile für Windenergieanlagen machen zwei Drittel der Produktion aus. 70 Prozent werden exportiert. »Wir hatten aber auch Glück. Als wir einstiegen, zog die Konjunktur an«, sagt Taterra. Inzwischen sei das Unternehmen ein Selbstläufer. »Made in Torgelow« sei zu einem Qualitätssiegel geworden.

»Stopp!« schreit Taterra und pfeift einige Arbeiter zu sich. Er ist eine wuchtige Erscheinung, ein Mann wie ein Bär. »Seht ihr nicht, dass das schief sitzt?« Die Männer senken ihre rußgeschwärzten Häupter. Ta­terra ist stolz darauf, »weniger als drei Prozent Ausschuss« zu haben. Das soll auch so bleiben. Auch Vertriebsleiter Schulz schwärmt vom Qualitätssiegel Made in Torgelow. »Inzwischen melden sich Firmen, die wir gar nicht auf dem Monitor hatten«, erzählt er stolz.

Doch nicht alle teilen den Optimismus. Guido Fröschke ist einer dieser Spaßverderber. »Ich würde mir wünschen, dass die Entwicklung für die Beschäftigten gut geht, aber in vergleichbaren Fällen spricht man oft von Seifenblasen.« Er fürchtet, »dass man vor allem versucht, öffentliche Fördermittel abzugreifen«.

Das kann Taterra so natürlich nicht gelten lassen. »Ein Minister hat mir einmal gesagt, dass wir eine der wenigen Firmen im Osten sind, die Fördermittel wirklich effizient einsetzen: Wir schaf­fen Arbeit.« Und Arbeit, die braucht es in Vorpommern.

So ganz direkt ist die Verbindung zwischen Fördermitteln und Arbeitsplätzen dann aber doch nicht. Denn die EGT Eisengießerei ist lediglich die Betreibergesellschaft der Hallen. Nach Angaben des mecklenburg-vorpommerschen Wirtschaftsministeriums wurden die Investitionen in Torgelow »seit 2005 im Rahmen einer Betriebsaufspaltung realisiert«. Verboten ist das nicht. Clever, auch steuerlich, ist es schon.

Besitzgesellschaft ist die Ende 2004 gegründete GGT Großguss Torgelow GmbH, auch hier spielt Schönfeldt die wichtigste Rolle. Als Antragsteller auf den Fördermittelanträgen tauchten Eisengießerei und Großguss gemeinsam auf, heißt es aus dem Wirtschaftsministerium. Creditreform zufolge beschäftigt die GGT jedoch lediglich einen einzigen Mitarbeiter. Nicht gerade ein Jobwunder. Dieser einzelne Mitarbeiter erwirtschaftete allerdings im Geschäftsjahr 2005 zwei Millionen Euro Umsatz. So er nicht Herkules heißt, wohl kaum durch die »Herstellung von Gießereierzeugnissen«, wie es bei der Wirtschaftsauskunftsdatei heißt. Doch Arbeit zu schaffen, ist eine der Förderbedingungen. »Uns interessiert der Standort insgesamt«, sagt dazu ein Ministeriumssprecher. Ob solcherart Pragmatismus den wirtschaftlichen Aufschwung im Landkreis bewirken kann, muss sich erst noch erweisen.

Gleiches gilt für die Absichten der Investoren. Doch von Seifenblasen will niemand etwas wissen in Torgelow. »Wir haben hier eine glasklare Strategie, die mit Schönfeldt abgesprochen ist. Das ist eine Perle, und die wird nicht verkauft«, sagt Taterra und lehnt sich zurück. »Dafür hängt mein Herz zu sehr an der Firma.«

Eine klare Strategie zu haben, das dachte allerdings auch Branko Mihajlov, Geschäftsführer der Kette Makro-Markt. 2005 dann das Aus: Investor Schönfeldt zog sich zurück. Die Kette sei »zu rasch und forsch gewachsen«. Mihajlov hält dagegen, dass Schönfeldt ihn »mit Nachdruck in die Expansion getrieben« habe. Taterra kennt »diese Geschichte«. Das ist alles. »Bei uns steht genügend Kapital im Hintergrund«, schließt er das Thema ab. Im Hintergrund steht auch Schönfeldt. Und da möchte er auch bleiben. »Innerhalb unserer Strategie haben wir hier absolut freien Spielraum«, so Taterra. Doch dieses Bedürfnis nach einem Platz im Hintergrund geht wohl so weit, dass Taterra es innerhalb von drei Jahren nicht einmal für nötig erachtete, eine aktualisierte Gesellschafterliste beim Handelsregister einzureichen; geschweige denn eine Bilanz.

Aber was kümmern einen Erfolgsmenschen schon trockene Paragraphen und Einreichungspflichten. Das Vertrauen in das, was Schönfeldt gar das »neue deutsche Wirtschaftswunder« nennt, freilich stärkt all dies nicht.