»Die Faschisten waren nicht das Problem«

Ashley Green, Faninitiative »Progetto Ultrà«

Die italienische Faninitiative Progetto Ultrà will Rassismus und Rechtsradikalismus in den italienischen Fußballstadien bekämpfen. Mit Projekten wie der antirassistischen WM in Norditalien versucht sie, in die Ultrà-Szene politisch zu intervenieren. Nachdem ein Polizist einen tödlichen Schuss auf einen italienischen Fußballfan abgegeben hatte, wird gegen den Ord­nungs­hüter wegen Totschlag ermittelt. interview: federica matteoni

Warum wollen Sie nicht, dass der Tod von Gabriele Sandri als Unfall dargestellt wird?

Weil es kein Unfall war. In unserer Presseerklärung kritisieren wir die üblichen Allgemeinplätze, die die Ultras undifferenziert als eine Horde Kri­mi­neller und Faschisten mit ausgestrecktem Arm darstellen – was die ausländische Presse regelmäßig macht – oder sogar als Terroristen, was wiederum eine italienische Besonderheit ist.

Die Einstellung dabei ist immer dieselbe: Wenn die Lage eskaliert, ist sofort von »Notstand« die Rede, dann folgen Reaktionen aus der Politik, in Form von repressiven Gesetzen.

Wir kritisieren die Tendenz, nach den Ereignissen vom vorvergangenen Sonntag nur noch von einem »tragischen Tod« bzw. von einem »tragischen Fehler« zu reden, der nichts mit dem Fußball, den Stadien und den Ultras zu tun hat.

In einem Leitartikel schrieb La Repubblica: »Ga­briele Sandri wurde vom Fußball ermordet.« Finden Sie das nicht irreführend? Gabriele San­dri saß im Auto und wurde von der Kugel eines Verkehrspolizisten getroffen.

Es ist schwierig, nach dem, was passiert ist, ohne Emotionen zu diskutieren. Es stimmt, dass Ga­briele im Auto saß, es wurde geschrieben, dass er geschlafen hat. Die Betonung dieses Umstands, nämlich dass er geschlafen haben soll, entspricht dem Versuch, ihn ausschließlich als unschuldiges Opfer polizeilicher Gewalt darzustellen. Das ist mystifizierend. Das impliziert nämlich, dass dieser Tod weniger skandalös wäre, wenn die Kugel einen »Krawallmacher« getroffen hätte. Dass Gabriele im Auto geschlafen hat, halte ich übrigens für fraglich. Auf dieser Raststätte hatte gerade eine Schlägerei zwischen rivalisierenden Ultra-Gruppen stattgefunden. Das steht fest. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fan, der auf dem Weg zum Auswärtsspiel ist, so etwas verschläft, ist wirklich sehr, sehr gering.

Schlafend oder nicht, fest steht, dass er im Auto saß …

Genau, das ist der Punkt. Er ist von einem Polizis­ten erschossen worden. In der vergangenen Woche wurde klar, dass sich der Schuss doch nicht aus Versehen aus der Pistole des Beamten gelöst hat. Er hat mit ausgestreckten Armen, das heißt gezielt, geschossen. Der Polizist wusste, er hat mit Fußballfans zu tun, und sie sind aggressiv, brutal und gefährlich. Deshalb hat er geschossen. Darüber sollte man diskutieren.

Nach Gabrieles Tod gab es mehrere Stunden lang keine sicheren Informationen, und später, als die Nachricht seines »tragischen Todes« sich verbreitete, hat die italienische Öffentlichkeit so getan, als würde sie nicht wissen, was gleich pas­sie­ren wird. Nämlich dass die Ultras in ganz Italien die­sen Tod als Angriff und Amtsmissbrauch der Po­lizei empfinden und dementsprechend reagieren.

Die Krawalle in Rom und anderen Städten waren also eine gerechtfertigte Reaktion?

Darüber wird in unserem Forum sowie in vielen anderen diskutiert, da sind die Meinungen unter­schiedlich …

Was meinen Sie?

Gerechtfertigt war die Randale vielleicht nicht, aber sie kam nicht unerwartet. Sie wurde instrumentalisiert, von mancher Presse und von der Politik, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die »bösen Ultras« zu lenken, anstatt sich darauf zu konzentrieren, die Dynamik dieses vermeintlichen »tragischen Fehlers« aufzuklären.

Es dürfte den randalierenden Fans doch klar gewesen sein, dass die Öffentlichkeit nicht gerade begeistert reagiert.

Am Sonntag kam durch die Gewalt und die Zerstörung die Wut angesichts der eigenen Ohnmacht zum Ausdruck. Da spielt natürlich auch das Zugehörigkeitsgefühl eine Rolle.

Nach dem Tod eines Polizisten im Februar waren drastische Maßnahmen beschlossen worden, um die Sicherheit in den Fußballstadien zu garantieren. Was haben sie gebracht?

Wenn Sie mich fragen, haben sie nur eines gebracht: die Eskalation, von der nach Gabrieles Tod wieder in jeder Zeitung zu lesen ist. Wenn Sie sich Statistiken ansehen, werden Sie erfahren, dass die Gewalt in den Stadien abgenommen hat. Das liegt nur daran, dass man vielen Fans verboten hat, bei Auswärtsspielen dabei zu sein. Wenn es dann irgendwann wieder knallt, geht das übliche Theater der »Gewaltspirale« wieder los. Die Maßnahmen nach dem Tod des Polizisten waren nicht die ersten. Dabei galt jene »Notstands­mentali­tät«, die in Italien für alles gilt: für Fußball­fans, für »kriminelle Ausländer« sowie für linke Bewegungen.

Das Ziel dieser Maßnahmen war immer, die Szene der organisierten tifosi zu zersetzen, die Stadien in einem gewissen Sinne zu anonymisieren.

Das Ziel ist es doch, Gewalt in den Stadien zu unterbinden.

Ich habe nichts dagegen, dass individuell Verantwortliche für Randale in den Stadien oder in deren unmittelbarer Nähe verfolgt werden. Aber die Maßnahmen der vergangenen Jahre haben zum Teil auch eine repressive Natur, weil sie Fans daran hindern, ihre Leidenschaft auszuleben. Ultras dürfen zum Beispiel nicht mehr organisiert, das heißt mit Zug oder Bus, zu Auswärtsspielen fahren. Man darf aber vereinzelt mit dem Auto fahren, was für die so genannten Ordnungshüter selbstverständlich mehr Probleme bringt. Die ab­surdeste Entwicklung war das Verbot von Transparenten oder Fahnen jeglicher Art sowie vom in den Kurven üblichen choreographischen Instrumentarium ohne eine explizite Erlaubnis der Behörde. Es sind diese Versuche, alle tifosi daran zu hindern, mit ihrer Mannschaft mitzufiebern, die für die Eskalation in den italienischen Fußballstadien verantwortlich sind. Man hat sich ausschließlich auf die negativen Seiten der Ultras-Szene konzentriert.

Welche sind die positiven Seiten?

Die Ultras gibt es in Italien seit den sechziger Jahren. In den sechziger und siebziger Jahren war die Szene stark politisiert, das hatte mit der sozialen und politischen Lage und mit der Radikalität der politischen Auseinandersetzung in unserem Land zu tun. In den achtziger Jahren hatten die Ultra-Gruppen am meisten Anhänger. Das war eine Zeit, in der man die Ultras auch als eine Form der Jugendkultur verstanden hat, die auch positive Werte vermitteln kann. Heute gelten Ultras nur noch als Underdogs.

Welche Rolle spielt die Politisierung der Kurven?

Ich weiß, dass über dieses Thema in ausländischen Medien viel diskutiert wird. Aber oft wird dabei eine Situation dargestellt, die schon längst nicht mehr der Realität entspricht.

Für mich ist es wichtig zu differenzieren. Dass es sehr viele rechte bis rechtsextreme Fangruppen gibt, ist eine Tatsache, und mit unserer Fan­initiative versuchen wir, durch verschiedene Projekte genau an dieser Stelle zu intervenieren. Aber am Sonntag waren nicht die Faschisten das Problem.

Das Innenministerium redet von »63 rechtsextremen und 35 linksextremen Gruppen« in den Kurven und bezeichnet sie als »subversiv«. Für den Staat gelten sie als »Terroristen« . Wie sehen Sie das?

Es ist noch zu früh, um zu sagen, was jetzt passie­ren wird. Der Terrorismusvorwurf, so absurd ich ihn finde, wundert mich nicht. Es handelt sich um einen konsequenten Schritt in der Strategie der Kriminalisierung, die nicht seit Gabrieles Tod, son­dern seit mehreren Jahren am Laufen ist. Dass sie nichts gebracht hat, hat man in diesem Land anscheinend nicht verstanden. Notwendig wäre eine Deeskalationsstrategie.

Wie könnte sie aussehen?

Man sollte vor allem die Verbote lockern. Will hei­ßen: Die Leute sollen wieder Spaß am Fußballspiel haben dürfen. Ihnen soll wieder erlaubt werden, Fahnen und Transparente zu zeigen und zu Auswärtsspielen zu gehen. Die Kurven sollten wieder das Gefühl haben, als »Einheit« wahrgenommen zu werden.

Aber wie verhindert man rassistische, faschistische und antisemitische Sprüche in den Fußballstadien?

Durch eine Arbeit, die außerhalb des Stadions stattfindet. Da kommen Projekte wie unsere ins Spiel.

Was machen Sie in Ihrem Projekt?

Wir sind seit 1995 in der Ultra-Szene aktiv. Unser Ziel ist es, die positiven Aspekte des organisierten tifo zu fördern und zu verbreiten. Dazu gehört eine ständige Reflexion und vor allem Selbstreflexion über das Thema Gewalt und vor allem über Rassis­mus und Faschismus in den Kurven. Da arbeiten wir in verschiedenen Projekten mit Sozialarbeitern zusammen, und der Erfolg von Veranstaltun­gen wie der antirassistischen Weltmeisterschaft zeigt, dass unsere Arbeit bei den Leuten, die wir erreichen möchten, gut ankommt. Wir möchten einfach, dass die Ultras nicht mehr nur als krimi­nelle Krawallmacher wahrgenommen werden, son­dern als wichtiger Bestandteil eines Spiels, das als solches in allererster Linie Spaß machen soll.