Die ultrakonformistischen Rebellen

Nachdem ein Lazio-Fan von einem Polizisten erschossen worden war, reagierten alle Beteiligten reflexartig: die einen mit Gewalt, die anderen mit dem Ruf nach Gesetzesverschärfungen. von catrin dingler

Als der Sarg aus der Kirche getragen wurde, war nicht nur der übliche Applaus zu hören. Tausende römische und auswärtige Ultràs hoben ihre Fanschals in die Höhe und skandierten den Namen des Toten. Stadiongesänge wurden angestimmt, erst die Vereinshymne des S. S. Lazio, später auch die Nationalhymne. Viele Arme erhoben sich zum faschistischen Gruß. Auf einer Mauer in der Nähe der Kirche war zu lesen: Rache für Gabriele. Doch nur vereinzelt war Protest gegen die Polizei zu vernehmen. In dem Punkt wurde der Wunsch der Familie, während der Beerdigung auf Provokationen zu verzichten, respektiert.

Gabriele Sandri war am vorletzten Sonntagvormittag auf einer Autobahnraststätte bei Arezzo auf der A1 Richtung Florenz von einem Schuss eines Polizisten getroffen und tödlich verletzt worden. Der 28jährige Römer war zusammen mit vier Freunden auf dem Weg nach Mailand, wo sein Verein, der S.S. Lazio, am Nachmittag gegen den Tabellenführer Inter Mailand hätte antreten sollen.

In ersten Agenturmeldungen war nur von einer Schlägerei zwischen rivalisierenden Fangruppen, die sich an der Raststätte getroffen hätten, berichtet worden. Erst Stunden später wurde bekannt, dass ein Polizist von der gegenüberliegenden Servicestation aus zwei Schüsse abgegeben und dabei einen Lazio-Fan tödlich verletzt hatte. Die Polizei in Arezzo sprach von einem »tragischen Fehler«, der zweite Schuss habe sich »versehentlich« gelöst oder sei vielleicht auf der Flugbahn »abgelenkt« worden, da die Kugel immerhin über vier Autobahnspuren abgefeuert worden war. Sandris Tod wurde als »tragisch« und »absurd« apostrophiert. Italiens Polizeichef, Antonio Manganelli, entschied, dass nur das Spiel Lazio gegen Inter abgesagt, alle anderen Spiele aber planmäßig angepfiffen werden sollten. Ein weiterer Fehler.

Die Fans, die auf dem Weg zum Stadion über Radio und SMS von Sandris Tod erfuhren, durchschauten die Strategie: Der Tod des Ultrà sollte bagatellisiert werden, indem er als Opfer eines »absurden« Unglücksfalls und nicht als Opfer der seit Monaten eskalierenden Gewalt zwischen Polizei und militanten Fans dargestellt wurde. Im Februar, als bei Krawallen anlässlich des sizilianischen Derbys zwischen Catania und Palermo der Polizeibeamte Filippo Raciti ums Leben kam, war dagegen noch die Meisterschaft für einen Spieltag unterbrochen worden.

Aus Protest zogen in Mailand die Anhänger von Lazio und Inter in einer Spontandemon­s­tration gemeinsam in die Innenstadt, sie forder­ten »Gerechtigkeit für Gabriele« und den Rücktritt des Innenministers Giuliano Amato. In Ber­gamo randalierte die Fankurve von Atalanta so lange, bis das Spiel gegen den AC Mailand ab­gebrochen werden musste. Auch die Partie AS Rom gegen Cagliari, die für den Abend angesetzt war, wurde nun abgesagt. Zu spät. Am römischen Olympiastadion hatten sich längst die Ultràs beider römischer Clubs zusammengefunden. Nachdem bekannt geworden war, dass die Partie nicht stattfinden würde, begann die Randale. Mehrere hundert Ultràs blockierten die Zufahrtswege zum Stadion, steckten Mülltonnen und Polizeifahrzeuge in Brand und verwüsteten die Zentrale des Nationalen Olympischen Komitees. Auf dem Rückzug in die umliegenden Viertel attackierten sie mit Steinen und Feuerwerkskörpern eine Kaserne und ein Polizeikommissariat.

Mit diesen Angriffen lieferten die Ultràs den staatlichen Stellen nur einen weiteren Vorwand, vom Todesschuss des Beamten abzulenken und einmal mehr den »sicherheitspolitischen Notstand« auszurufen. Zwar musste Amato inzwischen zugeben, dass der 31jährige Verkehrspolizist Luigi Spaccarotella seine Waffe mit beiden Händen gehalten und gezielt geschossen habe und deshalb nicht länger nur wegen »fahrlässiger Tötung«, sondern wegen »vorsätzlichen Totschlags« angeklagt werden würde; gleichzeitig aber wurde auch ein Ermittlungsverfahren gegen die vier Ultràs eingeleitet, die mit Sandri im Auto saßen. Weil auf dem Parkplatz der Raststätte zwei Messer und verschiedene Wurfgeschosse sichergestellt wurden, wird ihnen versuchte Körperverletzung vorgeworfen. Gegen die in Folge der Proteste festgenommenen Ultràs wird hauptsächlich wegen Sachbeschädigung ermittelt, allerdings werden zwei römischen Ultràs auch »terroristische Ziele« unterstellt: Der Angriff auf die Polizeistation sei als »Angriff auf den Staat« und deshalb als »Umsturzversuch« zu werten. Wenngleich die Anklage so unverhältnismäßig ist, dass sie kaum wird aufrechterhalten werden können, so zeigt sich deutlich, dass die Ordnungskräfte weiterhin auf ihr altes, erfolgloses Repressionsprogramm setzen.

Tatsächlich hat nicht zuletzt die Praxis der Spielabsagen, Stadionverbote und Platzsperren dazu beigetragen, die traditionelle Kultur der »Wütenden«, denen Nanni Balestrini einst einen gleichnamigen Roman widmete, zu zerschlagen. Die ehemals zwischen gegnerischen Fangemeinden kultivierte Gewalt richtet sich nun schon seit Jahren gegen den gemeinsamen Feind: die Polizei. Mit jeder neuen Repressionswelle wächst der Hass. »ACAB« – All cops are bastards – erscheint dieser Tage als drohendes Kürzel an vielen Häuserwänden.

Die Beteuerungen der Vereine, gegen die »gewaltbereiten Splittergruppen« vorgehen zu wollen, sind scheinheilig. Die Ultràs sind längst Teil des Geschäfts: Ihnen wurde der Karten- und Fanartikelvertrieb überlassen, als Gegenleistung erzeugen sie gegebenenfalls den nötigen öffentlichen Druck, um beispielsweise für ihren Verein Lizenzen zu erpressen. Dass sie ihre Macht auch gegen die Vereine einsetzen können, bewiesen die römischen Ultràs, als sie vor drei Jahren den Abbruch eines Derbys erzwangen.

Nichtsdestotrotz versuchen immer noch einige Linke, die Ultràs als soziale Outlaws zu verteidigen, die den Entwicklungen des »modernen Fußballs« (in Anlehnung an den Neo­liberalismus wird auch gerne von neocalcio gesprochen) Widerstand entgegensetzten und das Erbe der in den siebziger Jahren entstandenen »antisystemischen« Jugend- und Straßenkultur aufrechterhielten. Für den Stadtsoziologen Massimo Ilardi greifen die Ultràs nur deshalb auf die Symbolik der politischen Rechten zurück, weil diese das »anti-institutionelle« Element besser repräsentieren könne als eine auf den Staat fixierte Linke.

Guido Liguori und Antonio Smargiasse, zwei linke Fußballsoziologen, warnen dagegen davor, die ideologische Unterwanderung der Fankurven durch rechtsextremistische Gruppierungen zu unterschätzen. Die Ultràs der Banda Noantri, zu denen auch Sandri zeitweilig gehörte, sympathisieren offen mit der neofaschistischen Partei Forza Nuova. Die Erinnerung an den ehemaligen Lazio-Stürmer Paolo Di Canio, der seine Tore mit einem faschistischen Gruß in Richtung Fankurve zu feiern pflegte, und die zuletzt auf der Beerdigung zur Schau gestellte neofaschistische Militanz lassen keine Zweifel zu. Immerhin soll nun, nachdem die römische Staatsanwaltschaft Ähnlichkeiten in der Strategie und im Ablauf der Angriffe auf die Polizeistationen mit einem Angriff auf ein linkes Open-Air-Konzert im Sommer feststellen konnte, erstmals der politische Charakter der Bewegung der Ultràs und ihre Verbindung zu den rechtsextremen Parteien strafrechtlich untersucht werden.