Zusammenstoß mit Sarkozy

Auf den unbefristeten Bahnstreik und die Studentenproteste in Frankreich folgt nun der Ausstand im öffentlichen Dienst. Es ist die größte Machtprobe für Präsident Nicolas Sarkozy seit seinem Amtsantritt. von bernhard schmid, paris

Eine Frage bewegt ganz Frankreich: In welche Richtung wird sich der unbefristete Arbeitskampf in den französischen Transportbetrieben sowie bei den Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF entwickeln? Einerseits könnte der Hass auf die Streikenden anwachsen und es zu Entsolidarisierung und Sozialneid zwischen Lohn- und Gehaltsempfängern kommen. Wird sich am Ende gar ein wütender Anti-Streik-Mob auf den Straßen zusammenrotten? Oder könnte es zu der – von radikalen Linken in der Vergangenheit beschworenen – »Konvergenz der gesellschaftlichen Kämpfe« kommen? Diese Szenarien sind derzeit beide denkbar.

Am vergangenen Wochenende traten Studierende an 56 (von insgesamt 85) französischen Universitäten gegen das neoliberale »Gesetz zur Autonomie der Universitäten« in den Protest. An 26 Hochschulen war der Vorlesungsbetrieb »vollständig blockiert«, so eine Zählung der studentischen Nationalen Streikkoordination, die aus gewählten Delegierten der bestreikten Universitäten besteht. Protestiert wird gegen ein Gesetz, das Anfang August – mitten in der Urlaubsperiode – vom Parlament verabschiedet worden ist. Es sieht vor, den Universitätsleitungen und insbesondere ihren Präsidenten umfassende Vollmachten zu verleihen, so dass sie sich wie Unternehmensleitungen verhalten und private Geldmittel akquirieren können.

Dagegen hat sich eine breite studentische Protestbewegung gebildet, die von der Streikkoordination sowie von der radikalen Linken getragen wird. Hingegen hatte die größte Studierenden­gewerkschaft, die sozialdemokratisch geführte Unef, im Frühsommer in Verhandlungen »institutionelle Garantien« – sprich: Posten und Pöstchen – errungen und danach grundsätzlich von Protesten gegen die Reform abgesehen. Unter dem Druck der Proteste, die ihr vollständig aus dem Ruder liefen, fordert allerdings auch die Unef seit Ende voriger Woche die »Ausweitung der Bewegung«. Auch wenn sie eine Nachbesserung und nicht – wie etwa die Streikkoordination – die vollständige Abschaffung des neuen Gesetzes will. Die Unef sieht sich gezwungen, bei den Protesten mitzumachen, um am Ende von ihnen zu profitieren.

Im Transportstreik kann es sich keine Seite erlauben zu verlieren. Jenseits dessen, was materiell auf dem Spiel steht – die Verlängerung der Lebens­arbeitszeit für die abhängig Beschäftigten in den betroffenen öffentlichen Unternehmen –, spielen beide Konfliktparteien mit hohem Einsatz.

Vom Ausgang der anstehenden Kraftprobe hängt es ab, über welche Spielräume die Regierung unter Präsident Nicolas Sarkozy in den kommenden vier Jahren verfügen wird: Kann sie autoritär regieren und »reformieren«, weil ihr der Autoritätsbeweis und vor allem der Nachweis der Aussichtslosigkeit, ja »Sinnlosigkeit« sozialen Widerstands geglückt ist? Kann sie damit sozialen Widerstand gegen ihre Pläne schon im Keim ersticken, die Gewerkschaften in die Defensive drängen, soziale Proteste von vornherein entmutigen? Oder wird ihr Reformeifer gebremst, was dazu führen könnte, dass sich auch an anderen Reibungsflächen gesellschaftliche Bewegungen herausbilden und neuen Mut gegen den konservativen Block fassen?

Sarkozy hat die von ihm geplanten Einschnitte bereits in seinem Wahlkampf angekündigt, und viele haben ihn – fasziniert vom harten Mann, »der die Wahrheit sagt« – gerade deswegen gewählt. Hinzu kommt, dass die regierenden Konservativen bereits massive Verschlechterungen bei den Renten und der Lebensarbeitszeit durchsetzen konnten: 1993 für die privat Beschäftigten, 2003 im öffentlichen Dienst. Die Beschäftigten bestimmter öffentlicher Unternehmen wie der Eisenbahn sind dabei, die »letzte Bastion«, die noch nicht geschleift worden ist. Sarkozy glaubt deshalb, die öffentliche Meinung sei reif dafür, nun auch diese letzten Bastionen anzugreifen. Alles andere sei ungerecht, und die Konservativen zögern auch nicht, auf eine heftige Sozialneidkampagne zu setzen: Die Streikenden seien »Privilegierte« und »Egoisten«, die an überkommenen Besitzständen festhielten und damit die »Modernisierung Frankreichs« und seine Wettbewerbsfähigkeit gefährdeten. Und warum sollten sie es denn besser haben als andere Lohnabhängige?

Unter solchen Slogans gingen am vorigen Sonntag in Paris erstmals rund 7 000 bis 8 000 Personen gegen die Transportstreiks auf die Straße und skandierten »Die Züge auf die Schienen, die Eisenbahner an die Arbeit!« Das war noch nicht die Massenmobilisierung von rechts, von der man in Teilen der konservativen UMP zu träumen begonnen hat. Rund anderthalb Millionen Flugblätter »für die Reform« ließ die Regierungspartei Ende vergangener Woche verteilen, vor allem unter den – zum Teil über die streikbedingten Wartezeiten aufgebrachten – Passagieren in den Bahnhöfen. Die Idee einer Großdemonstration wurde dagegen bislang noch verworfen oder jedenfalls aufgeschoben.

Diese Umklammerung durch Medienpropaganda und konservative Sozialneidkampagnen könnten die Transportbediensteten aufbrechen, wenn ihnen der Brückenschlag zu anderen Bereichen gelänge. Dies hat mit den Studierenden begonnen. Eisenbahner und Universitätsangehörige besuchen gegenseitig ihre Streikversammlungen, die studentische Streikkoordination rief für den ersten Tag des Transportstreiks zu Gleisblockaden in den Bahnhöfen auf.

Eine breitere Bewegung könnte sich bilden, wenn am Dienstag auch alle sonstigen Sektoren des öffentlichen Diensts in einen seit längerem geplanten 24stündigen Streik treten. Lehrer, Krankenschwestern oder Kommunalbedienstete protestierten gegen sinkende Kaufkraft und den geplanten Stellenkahlschlag. Die Regierung will erklärtermaßen über Jahre hinaus jeden zweiten altersbedingten Abgang nicht ersetzen. Das bedeutet jährlich Zehntausende Arbeitsstellen weniger.

Die studentische Protestkoordination ruft ihrerseits für Donnerstag dieser Woche erneut zu Demonstrationen von Studierenden und Oberschülern auf. Für die kommende Woche schlägt sie einen neuen, gemeinsamen Mobilisierungstermin vor mit den Sektoren, die sich derzeit »im Kampf befinden«.

Die Regierung hat sich bemüht, dass ihr in der Öffentlichkeit nicht der Schwarze Peter für eine Verschärfung des sozialen Konflikts in den Transportbetrieben zugeschoben wird. Nachdem die Führung der CGT, des größten französischen Gewerkschaftsbunds, am Vorabend des Streikbeginns das Einlenken in einem zentralen Punkt signalisiert hatte, beeilte sich Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand, großzügig »einen Monat für Verhandlungen« einzuräumen. Die Führung der CGT unter ihrem Generalsekretär Bernard Thibault hatte zuvor nicht mehr auf direkten Verhandlungen mit der Regierung beharrt und sich bereit erklärt, mit den einzelnen öffentlichen Unternehmen, die vom Ausstand betroffen sind, zu verhandeln. Das bedeutet aber im Grunde, dass der Gewerkschaftsdachverband bereit ist, die Grundzüge der Reform zu akzeptieren und nur noch über Ausnahmeregelungen oder Umsetzungsmodalitäten zu reden.

Das wiederum entspricht der Position der rechtssozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT. Diese scherte allerdings bereits am Freitag offen aus der Streikbewegung aus und rief zur Wiederaufnahme der Arbeit auf. Nicht so die CGT. Ihre Leitung setzt auf eine »mittlere« Taktik, zwischen der Forderung nach vollständiger Rücknahme der Reform – die sie für illusorisch hält – und einer Akzeptanz ihrer Kernsätze bei gleichzeitiger Korrektur einzelner Details.

Ein Großteil der CGT-Basis sowie die linke Basisgewerkschaft Sud Rail, die unter den Eisenbahnern die zweitstärkste Gewerkschaft ist und eine wichtige Rolle in der Streikbewegung spielt, lehnen dagegen die Reform rundheraus ab. Das Problem einer eventuellen sozialen Ungerechtigkeit, die aus der früheren Rentenberechtigung etwa der Eisenbahner resultieren könnte, lösen sie durch die Forderung »37,5 Beitragsjahre für alle«. Auf diese Weise ließe sich eine Angleichung »nach oben«, hin zu besseren Bedingungen für alle, bewerkstelligen. Diese Position ist inhaltlich zweifellos richtig, allerdings ist im Moment »real­politisch« nur schwer vorstellbar, dass die Regierung von dem Kernsatz der Reform – der Verlängerung der Lebensarbeitszeit nun auch für die Lohnabhängigen in den »letzten Bastionen« – ablässt und an diesem entscheidenden Punkt nachgibt.

Am vergangenen Wochenende verschärfte der konservative Block den Ton. Präsident Nicolas Sarkozy und sein Premierminister François Fillon forderten, bevor die Verhandlungen beginnen könnten, müsse erst der Streik aufhören. Dadurch versuchten sie, der CGT ihr stärkstes Druckmittel aus der Hand zu nehmen. Fillon tönte, man werde nicht »mit einer Pistole an der Schläfe verhandeln«. Mit diesen Worten versucht er freilich nur zu verschleiern, dass die andere Seite längst einen Revolver an der Schläfe hat. Die Regierung hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass sie im Falle eines Misserfolgs oder ausbleibenden Fortschritts am Verhandlungstisch – der sich innerhalb eines Monats einstellen soll – die von ihr bereits ausgearbeiteten Dekrete erlassen wird.

Am Wochenende steckten die Vorverhandlungen darum in einer Sackgasse, ohne dass ihr Scheitern erklärt worden wäre – wie verlautete, blieb »der Kontakt aufrecht erhalten«. Am Sonntagabend wurde eine erste Gesprächsrunde mit den Gewerkschaften im Rahmen der Bahngesellschaft SNCF für den Mittwoch angekündigt. Also nachdem die soziale Bewegung und die Gewerkschaften im Laufe des Aktionstags vom Dienstag (nach Redaktionsschluss) ihre Mobilisierungsfähigkeit unter Beweis stellen konnten.