Alle Macht den Dekreten

Am Sonntag wird in Venezuela über eine Verfassungsreform abgestimmt. Auch Linke kritisieren, dass das Projekt autoritäre Vollmachten für die Regierung vorsieht. von wolf-dieter vogel, mexiko-stadt

Wer nicht dafür stimmt, ist ein »Feigling«, ein »De­serteur« oder ein »Verräter«. So zumindest nannte der venezolanische Präsident Hugo Chávez Abtrünnige aus den eigenen Reihen, die sich kritisch über die geplante Verfassungsreform äußern. Et­wa den General a.D. Raúl Isaías Baduel. Noch bis vor wenigen Monaten war der ehemalige Fallschirmspringer Außenminister von Venezuela, An­fang November hatte er das von Chávez initiierte Projekt als »Staatsstreich« bezeichnet. Die Verfassungsreform verleihe der Regierung eine unkontrollierbare Macht, erklärte Baduel, der lange Jahre zu den engsten Vertrauten des Staatschefs zählte.

Ähnlich äußerte sich Ismael García, der Vorsitzende der sozialdemokratischen Partei Podemos: »Die Reformen müssen von der Gesellschaft ausgehen, nicht vom Staat.« Die neun Podemos-Abgeordneten haben als einzige im fast ausschließlich von Chávez-Anhängern besetzten Kongress gegen den Verfassungsentwurf gestimmt, über den die Bevölkerung am Sonntag befinden soll.

Mit dem Referendum am 2. Dezember steht die so genannte bolivarische Revolution erneut auf dem Prüfstand: 69 der insgesamt 350 Artikel der Verfassung sollen modifiziert werden. Doch stärker als zuvor erheben Politiker und Organisationen, die dem linken Staatschef bislang freund­lich gesonnen waren, Einwände gegen die Reform. Das ist auf den ersten Blick verwunderlich, schließlich will Chávez sozialreformerischen und emanzipatorischen Regelungen Verfassungsrang geben. Männer und Frauen sollen in politisch repräsentativen paritätisch vertreten sein, die Diskriminie­rung wegen sexueller Orientierung soll verboten werden. Mit der Reform will die Regierung zudem eine soziale Absicherung für informell Arbeitende und eine maximale Arbeitszeit von 36 Wochen­stunden garantieren. Kooperativen sollen gefördert, Großgrundbesitz und Monopolbildung verboten werden.

Überzeugte Chavisten und ihre konservativen oder liberalen Gegner sind sich einig: Die neue Ver­fassung verwandelt Venezuela in einen sozialistischen Staat. Tatsächlich werden die Eigentumsver­hältnisse jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Künftig sollen aber neben privatem auch öf­fentliches und kollektives Eigentum sowie Misch­formen verfassungsrechtlich festgeschrieben wer­den.

Dass also Unternehmer, die katholische Kirche oder wohlhabende Studenten für ein »Nein zur Ver­fassungsreform« werben, ist naheliegend. Mit Leu­ten wie Baduel hat die bürgerliche Opposition nun aber unerwartete Unterstützung von links bekom­men, und während Chávez in den vergangenen Jahren bei solchen Machtproben immer deutlich vorne lag, versprechen Umfragen jetzt je nach po­litischer Couleur beiden Seiten einen knappen Sieg. Da Teile der Opposition zum Boykott, andere zur Teilnahme am Referendum aufrufen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass eine Mehrheit für die Reform zustandekommt.

Doch trotz der von vielen Linken positiv gewer­teten Aspekte des Projekts herrscht Skepsis. Mitte November hat das Menschenrechtsbündnis Forum für das Leben in einer Klage vor dem Obersten Gerichtshof beantragt, das Referendum auszu­setzen. Die 15 beteiligten Organisationen verweisen darauf, dass sie an der verfassunggebenden Versammlung von 1999 mitgearbeitet haben, die von der Chávez-Regierung gefördert wurde. Mit dem jetzigen Vorschlag würden jedoch damals fest­geschriebene Menschenrechte wieder abgebaut, sagt Carlos Ayala Corao, der Sprecher des Forums. Das Bündnis kritisiert die geplanten Not­standsgesetze, da mit ihnen die Informationsfrei­heit ausgehebelt werde. Außerdem seien keine zeitlichen Vorgaben über den Ausnahmezustand festgelegt, folglich könne dieser unendlich lange dauern. Auch werde dem Parlament die Möglichkeit genommen, ein entsprechendes Dekret wieder aufzuheben. Nur der Präsident kann den Not­stand ausrufen und auch wieder beenden.

Auf Kritik stößt auch das Konzept der »Volksmacht«. Diese entsteht, so das Reformpapier, »we­der durch Wählerstimmen noch durch ir­gend­eine Wahl, sondern aus den Bedingungen (condiciones) organisierter Gruppen aus der Bevölkerung«. Kom­munale Versammlungen und Räte sollen als Entscheidungsinstanz festgeschrie­ben und gestärkt werden. Doch was als basisdemo­kratischer Ansatz daherkommt, bringt eine Reihe von Gefahren mit sich. In den Versammlungen werde das Recht auf geheime, freie und individuelle Wahlen ausgehebelt, erklärt das Forum. Dies könne die Teilnehmer von Versammlungen dem Druck der dort dominierenden, von der Zentralregierung unterstützten bolivarischen Gruppen aussetzen. So werde mit den kommunalen Räten eine Instanz gestärkt, um von oben nach unten zu regieren. Marino Alvarado vom Menschenrechtsverband Provea verweist in diesem Zusammenhang auf die geplante Kommunalpolizei, die als »Staatspolizei« gegen alle vorgehen könnte, die nicht die Regierung unterstützen.

Alvarado, dessen Organisation den »bolivarischen Prozess« kritisch-solidarisch begleitet, sieht auch eine große Gefahr in der Politisierung der Armee. Während die Verfassung bisher vorsieht, dass das Militär keine politischen Aktivitäten aus­üben darf, sollen Soldaten künftig die »Sicherheit der Bürger« gewährleisten. Dass die Bolivarischen Streitkräfte dann die Nation »vor jedem äußeren und inneren Angriff« bewahren sollen, macht Ein­sätze gegen jegliche Dissidenz möglich. Oberster Befehlshaber der Armee ist natürlich der Präsident, ihm obliegt die Absetzung und Beförderung der Militärs.

Dass die Regierung per Dekret neue politisch-ter­ritoriale Einheiten bilden und deren Führung ernennen kann, steht ebenfalls im Widerspruch zu basisdemokratischen Ansätzen. Damit Chávez auch weiterhin seinen Weg zum »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« gehen kann, soll die Bestimmung, die dem Präsidenten nur zwei Amtsperioden gestattet, aufgehoben werden.

Nicht zufällig kritisieren linke Gegner des Verfassungsentwurfs die Machtkonzentration und klagen demokratische Regeln ein. Schon immer lag Chávez’ Stärke darin, mit einfachen Weltbildern und entsprechendem Vokabular die Unterklassen zu begeistern und damit seine Macht zu sichern. Er gefällt sich in der Rolle des hemdsärmeligen Machers, der von ganz oben direkt nach ganz unten spricht. Solange seine Botschaften und die Unterstützungsleistungen der Regierung dort ankommen, werden kommunale Räte und bolivarische Zirkel im Einklang mit ihrem ideellen Vater stehen. Wer jedoch anderer Meinung ist, hat wenig zu lachen. Nach Ansicht der linken Gegner wären es dann demokratische Regeln, die einem autoritären Vorgehen Grenzen setzen können.

In letzter Zeit ist es wiederholt zu Zerwürfnissen unter Befürwortern der bolivarischen Revolution gekommen. So haben einige Chavisten kritisiert, dass dem oppositionellen Privatsender RCTV die Lizenz nicht verlängert wurde. Auf Kritik stößt auch das Vorhaben von Chávez, eine »Verein­te Sozialistische Partei Venezuelas« zu gründen. Die Podemos, die Kommunistische Partei und der linke PPT weigern sich, in der Einheitspartei aufzugehen. Sie alle sprechen sich jedoch nicht grund­sätzlich gegen die Verfassungsreform aus. Der Podemos-Vorsitzende García verweist auf Fehler und fordert, dass der erst im August vorgestellte Entwurf länger in der Bevölkerung diskutiert werden müsse. Die Antwort war deutlich. »Für Mehrdeutigkeiten haben wir jetzt keine Zeit«, gab der chavistische Parlamentarier Mario Isea zu verstehen. »Entweder man ist für die Volksmacht, oder man ist gegen sie.«