Der Zug ist abgefahren

Frankreich eine Woche im Ausstand. Das bedeutete nicht nur Merguez-Würstchen und gute Stimmung. Ein Blick hinter die Kulissen des Streiks. von tilman vogt, paris

Bei den Protesten bietet sich fast immer das­selbe Bild: Nach Gewerkschaften gruppiert, stellen sich die einzelnen Belegschaften hinterein­ander auf, aus unzähligen Lautsprecherwagen dröhnen Pop-Songs, die die Menge befeuern. Manchmal wird die Musik durch Einpeitscher unterbrochen, deren Geschrei selbst die Hi-Tech-Musikanlagen bisweilen überfordert: »Sarkozy, wenn du wüsstest, wohin wir uns deine Reform stecken … » Nur hin und wieder, wenn der Ansager mit gesenkter Stim­me mitteilt, dass am Wagen der Gewerkschaft nette junge Damen Sandwichs verteilen und man die vor der Demo ausgeteilten Fahnen im Anschluss wieder dorthin zurückgeben solle, ist für die Lautsprecherboxen etwas Entspannung angesagt. Bald muss der Agitator aber wieder alles geben, weil die Demons­tran­ten nun aktiv werden dürfen: Böller und bengalische Feuer werden gezündet, die Demonstration versinkt über weite Strecken in dichten Nebelschwaden. So bleibt einem fast nichts anderes übrig, als blindlings hinter den Lautsprecherwagen der Gewerkschaft herzutrotten. Sensible Nasen können sich auch an dem obligatorischen Merguez-Bräter am Ort der Abschlusskundgebung orientieren.

Am Ende der Demo laufen mit einigem Abstand die Studenten, die als einzige selbst gemalte Pla­kate dabei haben. Sie rufen: »Schüler, Studenten, Lohnabhängige, alle zusammen zum Generalstreik!« Der Funke will nicht so recht überspringen. Die vor ihnen gehenden Bahnangestellten der KP-nahen Gewerkschaft CGT zumindest fühlen sich nicht angesprochen und blasen lieber in ihre Trillerpfeifen. Anstatt über neue Bündnisse denken sie vielleicht über die immer offener zu Tage tretenden Brüche nach, die sich innerhalb ihrer eigenen Gewerkschaft auftun. Seit CGT-Generalsekretär Bernard Thibault pünktlich zum Beginn des unbefristeten Streiks bei Métro und Bahn am 13. November vorschlagen hat, alle Rentenregelungen nach Berufssparten getrennt über die Dauer eines Monats zu verhandeln, rumort es an der Basis.

Viele in den Belegschaften, die fast täglich aufs Neue in Vollversammlungen über die Fortführung des Streiks abstimmen, haben Angst, dass die Gewerkschaftsführung über ihre Köpfe hinweg verhandelt. »Lassen wir uns nicht spalten, aber auch nicht von den schon feststehenden Plänen der CGT überrumpeln«, warnt ein Lokfüh­rer bei einer Versammlung an der Gare d’Auster­litz. Schnell greift sich ein CGT-Gewerkschafter das Mikrofon und versucht zu beschwichtigen: »Jeder Verhandlungsschritt wird bei uns in der Vollversammlung abgestimmt werden.« Dass dies in dem vorgeschlagenen Verhandlungszeitraum von einem Monat wohl unmöglich sein wird, ist trotzdem allen klar.

Bereits während des ersten Warnstreiks am 18. Oktober hatten die CGT und andere Gewerkschaften dafür plädiert, den Ausstand auf einen Tag zu begrenzen, um danach – wie später bei jeder Gelegenheit – zufrieden zu verkünden: »Jetzt ist die Regierung am Zug.«

Dass sich die Gewerkschaftsführungen zu diesem Zeitpunkt nicht gegen den Streik aussprechen, liegt auch an der Konkurrenz mit der sich radikal gebenden Basisgewerkschaft Sud. Sie hat es mittlerweile zur zweitstärksten Arbeitervertretung innerhalb der Bahngesellschaft SNCF gebracht hat; das erzeugt bei der CGT eine gewisse Angst vor Mitgliederschwund. Auch als nach ein paar Tagen die Streikbeteiligung langsam zurückzugehen beginnt, wachsen bei den Aktivisten, die dabei bleiben, Entschlossenheit und Wut. Auf den Vollversammlungen wird mit großer Mehrheit für die Fortführung des Streiks gestimmt.

In der ehrwürdigen Bourse de Travail trifft sich die Lehrersektion von Sud, um den am folgenden Wochenende anstehenden nationalen Streiktag der Staatsbediensteten vorzubereiten. Hier träumen alle von einem Generalstreik, sind aber angesichts des ablehnenden Klimas in der Bevölkerung und dem Dünkel gewisser Kollegen recht hoffnungslos. Élisabeth David von der Lehrergewerkschaft Unsa etwa unterstrich angesichts der Gleichzeitigkeit der sozialen Bewegungen nonchalant, dass der Unterschied zwischen Kopf- und Handarbeitern beizubehalten sei: »Es steht außer Diskussion, dass sich die beiden Bewegungen vermischen. Wir zielen auf eine eigene Mobilisierung, damit wir gehört werden.«

Bertrand, ein bei der Sud organisierter Lehrer, erhofft sich hingegen ein Zusammenkommen aller sozialen Gruppen. Er macht dabei unfreiwillig deutlich, wie kompliziert dieses Unterfangen ist: »Wenn die Transportarbeiter noch bis zum Samstag durchhalten, macht es keinen Sinn, wenn sich die Beamten nur auf diesen Tag konzentrieren und danach alles wieder zusammenbricht. Und wenn die Mobilisierung der Eisenbah­ner ins Stocken gerät und bis dahin aufgerieben ist, wird der Aktionstag der Beamten eh nur ein isoliertes Symbol sein.« Am Abend beschließen die rund 30 versammelten Lehrer, schon einige Tage vor dem nationalen Aktionstag in den Streik zu treten, um die Bewegungen miteinander zu verflechten. Bevor der Aufruf dafür ausformuliert wird, berichtet Stéphane, ein Student der Pariser Universität Tolbiac, von den dortigen Problemen bei der Vernetzung der Kämpfe. »Wir als Studierende können nicht einfach zu den Arbeitern und Angestellten gehen und sagen, schließt euch unserem Protest an. Wir verlieren kein Geld, wenn wir streiken.«

Tolbiac gehört zu den vielen Hochschulen im Land, die zwei Wochen lang besetzt waren und von der Polizei geräumt wurden. Im Gegensatz zu den Protesten gegen den Ersteinstellungsvertrag CPE im Jahr 2006 steht die überwiegende Mehrzahl der Uni-Präsidenten jetzt hinter dem Regierungsprojekt, dem LRU-Gesetz zur Privatisierung der Universitäten. Doch auch das gesellschaftliche Umfeld hat sich eklatant gewandelt. Wie gravierend Polarisierung und Entsolidarisierung innerhalb der Studentenschaft sind, wird bei der Räumung des Fachbereichs Jura-Wirt­schafts­wissenschaften durch eine Spezialeinheit der Polizei sichtbar. Der Schlagstockeinsatz gegen ihre Kommilitonen wird von einem Mob johlender studentischer Streikgegner begleitet, der die Polizisten mit »Allez, les bleus« und der Marseillaise anfeuert. Danach halten die aus der Geiselhaft des Nichtstudierens befreiten Juristen eine Triumphveranstaltung ab, in der eine Erstsemesterin mit dem schönen Namen Marie-Astrid de Montmarin wohl den Auftritt ihres Lebens hat. »Stoppen wir die Tyrannei der Minderheit, die uns am Arbeiten hindern will!« ruft sie beschwingt in die Menge. Und berauscht vom aufbrandenden Applaus legt sie noch einmal nach und unterstreicht ihre Unverzichtbarkeit: »Ich stehe regelmäßig telefonisch in Kontakt mit der Leiterin des Büros der (Bildungs-)Ministerin.«

Die alerte Adelige mit den Networking-Qualitäten ist mittlerweile zum Anti-Star bei den Studen­ten avanciert, die nicht so viel von der Zukunft zu erwarten haben. Die Universität Paris 8 in der Banlieue Saint Denis gehört zu den Hochschulen, die nach dem LRU-Gesetz mit einer Abwertung der Abschlüsse zu kämpfen haben werden. Das Gebäude der Universität gleicht einer Mischung aus Knast und Tiefgarage; bis auf einen Eingang ist es vollkommen von einem hohen Stahlzaun umschlossen. Im Gegensatz zu den an­gesehenen Unis im Quartier Latin hat hier rund die Hälfte der Studenten einen so genannten Migrationshintergrund, ebenso viele wohnen nicht im Stadtkern von Paris.

Schon seit Anfang des Semesters kam es hier zu »Vollversammlungen«, an denen jedoch nur jeweils rund 30 Studenten teilnahmen. Kaum hat das kleine Forum, das Wert darauf legt, unabhängig von Parteien und Gewerkschaften zu sein, etwas putschistisch den Streik beschlossen, platzt der größte – über und über mit Graffiti verzierte – Vorlesungssaal bei der nächsten Vollversammlung allerdings plötzlich aus allen Nähten. Neben den üblichen Debatten um Besetzung und Blockade erhitzt die Studentengewerkschaft Unef am meisten die Gemüter. Die sozialdemokra­tische Organisation hatte im Juli zusammen mit der Bildungsministerin das LRU-Gesetz ausgearbeitet; nun muss sie mit ansehen, wie sich eine Bewegung jenseits ihres Einflussbereichs bildet.

Die Unef-Vertreterin wird ausgebuht, obwohl sie leidlich versucht, sich von der Ministerin zu distanzieren: »Wenn wir gewusst hätten, dass das Bildungsbudget so gestaffelt ist, hätten wir nicht zugestimmt.« Gegen das LRU-Gesetz als solches ist sie nicht. Ein Student will festgestellt wissen, dass er sich nicht von der Gewerkschaft repräsentiert fühlt, und er tritt für die Abschaffung des LRU ein, ohne Verhandlungen. Die Vollversammlung folgt ihm mit ihrem Votum in beiden Punkten. Ein in der Kommunistischen Partei organisierter Student fordert, die Vollversammlung nur für eingeschriebene Studenten zu öffnen; genau das macht der Präsident von Tolbiac bereits, der am Eingang seiner Universität die Studentenausweise von einem Sicherheitsdienst kontrollieren lässt. Der Aufschrei in der Versamm­lung ist groß. Wie als Reaktion darauf werden An­wohner, Arbeiter, Arbeitslose und Sans-Papiers explizit eingeladen.

Auch wenn wegen allgemeinen Desinteresses und auch wegen des Transportstreiks viele Studenten während der Besetzung gar nicht zur Universität kommen, stellt sich in den trostlosen Betonkästen zum ersten Mal etwas Wohnlichkeit mit einem Schuss unvermeidlichen Hippietums ein. Es wird geklampft, Köfte gebraten, man zeigt Filme über den Mai 68 und die Fabrikkämpfe bei Alstom vor zwei Jahren.

Der erfolgreiche Kampf gegen den CPE ist ein ständiger Bezugspunkt der Bewegung. Obwohl die Gleichzeitigkeit mit den anderen Streiks allerorten begrüßt wird, scheint sie das Erfolgsrezept der CPE-Proteste, nämlich die materielle Schä­digung durch Blockaden von Bahnhöfen, Kreuzungen und Postämtern, eher zu verhindern. So wollen die Studenten etwa »den Eisenbahnern« nicht ungefragt in ihr Streikkonzept hineinpfuschen. Die Hochachtung, die sie vor den Betriebs­gewerkschaften haben, wird von diesen nicht gerade erwidert. Der zu einer Vollversammlung an die Uni eingeladene Vertreter der CGT berichtet beschwörend von vermeintlichen bislang errungenen Erfolgen, auch sei die Unterstützung des Arbeitskampfs durch die Studenten immer willkommen. Auf die Forderung nach einer wirklichen Verknüpfung der Kämpfe reagiert er aber distanziert, fast irritiert; er flüchtet sich in das, was er offenbar als einzigen gemeinsamen Nenner sieht: für die Erhöhung der Kaufkraft, gegen den Neoliberalismus.

Als am 21. November die Verhandlungen bei den Transportbetrieben beginnen, findet vor der Zentrale der SNCF eine Protestkundgebung von Bahnarbeitern statt. Aber sie wirkt eher wie eine Beerdigung. Es finden sich nur rund 100 Arbeiter ein, die CGT hat derweil zur Beendigung des Streiks aufgerufen. Die, die trotzdem kommen, sind verbittert und vor allem eines: wütend. Am offenen Mikrofon machen sie sich Luft. Was einer sagt, erinnert ironischerweise an die Töne, die bis vor kurzem noch die Gewerkschaften angestimmt haben: »Den Verhandlungsablauf, den die CGT erwirkt hat, steck’ ich mir in den Arsch; egal was entschieden wird, ich werde morgen streiken!« Ein anderer Eisenbahner flucht auf die Hilflosigkeit und zeigt Verständnis für die Jugendlichen in den Banlieues, die ihre Quartiere 2005 mit Krawall überzogen hatten. Als am Tag nach Verhandlungsbeginn auf vielen Vollversammlungen der Streik für beendet erklärt wird, haben einige Aktivisten Tränen in den Augen. Einer von ihnen versteht die Welt nicht mehr: »Ich verstehe die Strategie der Gewerkschaften einfach nicht. Wenn es nur darum gegangen ist, zu Verhandlungen zu kommen, warum hat man dann nicht früher aufgehört? Das hätte ich wenigstens verstanden, auch wenn ich dagegen gewesen wäre. Die CGT hat von Anfang an ein falsches Spiel gespielt.«