Partei sucht Mitte

Dass der CDU ein »Linksrutsch« bescheinigt wird, weil Rüttgers an die »Soziale Marktwirtschaft« erinnerte, ist so absurd wie aufschlussreich. von richard gebhardt

Eigentlich könnte für die CDU die Welt in Ordnung sein. Wenige Tage vor dem Beginn ihres Bundesparteitags in Hannover steht die Kanzlerin Angela Merkel in den Umfragen bestens da. Die Union würde nach einer aktuellen Forsa-Umfrage 40 Prozent der Wählerstimmen erhalten und läge damit 16 Punkte vor der SPD.

In den Räumen der Messe Hannover will die CDU Anfang Dezember das dritte Grundsatzprogramm in ihrer 60jährigen Geschichte beschließen. Jene neuen »Grundsätze für Deutschland« sollen nach den Worten Merkels der »inhaltliche Kompass« sein, der auch den Landesverbänden von Hessen, Niedersachsen und Hamburg die Richtung für die Landtags- und Bürgerschaftswahlen im nächsten Jahr vorgibt.

Doch ausgerechnet vor dem Parteitag zeigen sich deutlich die Konflikte im konservativen Lager, sogar von einem »Linksrutsch« der Union ist die Rede. Die CDU, die mit ihrer brachialen Ruck- und Reformrhetorik seit dem Leipziger Parteitag 2003 zeitweise selbst Guido Westerwelle wie einen verweichlichten Sozialarbeiter aussehen ließ, trägt noch an den Folgen der nur knapp gewonnenen Bundestagswahl vom September 2005. Lediglich ein Prozent betrug damals der Abstand zwischen der Union und der SPD. Die Wahlverluste, die aus der unverschämt angekündigten »Politik der Zumutungen« resultierten, beschäftigen nach wie vor die Partei, von der Basis bis zu ihren Repräsentanten.

Zudem ist die Politik der Großen Koalition, von der Anhebung des Rentenalters auf 67 bis hin zur Reduzierung der Pendlerpauschale, in den eigenen Reihen umstritten. Eine »radikale Reformpolitik« stoße in Deutschland auf Widerstand, beschwerte sich Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. »Wer da zu schnell verändern will, kriegt eins auf die Nuss und erreicht gar nichts«, sagte er dem Magazin Capital. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers, der zahlreiche enttäuschte Stammwähler der SPD an sich binden konnte, gefällt sich in seiner Rolle als Anwalt der Geknechteten. Er wolle »allen Mut machen, die angesichts eines um sich greifenden Raubtierkapitalismus den Glauben an die Stärke unserer Sozialen Marktwirtschaft zu verlieren drohen«, sagte er Mitte September bei der Vorstellung seines Buchs »Die Marktwirtschaft muss sozial bleiben«. Nur wenige prominente Angehörige des wirtschaftsliberalen Flügels der Union vertreten offensiv das Gegenteil von Rüttgers’ Sozialstaatsversprechen. »Wir sollten uns vor dem Glauben hüten, dass die Krise überwunden ist«, sagte der hessische Ministerpräsident Roland Koch und meinte damit, dass noch weiter »reformiert« werden müsse.

Die Meinungen ihrer Mitglieder spiegeln die Kontroversen in der Partei wider. Ein Drittel der Mitglieder (34 Prozent) ist nach einer vom Stern in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage der Meinung, die CDU habe in der Großen Koalition »christdemokratische Prinzipien« verraten. 19 Prozent haben in den vergangenen Monaten sogar erwogen, die Partei zu verlassen.

Was in den konkurrierenden Meinungen von Rüttgers und Koch sowie im Murren der Mitglieder zum Ausdruck kommt, ist jedoch kein Indiz für eine tiefgehende Identitätskrise der CDU unter den Bedingungen einer Großen Koalition. Wie alle konservativen Parteien ist sie es gewohnt, ihren Wertekanon stets den gesellschaftlichen Veränderungen anzupassen. Im Gegensatz zur Linken, deren verheißungsvolle Programme sich allzu oft an der renitenten Realität blamieren, ordnen Konservative ihre politischen Wunschvorstellungen leichter den Erfordernissen der Macht unter. Die Opposition ist für die Linke ein historisch vertrauter Ort, für Konservative in der Bundesrepublik hingegen ist eine Linksregierung bloß eine Laune der irregeleiteten Öffentlichkeit, ein Interregnum vor dem Machtantritt des nächsten ewigen Kanzlers.

Die CDU, die sich in Hannover als »Volkspartei der Mitte« profilieren will, bot in der Programmdiskussion den christlich-sozialen Verteidigern des rheinischen Kapitalismus ebenso ein Forum wie den Wirtschaftsliberalen oder den rechtskonservativen Fürsprechern einer neuen »geistig-moralischen Wende«. Dass die Wirtschaftsliberalen derzeit zurückhaltender sind und »Jamaika« als Alternative zur Großen Koalition jenseits des bürgerlichen Bündnisses mit der FDP ins Gespräch gekommen ist, gab nicht nur in der CSU Anlass zur Sorge vor einem »Linksrutsch« in der Schwesterpartei.

Dass von einer »Sozialdemokratisierung der Union« nicht ernsthaft die Rede sein kann, zeigt die wirtschaftsliberale Hegemonie in der veröffentlichten Meinung. Lediglich dort, wo die eklatantesten Zumutungen der Agenda-Politik zur endgültigen Abkehr von den beiden Volksparteien führen könnten, wurden leichte Modifizierungen im ursprünglichen Programm vorgenommen, etwa die verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Die Meinung der Kanzlerin in der Auseinandersetzung über Mindestlöhne bei den privaten Postzustellern war dagegen ein Musterbeispiel für Klientel- und Klassenpolitik von oben. Wo soll die ominöse, nicht nur von der Financial Times Deutschland entdeckte »CDU-Linke« gewesen sein, als in den Programmentwurf die Forderungen aufgenommen wurden, den »Kündigungsschutz flexibler« zu gestalten und ein »grundsätzliches Neuverschuldungsverbot« einzuführen? Als wolle er seine eigene Warnung ignorieren, schlug Wolfgang Schäuble jüngst eine deutliche Verlängerung der Lebensarbeitszeit vor.

Der erzkonservative Flügel der Union jubilierte über die Aufnahme der Reizvokabel »Leitkultur« in das Grundsatzprogramm. Ansonsten bleibt es auffallend ruhig am rechten Rand. Die Posse um die Würdigung des NS-Juristen Filbinger und die leichte Blamage des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger ist in diesen Kreisen noch in schlechter Erinnerung.

Die Jungkonservativen um den bayerischen Staatsminister für Bundes- und Europa-Angelegenheiten, Markus Söder, und den Vorsitzenden der Jungen Union, Philipp Mißfelder, legten zwar im September ein Papier zum »modernen bürgerlichen Konservatismus« vor. Doch trotz aller Feuilletondebatten über einen deutschen Neokonservatismus wurden dem Plädoyer für eine Rückkehr zu den Wurzeln der abendländisch-christlichen Tradition nur wenige Zeilen in den großen bürgerlichen Blättern gewidmet. Exponierte rechtskonservative Gesellschaftskritik mit großer Medienwirkung gibt es derzeit nur außerhalb der Partei: bei katholischen Erzbischöfen, die ungestört von Frauenwahlrecht oder Minderheitenquoten jeglichen gesellschaftlichen Pluralismus ignorieren können.

Die Rede vom »Linksrutsch« auch in der Union zeigt, wie gekonnt die Partei unter Merkel von den Kita-Plätzen bis zum Klimaschutz durch die mehr­heitsfähigen Themen zappt und dabei mitunter ihre traditionskonservative Klientel irritiert. Meist gilt bloße Rhetorik als Beleg für eine sozialpolitische Neuorientierung der Union. In der Großen Koalition feiert sie einen gewöhnlichen konjunkturellen Aufschwung und bejubelt den Rückgang der Arbeitslosigkeit anhand einer Statistik, die u.a. um Ein-Euro-Jobber, ABM-Beschäftigte und Teilnehmer an so genannten Förderungsmaßnamen bereinigt wurde. In ihrem neuen Grundsatzprogramm fordert die Union den »Einsatz der Bundeswehr im Innern« und einen geradezu grotesken Ausbau der Kontrolle des öffentlichen Lebens. Dass sie trotzdem die Grundwerte »Freiheit, Solidarität, Gerechtigkeit« für sich reklamieren kann und der Linksabweichung verdächtigt wird, sagt weniger über sie selbst aus als über »die Mitte« der Gesellschaft.