Am Anfang war der VS

Der Bundesgerichtshof hat entschieden, die »Militante Gruppe« als kriminelle, nicht aber als terroristische Vereinigung einzustufen. Zwar sind die Gefangenen vorläufig draußen, doch die Bundesanwaltschaft darf weiter ermitteln. von christoph villinger

Wenn man daran gewöhnt ist, jedes Fußballspiel mit 3:0 zu verlieren, empfindet man eine Niederlage von 2:1 schon als halben Sieg. Vorige Woche verkündete der 3. Strafsenat am Bundesgerichtshof (BGH) seine Entscheidung zur Haftbeschwerde von drei Berlinern. Axel H., Florian L. und Oliver R. saßen seit Ende Juli in Untersuchungshaft. Ihnen wurde von der Bundesanwaltschaft (BAW) neben dem Versuch drei LKW der Bundeswehr in Brandenburg in Brand zu setzen, die Mitgliedschaft in der als »terroristische Vereinigung« betrachteten »Militanten Gruppe« vorgeworfen. In seiner Entscheidung stufte der BGH die »terroristische« zu einer »kriminellen Vereinigung« herab und setzte die Haftbefehle gegen je 30 000 Euro Kaution sowie Meldeauflagen außer Vollzug.

So sehr sich die drei auch freuen können, nach vier Monaten in Untersuchungshaft wieder den Berliner Nieselregen genießen zu dürfen, man sollte den allgemein als »Grundsatzentscheidung« wahrgenommenen Beschluss des BGH genauer lesen. Einen Haftbefehl »aussetzen« heißt eben nicht, einen Haftbefehl »aufheben«, wie es der gleiche Strafsenat vor wenigen Wochen im Fall Andrej Holms tat. Und spätestens wenn es um die Kosten des Verfahrens geht, wird deutlich, wer »gewonnen« hat: »Der Beschuldigte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen; jedoch wird die Gebühr um ein Drittel ermäßigt«, heißt es in dem 21seitigen Papier.

Anders als von vielen erhofft, die sich in den vergangenen Monaten an der öffentlichen Debatte um Fahndungsmethoden und den Ermittlungsparagrafen 129a beteiligten, wird der BAW weder im konkreten Fall noch grundsätzlich die Zuständigkeit für die Ermittlungen bei Brandanschlägen aus der linken Szene entzogen. Solche Taten kann die BAW weiterhin als »Staatsschutzdelikte von besonderem Gewicht« ansehen und sich für zuständig erklären. Wie schon im Beschluss zu Andrej Holm verlangt der BGH nur dort strengere Kriterien, wo es nicht um Ermittlungen, sondern um Haftbefehle geht.

Seitenlang beschäftigt sich der BGH in seinem Beschluss mit der Entstehungsgeschichte der Neu­fassung des Paragrafen 129a im Jahr 2002 und der Frage, wie eine »Einschüchterung der Bevölkerung« zu interpretieren sei. Beispielhaft spielt er dies am konkreten Fall der »Militanten Gruppe« durch. »Weder der Auswahl der bisherigen Anschlagsobjekte, der Zahl der Anschläge noch der Art ihrer Ausführung und den durch sie verursachten Schäden kann entnommen werden, dass die Gruppierung mit den von ihr begangenen oder beabsichtigten Straftaten etwa die Einschüchterung (…) erheblicher Teile der Bevölkerung bezweckt oder eine Behörde oder internationale Organisation nötigen will.« Deshalb handle es sich um keine »terroristische Vereinigung«.

Gleichzeitig bejaht aber der BGH den »dringenden Verdacht« gegen die drei Beschuldigten, Mitglieder der »Militanten Gruppe« zu sein. Das wird damit begründet, dass die Ermittler in der Wohnung eines der Festgenommenen »den Entwurf eines Positionspapiers« der »Militanten Gruppe« gefunden hätten, in der eines anderen »leere, noch nach Kraftstoff riechende Benzinkanister« sowie »einen Kassenbon über den Erwerb sonstiger Utensilien«, die beim versuchten Anschlag Ende Juli benutzt worden sein sollen. Zudem wollen die Fahnder auf einem Computer Digitalfotos von »Ausspähaktionen« gegen Autohäuser der Firma Mercedes entdeckt haben.

Olaf Franke, der Verteidiger von Oliver R., äußerte seinen Verdacht, dass »Informationen des Verfassungsschutzes (VS) in die Akten eingeflossen sind«. Auch könne der VS über Informationen verfügen, die nicht in den Ermittlungsakten zu finden seien. Vorstellbar ist, dass die Festplatten der Beschuldigten schon Monate vor der Festnahme von Geheimdiensten ausgespäht wurden.

Denn wie ein solches Ermittlungsverfahren nach Paragraf 129a abläuft, haben kürzlich Betroffene der Durchsuchungen im Vorfeld des G8-Gipfels öffentlich gemacht. Zur Erinnerung: Anfang Mai dieses Jahres durchsuchten BAW und BKA die Wohnungen und Arbeitsstätten von 18 Menschen wegen der »militanten Kampagne gegen G8«. Vorgeworfen wurden ihnen diverse Brandanschläge im Raum Berlin und Hamburg in den Jahren 2005 bis 2007.

Unter dem Titel »Was nicht passt, wird passend gemacht« bereiten sie im Internet (http://autox.nadir.org/buch/akten.html) auf 65 Seiten den ihnen zur Verfügung stehenden »Auszug« aus den Ermittlungsakten auf.

Am Anfang des Verfahrens stand das Bundesamt für Verfassungsschutz. In den Jahren 2002 und 2003 verfolgte es akribisch die Entstehung des Buchs »Autonome in Bewegung« mittels Telefonüberwachung und bemühte sich, die Autoren einzelner Texte zu identifizieren. Diese beschuldigte später die BAW, das Gehirn der »terroristischen Vereinigung« zu sein. Dem VS stehen längst alle Überwachungsmaßnahmen wie ­Online-Durch­suchung und Lauschangriff, die heu­te in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert werden, völlig legal zur Verfügung. Abgesehen von der »G10-Kommission« als Kontrollinstanz agiert der VS weitgehend nach eigenem Belieben.

Erst nach einem Brandanschlag auf den Wagen des Vorstandsvorsitzenden der Norddeutschen Affinerie im Jahr 2005 begann das offizielle Ermittlungsverfahren. Die Autoren der Aktenauswertung geben an, rund 45 Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) hätten die Ermittlungen übernommen. Allein zwischen Oktober 2006 und April 2007 gibt es rund 80 dokumentierte Observationen. Bei einem der Hauptbeschuldigten »werden von September 2006 bis März 2007 über 3 000 Telefonate und rund 1 300 Gespräche im Auto abgehört, sowie mehrere tausend E-Mails mitgelesen«. Insgesamt erscheinen in den Akten rund 950 Namen, darunter viele nicht »ermittlungsrelevante Personen« wie Eltern und Geschwister der Verdächtigen. Rund 120 Namen enthält beispielsweise der Bericht zur Berliner Videowerkstatt Autofocus. »Bei dieser Fleiß­arbeit fehlte nicht einmal der Name des Notars, der die Gründungsversammlung des Vereins 1989 beglaubigte.«

Besonders wundern sich die Autoren über die schlampige Arbeitsweise der Ermittler. »Da gibt es falsche Zitate, verwechselte Namen, verdrehte Zahlenangaben, falsche Zuordnungen von Meldeanschriften und Arbeitsverhältnissen.« Zum Beispiel stand das BKA Anfang Mai 2007 zur Durch­suchung bei einem der Beschuldigten in der Berliner Oranienstraße 1 »vor der Tür«. Dort befindet sich jedoch seit Jahr und Tag eine Baugrube, die mittlerweile als Biergarten genutzt wird.

Seit den Durchsuchungen ruht das Verfahren anscheinend. »Soweit die politische Absicht war, Menschen, die sich gegen den G8-Gipfel engagieren, einzuschüchtern, ist der Kuchen gegessen«, schreiben die Autoren in ihrer Einschätzung. Der Rest sei bürokratische Abwicklung. Um der BAW dabei ein wenig zur Hand zu gehen, haben die Autoren auf ihrer Internetseite bereits eine Einstellungsverfügung für den »April 2008« vorformuliert. Doch die Ermittlungsakten gehen ein in den Aktenbestand von BKA und Verfassungsschutz. Da es wohl nicht zum Prozess komme, »müssen Behauptungen nicht bewiesen, Verdächtigungen nicht begründet und Ermittlungsmethoden nicht gerechtfertigt werden«. Bildlich ausgedrückt: Um den Ausgleichstreffer zu verhindern, bauen BKA und VS einfach mitten im Spiel ihr Tor ab.