Konvent in der Kaserne

Die bolivianische Opposition will die Verabschiedung einer neuen Verfassung um jeden Preis verhindern. Präsident Morales versucht, mit einer Reihe von Referenden seine Reformpolitik zu legitimieren. von benjamin beutler

Ein Referendum soll nun die Entscheidung bringen. »Wenn die Leute sagen, dass ich gehen soll, habe ich kein Problem damit«, erklärte der bolivianische Präsident Evo Morales am Mittwoch der vergangenen Woche. Die Bevölkerung soll über seinen Verbleib im Amt abstimmen, allerdings forderte Morales auch die neun Gouverneure der Provinzen auf, sich einem Referendum zu stellen. Sechs von ihnen sind Gegner des Präsidenten. Der Vorschlag, über den das Parlament noch entscheiden muss, wurde von den Gouverneuren angenommen.

Morales hofft offenbar, auf diese Weise den Streit um die neue Verfassung und seine Reformpolitik entscheiden zu können. In den vergan­genen Wochen eskalierten die Auseinander­set­zun­gen. Als am 24. November in Sucre die 136 Wahlmänner und -frauen der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus (Mas) und neun kleinerer Parteien die wesentlichen Inhalte der neuen Verfassung verabschiedeten, blieben die konserva­tiven Oppositionellen der Veranstaltung de­mons­trativ fern. Abgestimmt wurde in der kleinen Militärkaserne La Glorieta in einem Vorort Sucres, zu unsicher war die Lage in der Innenstadt und dem bisherigen Tagungsort, dem Stadttheater Gran Mariscal Sucre, geworden.

Immer wieder hatten regierungsfeindliche capitalinos (Hauptstädter) vor allem indigene Vertre­ter des Mas in rassistischer Weise beleidigt, bespuckt, getreten und sogar durch die Straßen gejagt. Die capitalinos fordern, dass Sucre statt La Paz Hauptstadt werden müsse, ein Status, den Sucre in einem Bürgerkrieg 1899 verlor. Eine Behandlung des Themas lehnte der Verfassungskon­vent ab, ein geeigneter Vorwand war gefunden, um diesen in Protesten und einer Medienkampagne als »undemokratisch« zu diffamieren.

Die Vermittlungsversuche der Regierung scheiterten, die Opposition des ganzen Landes solidarisierte sich mit dem »stolzen Volk Chuquisacas« (des Departements, dessen Hauptstadt Sucre ist), wie es Branco Marincovich, der Vorsitzende des reaktionären Bürgerkomitees Pro Santa Cruz, ausdrückte. Vor allem Studenten der örtlichen juristischen Fakultät und angereiste Schlägertrupps der rassistischen Jugendunion Santa Cruz (JUC) waren für die Angriffe verantwortlich.

Sie versuchten am 24. November, ein Zusammen­treffen des Konvents zu verhindern. Bei einem Versuch, die Kaserne zu stürmen, kam es zu bewaffneten Kämpfen mit der Polizei und dem Mi­litär, auf Seiten der Protestierenden wurden min­destens drei Menschen getötet. Die Projektile stimmen nicht mit den von Militär und Polizei verwendeten Kalibern überein, Präsident Morales kündigte eine umfassende Untersuchung an, auch internationale Experten würden dabei um Mithilfe gebeten. Doch kam diese Nachricht bei vielen Bolivianern nicht an, die meisten privaten Medien meldeten sie nicht. In Sucre wurden staatliche Einrichtungen angezündet, der Flughafen wurde besetzt. Nachdem eine Polizeistation in Flammen aufgegangen war und über 100 Häft­linge aus dem Gefängnis entkommen waren, gab die Polizei die Stadt vorübergehend auf und flüchtete in die Nachbarstadt Potosí.

In der Kaserne hingegen wurde der neue Verfas­sungsentwurf verabschiedet. 138 der insgesamt 255 Wahlmänner waren anwesend, das notwendige Quorum war somit vorhanden. Die Opposition hält die Abstimmung dennoch für unrechtmäßig, es sei nicht mit der Zweidrittelmehrheit aller Wahlmänner entschieden und die Versamm­lung statt 72 Stunden nur 48 Stunden zuvor einberufen geworden. »Bis jetzt gibt es keine schlüssige Argumentation, die die Legitimität des Abstimmungsverlaufs wegen formaler Mängel in Frage stellt«, verteidigt dagegen Leticia Lorenzo vom Centro de Estudios sobre Justicia y Participación das Vorgehen. Die Opposition versuche le­diglich, den Verfassungsprozess zu blockieren.

Die neue Verfassung schreibt neue Rechte für die indigene Bevölkerungsmehrheit fest: Selbstverwaltung, Schutz und Förderung von Kultur und Sprache, traditionelle Rechtsprechung und Me­dizin sowie Mitsprache bei der Ausbeutung von Bodenschätzen. Sie enthält aber auch ethisch-moralische Prinzipien. Das Aymara-Motto: »Sei nicht faul, sei kein Lügner, sei kein Dieb« wurde wörtlich übernommen, ebenso die andinisch-indigenen Vorstellungen vom »Leben in Harmonie« und dem »Edlen Weg«.

In ökonomischer Hinsicht soll die neue Verfassung den Staat in seiner regulierenden Rolle stärken, die Privatisierung des Wassers, der Bodenschätze sowie des Gesundheits- und Bildungs­systems wird verboten. Die Verwaltung soll dezentralisiert und die so genannte partizipative Demokratie durch Einführung von Amtsenthebungsverfahren per Referendum gefördert werden. Ursprünglich sollte die Regelung aufgehoben werden, die eine Wiederwahl des Präsidenten nach einer Amtszeit untersagt, in diesem Punkt entschloss sich der Konvent jedoch, auf eine Änderung zu verzichten.

Der Verfassungsentwurf wurde »en gros« beschlossen, am Wochenende folgte die Abstimmung über 400 einzelne Änderungen. Das Mandat des Verfassungskonvents endet am 14. Dezember, bis zu diesem Tag will der Mas die gesam­te Arbeit über die Bühne gebracht haben. Über den Text werden die Bolivianer dann in einem ge­sonderten Referendum abstimmen, zur Verabschiedung reicht eine Mehrheit von mehr als 50 Prozent.

Die konservative Opposition, die ständig vor der Errichtung einer »Diktatur à la Chávez und Castro« warnt, versucht, durch wirtschaftliche Destabilisierung die Bevölkerung gegen die Regierung aufzubringen. Der Handel wird weitgehend von Oppositionellen kontrolliert, die durch eine Verknappung des Angebots an Lebensmitteln die Preise hochtreiben. So stieg die Inflation auf den höchsten Wert seit 15 Jahren. Die Regierung versucht, durch Ankäufe den Preisanstieg aufzuhalten. Doch weigern sich mittlerweile die Viehzüchter aus dem Tiefland, das von den Konservativen regiert wird, Fleisch an die Regierung zu verkaufen.

Auch Gewalttaten werden häufiger; so griff in Tarija eine Menschenmenge die Büros der öffent­lichen Verwaltung an und bedrohte deren Angestellte. In Santa Cruz wurde das Haus des Mas-Funk­tionärs Osvaldo Peredo mit Handgranaten angegriffen. Die Gouverneure und die Bürgerkomitees in den oppositionell regierten Regionen haben zu »zivilem Ungehorsam« aufgerufen, die verabschiedete Verfassung erklärten sie zur »Totgeburt«, die sie »nie und nimmer« anerkennen würden. Sie wollen eine »de-facto-Autonomie« aus­rufen, sollte bis zum 14. Dezember ihre Vorstellung von der Selbstverwaltung der Provinzen nicht verwirklicht sein. Vier oppositionelle Gouverneure reisten in die USA, um bei der Organisation der Amerikanischen Staaten über die undemokratische Praxis des Mas zu klagen.

Die Konfrontation werden die angekündigten Referenden nicht beenden. Sie werden jedoch klären, ob die oppositionellen Gouverneure tatsächlich, wie Raúl Prada vom Mas meint, die Unterstützung der Mehrheit verloren haben, weil sie »versuchen, die Regierung zu stürzen«. Morales hat in der Mittelschicht an Popularität verloren, doch die sozialen Bewegungen unterstützen ihn weiterhin. Zudem könnte es ihm gelingen, »einen größeren Teil seiner Campesino-Basis zur Abstimmung zu bringen«, meint Jim Schultz vom Democracy Center. Die Wahlen im Jahr 2005 gewann Morales mit 54 Prozent der Stimmen, sollte er beim Referendum schlechter abschneiden, will er Neuwahlen ansetzen.