Über Wilhelm Reich, den Mentor der sexuellen Revolution

Kosmische Ejakulationen

Vor fünfzig Jahren starb Wilhelm Reich, der Mentor der sexuellen Revolution.
Von

Es war eindeutig die Nachhut der sexuellen Revolution, die im November den 50. Todestag Wilhelm Reichs (1897 bis 1957) zu einer Gedenktour durch europäische Hörsäle von Oslo bis Barcelona nutzte. Die diversen Reich-Nacheiferer gewährten dabei Einblick in ein wahrhaft bizarres Universum. Auf dem Ber­liner »Wilhelm-Reich-Kongress« suchte ein Prof. Senf beispielsweise nach der »bewegenden Energie des Lebens und des Liebens – und den indi­viduellen, gesellschaftlichen und ökologischen Konsequenzen ihrer Blockierung«, während ein Dr. Blasband »klassisch Reichianische Körperarbeit im Zusammenhang mit östlichen Verfahren wie der traditionellen chinesischen Medizin oder des Tantra« vorstellte. Gemahnten diese bärtigen älteren Herren wenigstens noch entfernt an den von Peter Sellers so amüsant verkörperten Sexologen »Dr. Fritz Fassbender« in der Sixties-Komödie »What’s New, Pussycat«, so fallen einem zum Wilhelm-Reich-Symposium an der Universität Mainz nur noch Ed Woods billige Horrorstreifen ein, die sich gern um miss­glückte Experimente und mad scientists drehten.

Die dortige Abschlussveranstaltung behandel­te nämlich folgendes Thema: »Orgonomische Klimabeeinflussung mit dem ›Cloudbuster‹«, je­nem Wolkenjäger-Apparat, dessenthalben der bereits reichlich abgedrehte Reich 1956 zu zwei Jahren Haft verurteilt worden war. Ohne das heutzutage kaum mehr vorstellbare Ausmaß der damaligen Ufo-Paranoia in den USA, wo Reich seit 1939 lebte, wäre es zu dieser skandalösen Inhaftierung sicherlich nie gekommen – doch im Mainz des Jahres 2007 sprach ein Dr. Fuckert allen Ernstes über »ungeahnte Folgen« von Reichs »Oranurexperiment im Jahr 1952«: »Es kam zu einer Anhäufung von DOR-Wolken (Deadly Orgone Energy), die das Leben fast un­er­träglich machten. Durch die Kenntnis der Grundprinzipien der Orgonenergie gelang es Reich, mittels des ›Cloudbusters‹ diesen Notstand zu beseitigen. Konsequente Beobachtungen der Atmosphäre bei diesen Operationen wiesen den Weg zum weiteren Einsatz dieses Gerätes: Beeinflussung von Wetter und Klima, Beseitigung von Dürren oder lang anhaltenden Regenperioden, Wüstenbegrünung.«

Solche Epigonen hat sich Wilhelm Reich redlich verdient – trotz seiner Verdienste, die er sich Anfang der dreißiger Jahre um die sexuelle Aufklärung von Arbeiter-Jugendlichen (im Rahmen der Sexpol-Bewegung) erwarb, trotz seiner für KPD-Kreise ungewöhnlich guten Idee, die Sexualität in die politische Analyse des National­sozialismus einzubeziehen (in der Schrift »Die Massenpsychologie des Faschismus«), und trotz des Mutes, mit dem er die bösartige Prüderie in Stalins Russland früh und schonungslos angriff. Doch der frühe Reich der SexPol und der »Massenpsychologie« und der späte Reich des Orgons, der mit dem Cloudbuster durch Gewitter­nächte irrte, sind nicht voneinander zu trennen.

Im Beharren auf der inneren Einheit des Reichschen Werks hat Bernd Laska (zwischen 1975 und 1982 Herausgeber der Zeitschrift Wilhelm-Reich-Blätter) nämlich auf jeden Fall Recht. Er ist ein wirrer Eiferer, der die ganze Aufklärung durch seine L(aMettrie)-S(tirner)-R(eich)-Formel, kurz: LSR, aus den Klauen notorischer Pessimisten wie Adorno retten möchte. Von die­ser Motivation abgesehen, ist die Annahme tref­fend, Reichs Vorstellungen weniger der Marxschen oder Freudschen Tradition zuzurechnen, sondern mit dem Denken des französischen Arz­tes LaMettrie (1709 bis 1751) und dem des deutschen Philosophen Max Julien Offrey Stirner (1806 bis 1856) in Beziehung zu setzen.

Stirners Monomanie, die alle Welt und allen Geist nur in Form des Eigentums des Einzigen er­scheinen lässt, entspricht bei Reich die Zentrali­tät einer einzigen Instanz: des Orgasmus und sei­­ner nahezu kosmischen Funktion. Das vom spä­ten Reich vermeintlich erkannte univer­sale, ener­­getische Grundmuster von Expan­sion, Entladung und Entspannung materialisiert sich dabei bereits beim frühen im Samenerguss – der dadurch über das Gelingen oder Miss­lingen des in­dividuellen wie kollektiven Lebens entscheidet. Und LaMettries Mensch-Maschine, in der die Psy­­che letztlich nur ein anderes Wort für das Zusam­­menspiel verschiedener Funktionen des Körpers vorstelle, entspricht Reichs Vorstellungen vom Zu­sammenhang zwischen Sexus und Seele kon­se­­quent. Laufen die sexuellen Funktionen reibungs­los, in Reichs Worten: wird die »orgastische Potenz ausgeschöpft«, kann es keine seelischen Er­krankungen geben. Und er treibt das durch Um­kehrung noch auf die Spitze. Seelische Erkran­kun­gen (sprich: Funk­tionsstörungen) sei­en durch In-Gang-Bringen der einzig entscheiden­den Körperfunktion, des Orgasmus, zu reparieren.

Schon in der frühen Reichschen Vorstellung von »Sexualökonomie«, die die »Massen­psycho­logie des Faschismus« bestimmt, herrscht dieser mechanische Zug. Reich führte dort das Aus­bleiben des Sozialismus wie den Aufstieg des Faschismus auf eine psychosexuell begründete Zurückgebliebenheit des »subjektiven« Faktors »Bewusstsein« hinter dem »objektiven« Faktor der Produktivkräfte zurück. So wie die Technik dem »objektiven« Faktor Beine machte, müsste eine subjektive Technologie dem entsprechenden Rückstand in diesem Bereich abhelfen: näm­lich ein am Orgasmus orientiertes Aufräumen mit Unbewusstem und Über-Ich, mit dem also, was in der Dynamisierung der Gesellschaft nicht recht mitkommt.

Damit ist Reichs Dauerthema gefunden: Vom Orgasmus hängt die Revolution ebenso wie die Bekämpfung des Krebses ab; letztlich ist er der Schlüssel zu einem naturgemäßen Leben jenseits der moralischen Zwänge der Zivilisation, einem idealisierten Urzustand geistiger Schlicht­heit auf der technischen Höhe des entwickelten Maschinenzeitalters. »Rousseauismus« kon­statierten deshalb Pascal Bruckner und Alain Finkielkraut: Reich »träumt nämlich von der idealen sexuellen Beziehung, die sich ohne Hin­dernisse und Störungen vollzieht, die von einer stillen Perfektion der Organe bestimmt wird, die sich in einem makellosen Koitus erfüllt, in dem alle Erregungsmechanismen zum reinen ›Natur­zustand‹ beitragen, ohne von irgendeiner perversen Geste, einer seelischen Störung oder der ›sozialen Pest‹ beeinträchtigt zu werden. Und diese rationalisierten, idealen Geschlechtsakte sind selbstgenügsam, allein aus den Kraftquellen der Genitalität schöpfend, aufgehoben in einer einfachen Erotik, die Ausschweifungen aus­schließt und Neurosen fortwischt.«

Diese zugleich technizistische wie primitivistische Utopie, also die Rückgewinnung einer von Gesellschaft und Zivilisation gestörten »natürlichen sexuellen Selbststeuerung« (Reich), prägte in den Sechzigern – von Oswalt Kolle bis Ronald D. Laing – die Vorstellungen einer sexuellen Revolution. Ihr so freundlich klingender Grundsatz, dass die Bejahung der sexuellen Bedürfnisse ihre moralische Regulierung überflüssig mache, hat aber nicht nur eine geist- und zivilisationsfeindliche Spitze, sondern zielt da­rüber hinaus auch auf eine Normierung der Lust. Denn das einfache Motto setzt stillschweigend auch ein einheitliches Bedürfnis voraus, in dem nicht nur die Verschiedenheit der Geschlechtsorgane, sondern prinzipiell die Ver­schie­denheit der Lüste nivelliert ist – untergeordnet dem Modell der Ejakulationsfunktion, gegen die alle anderen, nicht direkt auf ein messbares Ziel gerichteten sexuellen Regungen zum Hirngespinst oder zu dekadenter Sittenverderbnis werden. »Insbesondere leidet die Sexologie Reichscher Provenienz seit je unter der Furcht vor der Frau als dem anderen, das unter allen Umständen ein anderes bleibt«, so Bruckner und Finkielkraut in ihrer fulminanten Abrechnung »Die neue Lie­besunordnung« (1979). »Deshalb unterstellt er ihr dieselben Lüste wie dem Mann oder erstickt ihre divergenten Wünsche unter ein und derselben Bezeichnung, der des Orgasmus.«

Nicht nur, dass Sex der Sozialhygiene förderlich sein müsse, sondern auch, dass die Homosexualität oder gar fetischistische Formen der Sexualität letztlich Indikatoren einer krankmachenden zivilisatorischen »Libido-Blockierung« seien, entspringt der Reichschen Sexualökonomie mit Notwendigkeit. So sehr Reich sich gegen die juristische Ächtung und Verfolgung eines vom Orgasmus-Modell abweichenden Sexualverhaltens ausspricht, so sehr ist er von dessen Ungesundheit überzeugt – und das nicht erst in seiner obskuren Spätphase. Bereits Punkt Vier der SexPol-Ziele ließ keine Zweifel am hier herrschenden Normalitätsideal. »Vermeidung von Geschlechtskrankheiten durch eine umfassende Sexualaufklärung und vor allem durch Förde­rung sexuell gesunder anstelle promiskuöser Geschlechterbeziehungen«, heißt es da. Dem Na­tionalsozialismus, vor dem er ins Exil geflohen war, konnte Reich so auch sexualökonomisch positive Seiten abgewinnen: »Die nationalsozialistische Mystik der ›Blutwallung‹ und der ›Ver­bundenheit mit Blut und Boden‹ bedeutet somit gegenüber der altchristlichen Anschauung von der Erbsünde einen Fortschritt; man muss die ›Blutwallung‹ vorwärtstreiben, sie zurechtbiegen«, resümiert Reich in seinem Standardwerk »Die sexuelle Revolution« von 1936. Diese sexuelle Querfront, die Kraft durch Freude zur Kraft durch Ficken radikalisiert hätte, blieb der Stoff, aus dem die Träume der gealterten und meist närrischen Reich-Epigonen wohl noch heute sind.