Die RAF hatte etwas sehr Deutsches

»Die frühen Jahre« heißt der Titel eines Dokumentarfilmprojekts über Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Bernward Vesper, an dem Andres Veiel zurzeit arbeitet. Ein Gespräch über Ikonen des Widerstands, Feindbilder und Filme, die niemals gedreht wurden.

Die RAF funktioniert wie eine riesige Bildmaschine. Sie arbeiten derzeit an einem neuen Film zur Entstehung der Gruppe. Welche Bilder der RAF fehlen im deutschen Kollektiv­gedächtnis noch?

In letzter Zeit ist das Thema völlig überreizt wor­den, indem der Entstehungskontext der RAF auf die immergleichen Diskurse und Bildschleifen reduziert wurde. Auch deshalb ist bei vielen das Gefühl entstanden, dass es jetzt mal gut ist. Vor allem bei Jüngeren gibt es eine Abwehr, nach dem Motto, geht mal aus der Sonne mit dem Thema. Vieles ist aber noch nicht erforscht. Die RAF ist nicht plötzlich einfach da, sie steht im Kontext der Geschichte der frühen und mittleren sechziger Jahre.

Hat sich das Bild von der RAF nicht als erstaun­lich resistent gegen eine historische Auf­arbei­tung erwiesen? Vor allem im Kulturmilieu, dem Umschlagplatz von Diskursen, gibt es nach wie vor eine diffuse Grundsympathie mit den »Outlaws«.

Es gibt einerseits eine sehr naive Haltung, mit der die RAF zur Pop-Ikone stilisiert wird. An­derer­seits gibt es ein zunehmendes Desinteresse, was haben die uns denn heute noch zu sagen? Eine differenzierte Vorbildfunktion hat die RAF nur noch für eine Minderheit innerhalb der Minder­heit.

Was interessiert Sie an der Vorgeschichte der RAF?

Die Geschichte der RAF fängt üblicherweise immer am 2. Juni 1967 mit der Erschießung Ben­no Ohnesorgs an. Dann folgen die Schüsse auf Ru­di Dutschke. Das sind die Bilder, die man schon oft gesehen hat. Sie erklären die Eskalation der Gewalt sehr mechanisch im Sinne eines Reiz-Reaktionsschemas. Der internationale Kontext wie der Militärputsch in Griechenland, die Anschläge der radikalen Rechten in Italien werden ebenso ausgeblendet wie die Radikalisierung der Protestbewegungen in den USA, Frankreich oder Spanien. Weitere Bildschleifen zeigen das Scheitern der Studentenbewegung: Der SDS löst sich auf, ein Teil der Protestbewegung geht als Rote Garden in die Betriebe, die anderen in den Untergrund. Das sind die Schlüsselreize, die immer wieder nach demselben Schema bebildert werden.

Wann beginnt Ihre Version der Geschichte?

Es gab selbst in der verschlafenen Bundesrepu­blik Proteste, gegen die Wiederbewaffnung, gegen die Atombewaffnung; während der Kubakrise stand die Welt kurz vor dem Atomkrieg. Das führte zu einer Aufladung von Protest, die aber nicht in dem Maße wahrgenommen wurde. Denken Sie an den Eichmann-Prozess 1961, dann die Auschwitzprozesse ab 1963. In den USA finden mit dem Free Speech Movement 1963/64 die ersten Proteste gegen antidemokratische Ver­karstung statt, was dann zu den Sit-ins in Berkeley geführt hat. Vieles davon wurde nach Berlin importiert. Von wegen Antiamerikanismus! Im Prinzip war die ganze Protestkultur ein ame­ri­kanischer Exportschlager.

Sie fokussieren auf drei Personen. Neben Andreas Baader und Gudrun Ensslin auch auf deren damaligen Lebensgefährten Bernward Vesper, Sohn eines NS-Dichters und Autor des Generationenromans »Die Reise«, der heute weitgehend vergessen ist.

Mich interessiert diese Konstellation, in der das spätere Kernpersonal der RAF 1969 auf jemanden wie Bernward Vesper trifft, der der Gruppe gedanklich zwar sehr nahe stand, der aber eine ganz andere Form von Nichtanpassung gewählt hat und den inneren Weg der genauen Selbstbeschreibung gegangen ist. Diese Selbstabrechnung war nicht frei von Irrtümern, man merkt Vesper aber das Ringen an, jede Doppelmoral und jedes Heuchlertum abzuschütteln und ehrlich mit sich und der Welt zu sein. Ensslin und Baader lieferten die politischen Thesen, Bernward Vesper war der Seismograph, der das Kon­flikt­repertoire der sechziger Jahre einschließ­lich der Auseinandersetzung mit seinem Vater in sich eingesaugt hatte. In seiner Person findet man ein ganz widersprüchliches Nebeneinander von Dingen, die eigentlich nicht zusammen­ge­hören. Noch Anfang der sechziger Jahre, als er und Gudrun Ensslin versuchten, das Lebenswerk seines Vaters Will Vesper neu zu verlegen, hatte er in einer Mischung aus Koketterie, Geldnot und Identifikation auch mit Nazi-Zeitungen zusammengearbeitet.

Vesper, der sich 1971 in der Psychiatrie das Leben nahm, ist der Vater von Ensslins Sohn Felix. Als Ensslin Baader kennen lernte, zerbrach die Beziehung. Vesper blieb solidarisch mit Ensslin und setzte sich im Brandstifterprozess für eine milde Strafe ein.

Interessant ist, dass Gudrun Ensslin und Bernward Vesper vieles von dem vorweggenommen haben, was die K1 nachher gelebt hat, also den Versuch, die Zweierbeziehung offener zu gestalten und sich nicht den üblichen Konventionen mit allen Beschädigungen, die da entstehen, zu beugen. Diesen Versuch haben die beiden Anfang der sechziger Jahre unternommen. Sie waren damit insofern ganz erfolgreich, als die Beziehung unter diesen experimentellen Zuständen immerhin sechs oder sieben Jahre gehalten hat.

Die intellektuellen und politischen Auseinandesetzungen eines Bernward Vesper waren Andreas Baader fremd.

Durch seine Biografie ist Andreas Baader zwangs­läufig politisch geprägt worden. Das fängt mit dem Tod seines Vaters an, der im Krieg als verschollen gilt und den er nie kennen lernt. Natürlich wurde der tote Vater später überhöht. Andreas wuchs in den Nachkriegsjahren zunächst bei der Großmutter in Thüringen auf, während sich die Mutter als Trümmerfrau durchschlug. Nehmen Sie den Satz, den Andreas Baader später mal gesagt hat: »Wenn ich friere, steht mir ein Pullover zu, wenn ich zwei habe, gebe ich einen ab, und wenn ich keinen hab’ und einer hat zwei, nehm’ ich mir den.« Das ist nicht einfach ein dahingesagter Robin-Hood-Satz, daraus spricht auch die konkrete Nachkriegserfahrung von extremer sozialer Not. Man muss solche Aussagen in ihrem Kontext sehen, nicht nur als Pose und Koketterie. Auch der Wunsch nach schnellen Autos und narzisstischer Selbstdarstellung rührt letztlich aus der Erfahrung der absoluten Bedeutungslosigkeit eines Kindes, das von der Mutter gesagt bekommt, um zu überleben, muss ich dich bei der Großmutter zurücklassen. Jemand, der in den entscheidenden Kinderjahren immer wieder erfahren hat, dass das Leben ein Überlebenskampf ist, sonnt sich natürlich später in Größenphantasien und wünscht sich den Porsche und die »Güter des Himbeerreichs«, wie Gudrun Ensslin das genannt hat.

Ganz anders dann die Vertreter der letzten Generation: Wolfgang Grams und Birgit Hogefeld sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren! Dahinter standen zwar auch taktische Überlegungen, aber sie hatten auch nie das Verlangen, sich in einen Porsche zu setzen. Das war eben zehn Jahre später, das Umfeld war ein völlig anderes. Der jeweilige Zeitkontext ist eben sehr aufschlussreich. Wie viel Demütigung und Mangel muss denn vorhanden sein, dass ein Andreas Baader, der dem Fetischcharakter der bürgerlichen Gesellschaft den Kampf angesagt hat, gegen jede strategische Vernunft einen auffälligen Porsche fährt?

Was hat sich Andreas Baader aus der Protestkultur der sechziger Jahre genommen?

Andreas Baader war beeinflusst vom Film, von Humphrey Bogart, »Außer Atem«, »Pierrot le Fou« und vor allem Gillo Pontecorvos »Schlacht um Algier« von 1957. Ein kleiner Dieb, der in den Knast kommt, mitbekommt, wie dort Widerstandskämpfer hingerichtet werden, und sich dann hochkämpft vom Straßendieb zum Gue­rillaführer im algerischen Befreiungskampf. Freunde haben gesagt, dass er sich entsprechend kleidete, je nach dem, was er gerade gesehen hatte. Mal wie dieser Guerillaführer, mal wie Bogart. Andreas Baader wollte zunächst selbst Filme drehen, er hatte einen Entwurf für einen »sozialistischen« Film geschrieben. Als er nach der Kaufhausbrandstiftung im Knast saß, lernte er dort einen Filmkaufmann kennen, mit dem er zusammenarbeiten wollte. Die spannende Frage ist, was aus der RAF geworden wäre, wenn Andreas Baader die Chance bekommen hätte, Filme zu machen. Es hätte wohl auch ohne ihn eine terroristische Bewegung gegeben, aber sie wäre vielleicht eine etwas andere gewesen.

Eine weniger ikonische?

Andreas Baader hat mal zu seiner damaligen Noch-Freundin Ello Michel gesagt, du wirst sehen, ich schaff’ es auf den Spiegel-Titel, und er hat’s geschafft. Die mediale Wirkung, die Coolnesscodes, das waren schon Kategorien, um die es ihm auch gegangen ist. Dennoch wäre es falsch, die RAF darauf zu reduzieren oder sie wie Reemtsma als größenwahnsinnige Organisation zu beschreiben, die sich nur durch ihren Machtrausch am Leben gehalten hat. Es gelingt nicht, die RAF mit Narzissmus und Eitelkeit wegzuerklären.

Inwiefern sind die Lebensläufe von Baader, Ensslin und Vesper typisch für ihre Generation, und was hebt sie aus der Generation heraus?

Laut einer Allensbach-Umfrage von 1971 unter den damals 18- bis 29jährigen hatte jeder Vierte Sympathien für die RAF. Insofern stand sie auch für etwas. Und die RAF hat natürlich auch mit den Schuldgefühlen einer ganzen Generation operiert – ihr redet, wir handeln. Das funk­tio­nierte über viele Jahre hinweg. »Die tun etwas für uns, wir haben nicht den Mut, kehren zurück in die bürgerliche Gesellschaft … «, diese Gewissensbisse stellten ein riesiges Rekrutierungspotenzial dar. Es waren nur ganz wenige, die den Schritt in die Gewalt gegangen sind, aber viele hingen an dem Köder, den die RAF ausgelegt hatte, den Köder des Schuldgefühls, des Vorwurfs der Feigheit und der mangelnden Konsequenz; dass man erkannt hatte, aber nicht danach handelte.

Stimmen Sie der immer wieder zitierten These zu, dass der Widerstand der Militanten insgeheim den eigenen Eltern galt?

Es ist in sehr vielen Lebensgeschichten von RAF-Mitgliedern, mit denen ich mich beschäftigt habe, gar nicht die eigene Familie, nicht die Groß­eltern, Vater oder Mutter, die die Nazis waren. Interessanterweise waren es oft Eltern, die dem Regime sehr kritisch gegenüberstanden, die sich aber letztlich nicht verweigert haben. Ich habe oft mit Birgit Hogefeld darüber gesprochen, aus welchen Motiven heraus sie und Wolfgang Grams sich der RAF angeschlossen haben. Der Vater von Birgit Hogefeld war an die Front gegangen und hat sich im Nachhinein die Frage gefallen lassen müssen, warum er nicht desertiert ist. Hogefelds Vater war später mit dem Staat auch sehr unzufrieden. Er war ganz sicher kein Angepasster, er besaß eine Grundsympathie für die Ziele seiner Tochter und war sogar stolz, dass sie in den Untergrund ging. Insofern kann man nicht sagen, dass das ein Kampf gegen die eigenen Nazieltern war, im Gegenteil.

Die Kinder leben die Widerstandsphantasie der Eltern aus?

Der Prototyp ist Andreas Baader, dessen Vater nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl gesagt hat, jetzt geh’ ich in den Untergrund. Und nur aufgrund der familiären Verhältnisse hat er es dann nicht getan.

Weil die Mutter zu dem Zeitpunkt mit An­dreas schwanger war.

Ja. Man kann die RAF zwar nicht in dem Bermudadreieck Mama-Papa-Kind erklären und versenken, dennoch ist die Frage berechtigt, was die Menschen angetrieben hat. Es gab den Wunsch, etwas zu Ende zu führen, das die Eltern, wenn überhaupt, nur halb oder nur im Geiste getan hatten. Ein anderes Beispiel ist der Vater von Gudrun Ensslin, der seine Haftstrafe nicht antreten musste, weil er sich an die Front gemeldet hatte. Er soll das auch mit einer gewissen jungshaften Begeisterung getan haben, was er sich später selbst vorgeworfen hat. Insofern gab es oft ein Bewusstsein, aber kein Handeln. Der Kernsatz ist der moralische Imperativ: Wenn wir eine undemokratische Entwicklung dieses Staates erkennen, dann müssen wir eines tun, was die Eltern nicht getan haben, nämlich handeln. Ich denke, dass das ein Motiv war, das das eigene Tun nochmal geadelt hat und dem eine Schubkraft verliehen hat.

Nicht nur der Widerstand der Eltern war fiktiv, auch der Widerstand der RAF hat etwas Imaginäres, insofern er sich immer stärker in einer Kulissenwelt aus Feindbildern einrichtete. Die jüdischen Opfer und deren politische Ansprüche kamen darin nicht vor. Stichwort Israel – für die Militanten nicht die Zufluchtsstätte der Überlebenden, sondern der neue Faschistenstaat.

Wenn man sich die Biografie von Wilfried Böse ansieht, der bei der Entführung der El-Al-Maschine in Entebbe de facto an einer Selektion beteiligt war, fällt auf, dass er kein Antisemit war. Er ging auf Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, gegen die NPD, hatte das alles auf dem Radar. Zweites Beispiel: Ulrike Meinhof. Reich-Ranicki hat sie in den fünfziger Jahren als eine Frau beschrieben, die für ihn etwas ganz Außergewöhnliches getan hat; sie war die erste Journalistin, die ihn nach seinen Erfahrungen im Ghetto in Lodz gefragt hat. Es war allgemein bekannt, dass er im Ghetto gewesen war, aber kein Journalist hatte jemals von ihm wissen wollen, wie er diese Zeit erlebt hat. Diese Journalistin aber befragt ihn, irgendwann hält sie es nicht mehr aus und weint, voller Schuld und Scham über das, was die Elterngeneration angerichtet hat und für das sie sich verantwortlich fühlt. Wenn man diese Szene zusammenschneidet mit ihrer Erklärung zur Entführung der israelischen Sportler 1972, das sei »eine heroische, antiimperialistische revolutionäre Tat«, glaubt man, es mit zwei verschiedenen Menschen zu tun zu haben.

Meine These ist, dass es oftmals Menschen sind, die sich ganz intensiv mit der Frage von Schuld und moralischem Versagen, auch mit der Opferperspektive auseinandergesetzt haben, die dann derart entgleisen. Denn diese Auseinandersetzung hat, je länger man sie führt, etwas Bedrohliches. Ein ehemaliger Kommunarde hat mal zu mir gesagt, wie hätte ich meine Eltern zu ihrer Verwicklung im Dritten Reich befragen können? Wenn da etwas Belastendes herausgekommen wäre, hätte ich mir meine eigene Identität weggeschossen. Je stärker man die eigenen Familienverhältnisse in die Aufarbeitung der Geschichte einbringt, desto unsicherer erscheint die eigene Existenz. Birgit Hogefeld hat es mal in der Frage zugespitzt, »mit welcher Berechtigung bin ich eigentlich geboren? Wenn mein Vater desertiert wäre, wäre er vielleicht erschossen worden, hätte meine Mutter das Maul aufgemacht, wäre sie vielleicht ins KZ gekommen. Weil die Eltern versagt haben, haben sie sich gefunden, wurde ich geboren.« Das Beispiel zeigt, als wie bedrohlich die Auseinandersetzung empfunden wurde.

Kunzelmann spricht 1969 in diesem Zusammenhang vom »Judenknacks«, der jetzt mal überwunden werden muss, und er tat das nicht zufällig, nachdem er in die Umarmung mit den Palästinensern gefallen war. Der Höhepunkt der Verschiebung ist dann der missglückte Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus am 9. November 1969, also dem Jahrestag der Reichskristallnacht. Man fragt sich, warum ausgerechnet Menschen, die sich mit der deutschen Geschichte beschäftigt haben, diese wiederholen. Auch wenn man dieses Denken nicht der gesamten Linken unterstellen kann, zeigt sich in diesen Extremen doch, wie und warum die Koordinaten verschoben werden und wie durch die Verschiebung am Ende auch die eigenen Eltern umarmt werden können. Im Prinzip ist das ein Befreiungsschlag, der aber gerade nicht von Menschen kommt, die nichts wissen wollten. Die wollten wissen! Gerade weil sie wissen wollten, wurde das Bedürfnis, sich abzugrenzen, umso stärker.

Sehen Sie heute irgendwelche Ansätze einer Aufarbeitung? Rolf Clemens Wagner bedauerte erst kürzlich in der Jungen Welt, dass die Ermordung Schleyers nicht besser vermittelt wurde.

Ich habe mir auch die Frage gestellt, warum es so schwer fällt, radikal und rücksichtlos offen zu legen, was damals war. Diese Frage muss sich im Übrigen auch der Staat, der die Akten unter Verschluss hält, gefallen lassen. Es gibt Beispiele im Ausland, vor allem in Italien, die zeigen, wie eine vorbehaltlose Auseinandersetzung aussehen kann. Mario Moretti von den Brigate Rosse hat es vorgemacht und rücksichtslos mit sich selbst, ohne die eigenen Motive zu kaschieren, seine Geschichte aufgeschrieben. Nicht nach dem Motto »Mein ganzes Leben war ein einziger Irrtum«; vielmehr hat er deutlich machen können, welche Motive und Erfahrungen dazu beigetragen haben, diesen Weg zu wählen. Moretti war maßgeblich verantwortlich für die Ermordung Aldo Moros. Und das, nachdem er sechs Wochen mit ihm Gespräche geführt und gemerkt hatte, dass Aldo Moro überhaupt nicht der ist, für den ihn die Brigate Rosse gehalten haben. Er ist im politischen System längst eine fallengelassene Marionette der damaligen Regierung, gleichzeitig ein Mensch, der verzweifelt, verlassen ist. Dann beschreibt Moretti ganz genau, wie er der Binnenlogik der Gruppe folgt und ihn erschießt. Dieser Widerspruch, dass er wusste, sein Tun ist menschlich eine Katastrophe, auch politisch eine Katastrophe, weil es die letzte Legitimität der Brigate Rosse liquidiert, hat für ihn das Ende der Gruppe eingeläutet. Ich fand dieses Dokument atemberaubend im wörtlichen Sinne, weil da jemand nicht den Kniefall gemacht und die Talkshowbeichte abgelegt hat, sondern unmissverständlich deutlich gemacht hat, wo die grausamen Irrtümer, wo aber auch die Motive lagen, sich diesem Kampf anzuschließen.

Warum fällt gerade die Aufarbeitung des deutschen Terrorismus so schwer?

Darin spiegelt sich auch, wie groß die Beschädigungen sind, die innerhalb der Gruppenprozesse durch die Demütigungen und den Anpassungsdruck entstanden sind. Wie schwer es vielen fällt, eine Debatte überhaupt zuzulassen, habe ich während der Arbeiten zu »Black Box BRD« erlebt. Viele haben kategorisch gesagt, wir äußern uns auf keinen Fall individuell, wenn überhaupt, dann treten wir als Gruppe auf. Auseinandersetzung ist aber immer etwas Individuelles, auch wenn sie sich innerhalb kollektiver Prozesse vollzieht. Diese persönliche Bewältigung zu verweigern und heroisch das Kollektiv hervorzuholen, ist eine Abwehrstrategie. Da wiederholt sich Geschichte, das Schweigen über die eigene Vergangenheit war genau das, was diese Generation den Eltern und Großeltern vorgeworfen hat.

Das zeigt, wie repressiv die Gruppe strukturiert war.

Ja, paramilitärisch. Ganz klar, dass der Einzelne Anweisungen ausführen musste und nichts wissen durfte, hatte viel mit den Erfordernissen des Überlebens im Untergrund zu tun. Aber auch mit absolut hierarchisch paramilitärischen Befehlsstrukturen. In der Gruppe überdauerte letztlich auch der Korpsgeist, der ins Preußentum zurückgeht. Das haben mir viele militante Linke gesagt, mit denen ich im Ausland gesprochen habe, auch in Italien: »Das ist ja unglaublich, wie die miteinander umgegangen sind, da ist uns das Blut in den Adern gefroren.« Und dann wurde so leichthin gesagt: »Die Deutschen hatten halt Preußen und ­Auschwitz. Und so sah die RAF eben aus.« Dieser Habitus wurde ganz lakonisch mit der Geschichte in Verbindung gebracht. Die RAF hatte etwas sehr Deutsches.

Dass der Staat damals überreagiert hat und mit dem Terror hätte anders umgehen können, ist eine von vielen geteilte Überzeugung. Wo lagen aus Ihrer Sicht die Verhandlungsspielräume?

Ich habe mal länger mit dem BKA-Beamten ­Alfred Klaus gesprochen, der Anfang der Sieb­ziger als so genannter »Familienbulle« unmittelbar Kontakte zu den Gefangenen in Stammheim und den Angehörigen hatte. Auch zu Ensslins Familie und der Mutter von Baader. Er sollte die Binnenperspektive ausloten und hatte ein ambivalentes Verhältnis zu den Gefangenen. Und diese umgekehrt auch zu ihm. Für die Gefangenen war er der Bulle und gehörte zum System, war aber gleichzeitig auch der Botschafter der Familien. Klaus kam zu komplett anderen Einschätzungen als der Krisenstab. Er schätzte das Angebot von Andreas Baader, im Falle eines Austausches nicht mehr terroristisch tätig zu werden, als absolut glaubwürdig ein. Klaus’ Strategie war es, den Gefangenen deutlich zu machen, ihr werdet zwar niemals ausgetauscht, aber wenn es darum geht, draußen einen moralischen Punktsieg für euch zu erreichen, dann müsst ihr etwas tun, nämlich zur Freilassung der Passagiere und auch zur Freilassung Schleyers aufrufen. Ihm gegenüber war durchgesickert, dass Baader zwar froh war, dass der Druck erhöht worden war, dass er aber mit der Entführung der Urlaubermaschine nicht einverstanden war.

Baader setzt sich für das Leben von Schleyer ein und räumt das Feld als moralischer Sieger – ein realistisches Happy End?

Es ist eine spannende These, dass dem Staat die folgenden Generationen der RAF erspart geblieben wären, wenn man die Strategie der Deeskalation verfolgt hätte. Letztlich bleibt das natürlich reine Spekulation. Man weiß nicht, ob Baader sich überhaupt darauf eingelassen hätte und die Botschaft dann auch nach außen transportiert hätte. Ich habe da große Zweifel. Dennoch zeigt sich an diesem Beispiel, dass man andere Handlungsoptionen gehabt hat. Sie wurden aber aus Prinzipientreue – mit diesen gemeinen Verbrechern verhandelt man nicht – verworfen. Dabei hätte ein Verhandeln auf Augenhöhe bereits damals positive Entwicklungen in Gang setzen können. Diesen Weg der Befriedung ist der Staat dann erst in den neunziger Jahren gegangen, mit der Kinkel-Initiative und den Begnadigungen. Für mich ist die Geschichte der RAF, ihres Entstehens und Scheiterns auch ein Mittel, um zu erkennen, unter welchen Bedingungen Eskalation entsteht und welche dialogischen Systeme zur Deeskalation führen.

Interview: Heike Runge

Mit »Black Box BRD« (2001) (über Alfred Herrhausen und Wolfgang Grams) wurde Andres Veiel bekannt. Bereits 1996 drehte er »Die Überlebenden« über drei seiner Klassenkameraden, die im Erwachsenenalter Suizid begehen. Die Langzeitstudie »Die Spielwütigen« (2004) beobachtet Schauspielschüler. Rechte Jugendgewalt ist 2006 das Thema in »Der Kick«. »Die frühen Jahre« soll 2010 fertiggestellt sein.

Andres Veiel, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Filmemacher und Drehbuch- und Theaterautor in Berlin. Er studierte zunächst Psychologie, Ethnologie und Publizistik in Berlin und begann parallel eine Regie- und Dramaturgie-Ausbildung, u.a. bei dem polnischen Regisseur Krzysztof Kieslowski. Neben seiner dokumentarischen Arbeit nimmt er Lehraufträge an verschiedenen Filmhochschulen und Universitäten wahr, u.a. an der FU Berlin, und den Universitäten Zürich, Johannesburg und Neu-Delhi.