Die Toten von Turin

Fünf Arbeiter starben nach einem Großbrand im Turiner Stahlwerk von Thyssen-Krupp am 6. Dezember. In dem Werk waren Sicherheitsvorkehrungen eklatant ver­nachlässigt worden. Die Konzernleitung reagiert auf Vorwürfe mit kaltschnäuziger Überheblichkeit. von catrin dingler, rom

»Das abgelaufene Geschäftsjahr war das bisher er­folgreichste seit Bestehen Ihres Unternehmens. Thyssen-Krupp konnte in allen wesentlichen Kenn­zahlen neue Spitzenwerte verzeichnen.« Mit diesen Worten gratulierte der Vorstandsvorsitzende Ekkehard D. Schulz Ende November in einem persönlichen Brief den Aktionären von Thys­sen-Krupp AG zu einer Umsatzsteigerung von zehn Prozent. Nur wenige Tage nach Bekanntwerden der triumphalen Jahresbilanz wurde offenbar, dass sich hinter diesen schillernden Zahlen desas­tröse Arbeitsverhältnisse in den Stahlwerken ver­bergen.

In der Nacht zum 6. Dezember kam es im Turiner Werk der Thyssen-Krupp durch einen Rohrbruch im Kaltwalzwerk zu einem verheerenden Großbrand. Das auslaufende heiße Öl entzündete sich und setzte binnen Sekunden die gesamte Abteilung in Brand. Die Arbeiter entlang der Linie 5 hatten keine Chance, den Flammen zu entkommen: Antonio Schiavone verstarb am Unfallort, seine drei Kollegen Bruno Santino, Roberto Scola und Angelo Laurino erlagen ihren Verletzungen wenige Stunden später im Krankenhaus. Am vergangenen Sonntag starb auch Rocco Marzo. Zwei weitere Arbeiter erlitten am ganzen Körper Verbrennungen dritten Grades. Ihr Zustand ist kritisch, die behandelnden Ärzte räumen ihnen nur geringe Überlebens­chancen ein.

Für die meisten der Arbeiter hatte die Schicht be­reits am frühen Nachmittag begonnen, sie standen seit knapp zwölf Stunden an der Walze. Der in der Metallbranche gültige Tarifvertrag erlaubt eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit, wenn wegen kurzfristigen Personalmangels (z.B. bei fehlender Schichtablösung) die Fortsetzung der Produktion gefährdet wäre. Im Turiner Werk aber gehörten die Überstunden seit Monaten zum normalen Arbeitsalltag.

Nachdem Thyssen-Krupp im Juli beschlossen hatte, das Unternehmen in Italien auf einen Ort zu konzentrieren und deshalb die gesamte Edelstahlproduktion nach Terni, in die mittelitalienische Region Umbrien, zu verlagern, befand sich das Turiner Werk in Auflösung. Teile der Produk­tionsanlagen waren bereits abgebaut, die Mehrheit der ehemals 400 Turiner Mitarbeiter war frühpensioniert worden oder hatte sich eine andere Arbeit gesucht, nur wenige hatten das firmen­interne Angebot angenommen und sich nach Terni versetzen lassen. Im Februar 2008 sollte in Turin die Produktion eingestellt, Ende September das Werk endgültig geschlossen werden. Da es jedoch in Umbrien Schwierigkeiten gab, alle Aufträge fristgerecht zu erledigen, mussten die knapp 160 in Turin verbliebenen Arbeiter seit Wochen Sonderschichten einlegen.

Allein aufgrund des Brandunfalls wurde bekannt, in welch gefährlichen Verhältnissen die Metaller in Turin weitergearbeitet haben. Nach Angaben der Arbeiter wurden in der teilweise demontierten Fabrik die gesetzlich vorgeschriebenen Sicher­heitsstandards seit langem nicht mehr eingehalten. Antonio Boccuzzi, der als erster versucht hatte, seinen brennenden Kollegen zu Hilfe zu eilen, berichtete noch in der Nacht, von eigenen, jedoch vergleichsweise leichten Brandwunden gezeichnet, dass der Feueralarm nicht ausgelöst worden sei, die Notruftelefone nicht funktionierten und drei der fünf vorhandenen Feuerlöscher leer gewesen seien. Sein Kollege Ciro Argentino, der in der Metallgewerkschaft Fiom organisiert ist, bestä­tigt die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen. Die für die Wartungsarbeiten zuständigen und ent­­sprechend ausgebildeten Kollegen hätten die Fa­brik nach der Umstrukturierung als erste verlassen, das Personal des betriebseigenen Feuer­schut­­zes sei reduziert worden. Wegen des häufigen Vorkommens kleinerer Brände im Werk seien die Arbeiter dazu angehalten worden, die Wartung der Feuerlöscher selbst zu übernehmen. Es könne durchaus sein, dass einige Geräte nicht un­mittelbar nach ihrem Gebrauch ersetzt worden seien, vermutet Argentino. In einer Pressemeldung der italienischen Konzernzentrale heißt es dagegen, die schweren Folgen des Feuers seien auf »die Verkettung unglücklicher Umstände« zurück­zuführen. Die Vorwürfe, die Sicherheitsstandards verletzt zu haben, weist das Unternehmen zurück: Man habe weiter in die Instandhaltung der Anlagen investiert, da diese nach der Schließung des Turiner Werks nach Terni transportiert und weiter für die Produktion verwendet werden sollten.

Auch wenn die Ermittlungen zur Brandursache noch andauern, so ist bereits deutlich gewor­den, dass es an der Linie 5 keinen modernen, der Brand­gefahr angemessenen Feuerschutz gab. Dabei war es vor wenigen Jahren in einer der Walzenabteilungen des Stahlwerks schon einmal zu einem Großbrand gekommen. Damals waren keine Personen zu Schaden gekommen, dennoch hatte die Turiner Staatsanwaltschaft eine Untersuchung eingeleitet und das Fehlen von feuersicheren Trenn­wänden und ausreichenden Feuermeldern beanstandet. Zu einer Anklage kam es damals jedoch nicht, man hatte sich mit Thyssen-Krupp auf die Zahlung einer Geldstrafe geeinigt.

Angesichts der Brandkatastrophe hat die Staats­anwaltschaft in Turin ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung eingeleitet. Diesmal soll nicht nur der Konzern zur Rechenschaft gezogen werden, sondern auch die Verantwortlichen der Unternehmensleitung sollen belangt werden. Gegen den Vorstandsvorsitzenden von Thyssen-Krupp Italien, Harald Espenhahn, und zwei weitere, für Sicherheitsfragen zuständige Manager soll ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden.

»Mörder! Ihr werdet teuer dafür bezahlen! Ihr wer­det alle dafür bezahlen!« Zwar forderten die Turiner Metallarbeiter auf der vier Tage nach dem Brand veranstalteten Demonstration juristische »Gerechtigkeit« für ihre toten Kollegen, aber in den Sprechchören drückte sich vor allem ihre Wut aus, ihr Zorn auf die tedeschi, »die Deutschen«. Plakate gegen Thyssen-Krupp wurden hochgehalten, auf denen der Doppelkonsonant durch SS-Runen oder ein Hakenkreuz ersetzt worden war. Eine Anspielung auf die Beteiligung beider Konzerne an den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschland, aber auch auf die Inbesitznahme der italienischen Stahlindustrie durch den deutschen Stahlkonzern Ende der achtziger Jahre. Krupp war damals im Verlauf der Privatisierung des staatlichen Stahlunternehmens Ilva zum Haupt­eigner der Edelstahlwerke in Turin und Terni geworden und hatte später, nach seiner Fusion mit Thyssen, das gesamte Aktienpaket über­nommen.

Die bei der Übernahme ausgehandelte zehnjäh­rige Beschäftigungsgarantie wurde von Thyssen-Krupp vorzeitig aufgekündigt. Sowohl 2004 als auch 2005 gab es in Terni mehrwöchige Streiks, um angekündigte Schließungen einzelner Sektoren zu verhindern. Die Geschäftsführung von Thys­sen-Krupp hatte jedes Mal mit Aussperrungen gedroht und wiederholt Angebote zu Verhandlungen mit den Gewerkschaften und der Re­gierung ausgeschlagen.

Auch nach dem Brand in Turin entzogen sich die Verantwortlichen von Thyssen-Krupp Italien einer persönlichen Stellungnahme, sogar einem Treffen, das die für arbeitspolitische Fragen zuständige Kommission des italienischen Senats einberufen hatte, blieben die geladenen Unterneh­mensvertreter fern. Wie in allen früheren Auseinandersetzungen beschränkt sich der Konzern auf die Abgabe von Pressemitteilungen: Thyssen-Krupp bedauere den »tragischen Unfall«, der Kon­zern werde sich bemühen, den Hinterbliebenen finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Die Ankündigung, anlässlich der Trauerfeier in Turin die Konzernflaggen auf Halbmast zu setzen und weltweit in den Stahlwerken während einer Schweigeminute die Arbeit ruhen zu lassen, quittierten die Turiner Metaller mit Sarkasmus: Nur weil die Arbeiter eine Minute innehielten, müsse schließlich keine einzige Maschine abgeschaltet werden.

Es ist die Kälte und Arroganz dieser Verlautbarungen, die in Italien Assoziationen zu den Me­thoden der deutschen Besatzer wecken.

Doch waren die Gesichter derer, die sich zur De­monstration versammelt hatten, nicht nur von Hass gezeichnet, sondern vor allem von Trauer. Dem Aufruf zu einem achtstündigen Streik waren nur 30 000 Metallarbeiter gefolgt. In den Turiner Fiatwerken ging die Produktion ungestört weiter, nur 15 Prozent der Belegschaft beteiligten sich an den Protesten, die Organisationen der Turiner Migranten fehlten im Demonstrationszug, und kaum ein Geschäft in der Innenstadt hatte zum Zeichen der Solidarität die Rollgitter der Schau­fenstervitrinen heruntergelassen. Dem allgemeinen Entsetzen folgte kein allgemeiner Protest.

Auf der Abschlusskundgebung blieb den allein­gelassenen Stahlarbeitern und ihren Angehörigen kaum mehr, als die anwesenden Vertreter der Regierung und der Gewerkschaften mit Pfiffen daran zu hindern, leere Grußworte vorzutragen. Schließlich hatten sowohl die linken Parteien als auch die drei großen Dachgewerkschaften das erst vor wenigen Monaten verabschiedete so genannte Welfare-Protokoll mitgetragen, ohne auf die Kritik der Metallgewerkschaft Fiom einzugehen. Damit wurden sowohl die prekären Beschäf­tigungsverhältnisse, die die Arbeiter erpressbar machen, als auch die Deregulierung der Arbeitszeiten legitimiert.