Endspiel

Sechs Paar Fußballschuhe – ein Weihnachtsgeschenk, das man lieber nicht bekommen hätte. Von Jürgen Kiontke

Auf das Weihnachtsgeschenk hätte ich gut verzichten können: Sechs Paar Adidas-Fußballschuhe, allesamt in bestem Zustand. Zweimal Kunstrasen, einmal Schraubstollen, zweimal Nocken, einmal Halle. Gesamtwert zirka 400 Euro.

Ich habe noch nie was geerbt, es ist das erste Mal. Dass es in der Weihnachtszeit ist, macht es nicht besser: Das Drumherum ist umso trister.

Die Schuhe gehören zu meinem Freund M. Mit ihm spiele ich seit Jahren im selben Fußballclub. Zweimal bis dreimal die Woche stehen wir zusammen nackt unter der Dusche. Das ver­bindet.

Im Alter von 52 Jahren – keine Zigaretten, kaum Alkohol – hat er auf einmal Schmerzen im Brustkorb verspürt. Zum Pokalspiel gegen den Berliner Verein Makkabi schleppt er sich noch hin. Zum Arzt gehen will er die nächsten Tage nicht. Vor kurzem ist der Programmierer gekün­digt worden, Geld ist knapp. Weil er im dritten Quartal noch nicht beim Arzt war, will er die zehn Euro Praxisgebühr lieber für das vierte investieren.

Dazu kommt es nicht mehr. Am ersten Tag des neuen Quartals stirbt er in seiner Wohnung an einem Herzinfarkt. 1:0 für Ulla Schmidt.

Mein letztes Treffen mit M. sah so aus: Wir standen bei einem Freundschaftsspiel gegen die Senioren-Mannschaft des Bundesliga-Vereins Hertha BSC auf dem Platz. Die Hertha war übermächtig, schließlich ist das Seniorenteam – anders als die Bundesligamannschaft – Dauermeister in der Verbandsliga. Drüber gibt’s nichts mehr. Und ich glaube, alle Verbands­meister Deutschlands spielen auch gegeneinander – und da ist die Hertha auch Meister.

Sie sind mit Ex-Profi Michael Preetz gekommen. Der steht auch auf dem Platz, als M. aus 35 Metern abzieht und unter die Latte trifft. Endstand 8:4 für Preetz – so viel Gegentore hatten die vorher in der ganzen Saison kassiert. M. hat, glaube ich, mal in der 2. Bundesliga gespielt.

Eine andere Erinnerung geht so: Im Sommer hatten wir ein Vereinsturnier. Dort spielten wir aus Spaß auch gegen eine Jugendmannschaft. M. schnappt sich den Ball und geht über den gan­zen Platz spazieren, um die Füße eine Traube von 10jährigen. Sie können ihm den Ball nicht abjagen. So bewegt er sich aufs gegnerische Tor zu. Dann spielt er den Ball ab zu einem Jungen, der hier in Sandalen spielt. Der schießt das Tor.

Auf dem großen Feld hat er auch nicht viel anders gespielt. Eine Traube weniger begabter Spieler um die Füße und dann der geniale Pass.

»Die Polizei hat ihn beschlagnahmt, das macht die immer so, wenn einer zu Hause stirbt«, informiert uns seine Lebensgefährtin O. »Ich weiß noch nicht, wann die den wieder rausrücken.«

Die Mannschaft nimmt die Information irgendwie auf. Und irgendwie auch nicht. Die meisten Spieler berichten von folgendem Phänomen: »Ich habe das zwar gelesen und gehört. Aber mein Gehirn weigert sich, diese Information zu verarbeiten.«

Bis es nun zur Beerdigung von M. kommt, haben die Berliner streckenweise schon ihren Weih­nachtsschmuck ins Fenster gehängt, zur Beleuchtung der Wirklichkeit. In Berlin beginnt die Kälte einen Monat früher als in Westdeutschland. Dafür gibt es keinen Frühling. Der Sommer beginnt übergangslos im Juni. Bis dahin herrscht Bodenfrost. In sieben Monaten herrscht Dunkelheit, die für wenige Tagstunden von Halbdun­kel unterbrochen wird.

In diesem Halbdunkel findet die Beerdigung statt. »Es wird keinen Pfarrer, keinen Redner und keinen Grabstein geben«, hat O. geschrieben.

Ob es am Geld liegt? Immer mehr Berliner verschwinden im Armengrab. Ich frage herum, ob wir für einen Stein sammeln sollen. Aber die einhellige Meinung ist: Nein, diesen Wunsch hat man zu respektieren. M. soll lieber im Verein eine Gedenktafel bekommen.

Die Mannschaft trifft sich an der U-Bahnstation Südstern in Berlin-Kreuzberg. Alle kaufen eine Rose im Blumenladen. Alle setzen sich mit einer Rose im gleichen Einpackpapier in Bewegung. Manche unrasiert, manche in Arbeitsklei­dung, andere im Sakko. Wenige Angehörige haben den Weg zum Friedhof gefunden. M.s Schwes­ter, die Freundin. Wir wissen nicht, wohin mit unseren Händen.

Wir sorgen dafür, dass sich der kleine, kalte Zeremonien-Raum, in dem die blaue Urne mit M.s Überresten steht, füllt. Wir sitzen fünf Minu­ten, als der Friedhofsmitarbeiter die Urne hebt. Wir gehen hinterher. Draußen folgen wir einige Zeit den Gängen zwischen den Gräbern. An M.s Grab angekommen, spricht der Mann ein »In Ewigkeit Amen« und lässt die Urne ins Grab. Wir legen Blumen nieder und nehmen O. in den Arm.

Es gibt keinen Pfarrer, keinen Redner. Auch der Leichenschmaus fällt aus. Es gibt hinterher auch keinen Kaffee, kein Bier, keinen Likör und auch keinen Weinbrand.

Aber Wodka. K., einer unserer Spieler, ist Produktionsleiter einer der größten Schnaps­brenne­reien Berlins. Der hat was von der Arbeit mitgebracht. »Auf M.«, sagt der Kapitän. Einige kippen den Inhalt des Flachmanns runter. Wir ahnen, es wird nicht helfen.

O. schickt eine Mail an die Mannschaft. »Hier stehen noch die Schuhe von M., alle Größe neun. Die könnt ihr abholen. Dass damit Fußball gespielt wird, wäre sicher in M.s Sinne gewesen.«

Weil ich um die Ecke wohne, schreibe ich O., dass ich die Sachen abholen komme. M.s Wohnung betrete ich jetzt zum ersten Mal. Man geht sich viel zu wenig zu Hause besuchen.

Die Sachen von M. zu verschenken, sagt O., das sei, wie Stück für Stück Abschied von M. zu nehmen. Das tue ihr gut. Dass es keine Zeremonie gab auf dem Friedhof, das habe sich M. so gewünscht. Vor Jahren sei ihr verschollen ge­gangener Bruder am Alkohol eingegangen, den hätten sie auch so beerdigt. So wolle er das auch haben, keine Mätzchen, habe M. damals gesagt. »Und wozu brauche ich denn einen Ort, wo ich ihn besuche? Der ist doch in mir, in meinem Herzen.«

Sie beide seien davon ausgegangen, dass sie die erste sein werde, die sterbe. Sechs Jahre habe sie Krebs gehabt.

O. hat keine Chemo-, sondern eine Psychotherapie gemacht – in einer Praxis, die nach der Lehre Wilhelm Reichs arbeitet. Wilhelm Reichs Theorie von den Orgonstrahlen habe nicht so viel mit Sex zu tun, das werde nur immer geschrieben. Es gehe vielmehr allgemein um Lebensenergie. Jetzt sei der Krebs weg, kaum zu glauben.

Im Oktober hat mich M. auf einen großen Wilhelm-Reich-Kongress aufmerksam gemacht. Er würde die Organisatorin B. kennen, und die suche nach Kontakten zu Medien. Ja, schick mal. Ich habe ihr geschrieben, ich könnte eventuell selbst berichten.

Dann bekam ich eine zweite Mail, wo sich B. darüber beschwerte, dass die taz großen Mist verzapft hätte: Autor Helmut Höge hatte darauf aufmerksam gemacht, dass der KitKat-Sexclub auf seiner Internetseite einen Link zur Wilhelm-Reich-Gesellschaft gelegt habe. Jetzt sehe das wieder so aus, als ginge es bei Reich nur ums Bumsen. »Haha«, sagt O., als ich ihr das erzähle.

Dass M. jemals vor ihr tot umfallen könnte, wäre ihr im Traum nicht eingefallen. So ist das mit dem Tod: In zehn Minuten erteilt sie mir, dem katholisch erzogenen Jungen, eine Lek­tion, wie man mit ihm umgeht. Warum man keine Zeremonie braucht und keinen Pfarrer und keinen Grabstein. Und so gern, wie ich auf die Schuhe verzichtet hätte – das hier werde ich noch brauchen können.