Findet Heim!

Die Schlussphase der »Operation Letzte Chance« läuft. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum will die letzten untergetauchten Naziverbrecher zur ­Verantwortung ziehen. Allen voran den ehema­ligen KZ-Arzt Aribert Heim. Doch der soll längst von einer ­geheimen Einsatzgruppe liquidiert worden sein, behauptet der israelische Buch­autor Danny Baz. Von Bernhard Schmid

Muss die Geschichte der letzten noch lebenden Nazigrößen umgeschrieben werden? Sind die Aufrufe zur Fahndung nach dem Nazikriminel­len, der im Konzentrations­lager Mauthausen den Spitznamen »Doktor Tod« erwarb, Makulatur? Um nichts Geringeres dreht sich der Streit, der durch das jüngst im französischen Verlag Grasset erschienene Buch mit dem Titel »Ni oubli ni pardon« (Weder Vergessen noch Vergeben) ausgelöst wurde.

Noch suchen deutsche, österreichische und spanische Polizeidienststellen den – nach dem Auschwitz-Arzt Josef Mengele und dem in Syrien vermuteten Holocausttäter Alois Brunner – drittgrößten Schwerverbrecher des NS-Regimes.

Heim, der 1914 im heutigen Österreich geboren wurde, absolvierte ein Medizinstudium und trat im April 1940 freiwillig in die Waffen-SS ein. Der angehende Mediziner war als Lagerarzt in Sachsenhausen und Buchenwald tätig, bevor er im Oktober 1941 nach Mauthausen – in der Nähe von Linz – versetzt wurde. Dort war er nur etwa zwei Monate, tötete aber in diesem relativ kurzen Zeitraum mehrere hundert Lagerinsassen bei medizinischen Experimenten. Er operierte bzw. öffnete die Häftlinge ohne Betäubung, um »zu Übungszwecken« ihre inneren Organe zu inspizieren, oder spritzte ihnen Giftmittel ins Herz, um »vergleichende Studien« zu deren Wirkung vorzunehmen. Nach sieben Wochen wurde Heim in ein SS-Lazarett in Wien versetzt. Am 15. Mai 1945 wurde er von den US-Amerikanern festgenommen, jedoch einige Zeit darauf freigelassen.

Später arbeitete Aribert Heim als angesehener Frauenarzt in Baden-Baden, bis er 1962 plötzlich untertauchte, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Seitdem fehlt offiziell jede Spur von ihm. Mehrfach wurde er in La­tein­amerika oder zuletzt, 2005, in Spanien vermutet. Dort vermutet ihn auch die Simon-Wiesen­thal-Stiftung, die derzeit die »Operation Letzte Chance« durchführt: eine Kampagne, um die noch frei herumlaufenden nationalsozialistischen Massenmörder zu fassen, bevor es aufgrund des Alters der Täter definitiv zu spät sein wird.

Dies werde die Schlussphase im Rahmen der »Operation Letzte Chance« sein, sagte Efraim Zuroff, Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums, Ende November 2007 in Buenos Aires. Die Ak­tion begann 2002 im Baltikum und wurde seither auf Polen, Rumänien, Österreich, Deutschland, Ungarn, Weißrussland und die Ukraine aus­geweitet. Bisher seien die Namen von 488 Verdächtigen in 20 Ländern ermittelt worden. In 99 Fällen seien die Staatsanwaltschaften eingeschaltet worden, und in drei Fällen Haftbefeh­le ausgestellt sowie zwei Auslieferungsanträge gestellt worden.

Für Hinweise zur Festnahme und Bestrafung von Tätern wurden in Europa bis zu 6 600 Euro ausgelobt. In Polen zum Beispiel gab es Kritik an dieser Praxis. So warnte Wladyslaw Bartoszewski, der als ehemaliger Widerstandskämpfer in Polen als moralische Autorität gilt, die Prä­mien könnten zu Denunziantentum verleiten. Zuroff dagegen verteidigte das Unternehmen. »310 000 Euro haben nun Deutschland, Österreich und wir auf den KZ-Arzt Aribert Heim aus­gesetzt«, sagte er der Deutschen Presseagentur. Heim sei der »größte Fisch«, den es noch zu fan­gen gelte. Das Zentrum habe neue Informationen darüber erhalten, dass Heim doch in Süd­amerika leben soll. »Wir könnten ihm näher sein als seit langem«, betonte der aus Israel ange­reiste Zuroff Ende November 2007. Heim steht auf der Liste der weltweit gesuchten Nazi-Verbrecher an erster Stelle.

Stimmt die These, die Danny Baz in seinem Buch ausbreitet, dann ist die Suche vergeblich. Dann nämlich weilt »Doktor Tod« schon seit 25 Jahren nicht mehr unter den Lebenden – liquidiert von einer Gruppe, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die nicht von einer staatlichen Justiz verhafteten Naziverbrecher zu bestrafen.

Danny Baz, ein früherer Offizier der israelischen Luftwaffe, gibt an, selbst dieser Gruppe angehört zu haben, die in den siebziger und frühen achtziger Jahren von Nordamerika aus aktiv gewesen sei. In ihr hätten sich überlebende jüdische Opfer des Holocaust und Nachkommen von Ermordeten zusammengeschlossen, die oftmals hohe Positionen in der US-amerikanischen Gesellschaft bekleidet hätten. Baz schil­dert, wie er von der im Untergrund tätigen Grup­pe rekrutiert worden sei.

Ihr Name laute »Die Eule«, als Metapher dafür, dass sich die Gruppe als »Rattenjäger« verstanden habe. Als Grund ihrer Existenz nennt Danny Baz die Tatenlosigkeit der US-amerikanischen Behörden hinsichtlich der Naziverbrecher, die auf nordamerikanischem Boden lebten. Schon früh, im Jahr 1945, hätten US-Poli­tiker dem bevorstehenden Kalten Krieg mit dem sowjetischen Block absolute Priorität eingeräumt und die soeben besiegten Nazis in diesem Kontext als potenzielle Verbündete oder zumindest Helfershelfer betrachtet. Die Söhne und Töchter jüdischer Holocaustopfer hätten mit der stillschweigenden Duldung und Protektion hoher US-amerikanischer Stellen beschlossen, die Sache in die eigene Hand zu nehmen und die Nazi­täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.

Das Buch ist keine historische Schilderung und stützt sich auch nicht auf Dokumente, die Baz’ Angaben überprüfbar machen würden: Es liest sich über weite Strecken wie ein Action­krimi. Über 300 Seiten hinweg wird in kurzwei­li­gen Handlungssträngen geschildert, wie die Gruppe wiederholt dem untergetaucht lebenden Aribert Heim auf die Schliche kommt. Zuerst wird er in einem Mittelgebirge im Norden des US-Bundesstaats New York aufgespürt. Dort begibt er sich mit seinen Leibwächtern und einigen braunen Kameraden an einen See, um Was­sersport zu betreiben.

In einer Szene befährt Aribert Heim in einem kleinen Boot mit einem einzelnen Kumpan, mit dem er anscheinend ungestört reden will, den winterlichen See. Die Gruppe schickt ein Kommando aus, um ihn zu schnappen, doch nach einer Schießerei versinkt der getroffene Naziver­brecher im Wasser und kann nicht geborgen werden. Dabei stößt die Aktivistengruppe auf einen Koffer, der im Wasser schwimmt und – neben falschen Ausweispapieren, Gold, Diaman­ten und Bündeln von Geldscheinen – eine Karte mit markierten Örtlichkeiten in der Schweiz und Österreich enthält. Aus den Schilderungen von Baz geht hervor, dass es sich um Hinweise auf einen verborgenen Nazischatz handele, der am Ende des Zweiten Weltkriegs in Alpenseen versenkt wurde. Am Ende des Buches gibt Baz an, seine Gruppe habe sich später um die Bergung dieses Nazivermögens gekümmert, »aber dies ist eine andere Geschichte … «

Später kommt die Gruppe Aribert Heim jenseits der kanadischen Grenze auf die Spur, wo er in einem einsamen Gehöft in der Provinz Québec von seinen Verletzungen genest. Die Ak­tivistengruppe setzt die Nazis unter Druck, indem sie etwa eine nahe gelegene Scheune explo­dieren lässt, und veranlasst sie so, sich zu trennen. Einen Teil der Altnazis verfolgt die Gruppe nach Alaska, wo zwei frühere SS-Männer sich in einsamer Wildnis niedergelassen haben. Aktivisten der »Eule« nehmen sie dort gefangen, nicht ohne mit hungrigen Grizzlybären und anderen Widrigkeiten konfrontiert zu werden. Andere Altnazis werden nach einer Verfolgungs­jagd auf dem Eis in Nordkanada liquidiert. Am Schluss wird Aribert Heim, der in eine Klinik in der Provinzhauptstadt Québec eingeliefert worden ist, aus dem Krankenhaus – wo er, als vermeintlicher »Mafiaboss«, eine abgeschirmte und geschützte Sonderstation für sich hat – entführt. Auf der Insel Santa Catalina bei Kalifornien machen ihm andere Mitglieder der »Eule« den Prozess, und Heim wird liquidiert. Die Geschichte endet hier. Wir sind im Sommer 1982.

Das Hauptproblem bei der Lektüre und ihrer Bewertung ist, zu bestimmen, ob es sich um eine Fiktion oder um die Beschreibung der historischen Realität handelt. Danny Baz liefert kei­ne dokumentarischen Beweise für die Richtigkeit seiner Darstellung. Die französische Presse schien in ersten Rezensionen, die vor wenigen Wochen erschienen, das Buch durchgängig für eine Schilderung authentischer Tatsachen zu handeln. In einem Pressekommuniqué vom Ok­tober 2007 schreibt die Simon-Wiesenthal-Stiftung dagegen ihrerseits, es handle sich bei den Behauptungen von Danny Baz um »pure Phantasie«. Die Stiftung bleibt bei ihrem Aufruf zur Suche nach Aribert Heim und fordert weiterhin dazu auf, Hinweise auf seinen Aufenthaltsort mitzuteilen – davon ausgehend, dass Heim tatsächlich noch am Leben ist.

Die Darstellung in »Ni oubli ni pardon« ist zu romanhaft, als dass man ein Urteil über den his­torischen Wahrheitsgehalt fällen könnte. Dass ein Beteiligter an einer Operation zur Liquidierung eines Nazikriminellen zu einem späteren Zeitpunkt sein Wissen nutzt, um das Publikum zu unterhalten und gleichzeitig über eine historische Realität zu informieren – warum nicht? Aber die Darstellungsform erschwert die Überprüfung der historischen Authentizität des Beschriebenen. Die Fülle an angebotenen Details gibt Anlass zu dem Zweifel, dass der Autor seinem Gedächtnis durch Ausschmückungen und Abrundungen auf die Sprünge half. Manche Details erscheinen auf Anhieb nicht besonders glaubwürdig, können aber den Tücken der Erinnerung an 25 Jahre zurückliegende Ereignisse geschuldet sein. So erscheint die Geschichte über einen versenkten Nazischatz, der nach der Schießerei im Bootswrack auf dem nämlichen See getrieben habe, nur bedingt glaubwürdig.

Ärgerlich sind ferner einige Details an dem Buch, die freilich eher auf den Verlag und sein Lektorat denn auf den Autor zurückschlagen. So scheinen deutschsprachige Namen und Angaben grundsätzlich nicht überprüft worden zu sein. Dass Aribert Heim über ein Konto bei einer deutschen Bank namens »Sbar Kasse« verfügt habe, ist noch witzig. Die Stadt im Salzkammergut, in deren Nähe der Nazischatz im Traunsee gelegen habe, soll dem Buch zufolge »Abensee« heißen und »etwa 100 Kilometer von Salzburg entfernt« liegen. Gemeint ist aber Ebensee, rund dreißig Kilometer weit von Salzburg. Eine Überprüfung der Fakten hätte dem Buch also gut getan. Entscheidend für seine Gesamtbewertung wäre jedoch die Frage nach dem historischen Wahrheitsgehalt – die sich im Moment nicht beantworten lässt.

Danny Baz: Ni oubli ni pardon. Grasset, Paris 2007. 317 ­Seiten, 16,90 Euro