»Die Aufstände hätten auch ohne Wahlfälschung stattgefunden«

Steve Ouma Akoth, ehemaliger Direktor der kenianischen Menschenrechtskommission

Ouma Akoth war bis August 2007 stellvertretender Direktor der Kenya Human Rights Commission (KHRC). Er beschäftigt sich vor allem mit sozialen und kulturellen Rechten, Gender-Themen und ökonomischer Selbstständigkeit. Derzeit arbei­tet er an der University of Western Cape in Südafrika. interview: jan bachmann

Kenia gilt als einer der stabilsten und demokratischsten Staaten in Afrika. Waren die gewalttätigen Ausschreitungen in diesem Ausmaße vorhersehbar?

Die Ausschreitungen sind für jeden von uns Furcht erregend. Tatsächlich gab es im Vorfeld der Wahlen Warnungen, dass es zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen könnte. Der Wahlkampf zwischen Mwai Kibaki und Raila Odinga hat die Gesellschaft stark polarisiert. Aber mit einer solchen Gewaltwelle hat niemand gerechnet. Neben dem Wahlkampf spielen zwei weitere Faktoren eine Rolle: Die Oppositionsbewegung Orange Democratic Movement (ODM) hat ihre An­hänger auf einen überragenden Sieg eingestimmt und gleichzeitig angekündigt, dass die Regierung den Sieg der ODM verhindern könnte. Gleichzeitig gab es zuverlässige Informationen darüber, dass die Regierung unlautere Mittel einsetzen würde. Vorwürfe machten die Runde, in denen die Regierung beschuldigt wurde, die Wäh­lerlisten zu manipulieren und die Polizei zur Anstachelung von Gewalt einsetzen zu wollen.

Welche Rolle spielte die Opposition bei der Eskalation der Gewalt? Wurden die Aufstände schon vor den Wahlen geplant?

Ich glaube nicht, dass die Gewaltausbrüche, die wir gesehen haben, systematisch geplant wurden. Regierung und Opposition werfen sich derzeit gegenseitig vor, für die »systematischen ethnischen Säuberungen« verantwortlich zu sein. Zwar hat die Opposition die Gewalt nicht angestachelt, aber sie hat ihren Anhängern eingeredet, dass die ODM der klare Sieger werden würde. Meine Einschätzung ist daher, dass die Aufstände auch ohne Wahlfälschung stattgefunden hätten. Selbst wenn Kibaki rechtmäßig mit einem knappen Vorsprung gewonnen hätte, wäre es zu Problemen gekommen.

Warum haben sich so viele Jugendliche aus Nairobis Armenvierteln an der Gewalt beteiligt?

Es gibt zwei Erklärungen: Zum einen haben viele Jugendliche die Situation einfach ausgenutzt, um zu randalieren und zu plündern. Da war also ganz einfach Opportunismus im Spiel. Zum anderen hat der Wahlverlauf auch ethnische Vorurteile heraufbeschworen. Die Möglichkeiten für einen sozialen Aufstieg in Kenia werden zu einem großen Teil vom Staat festgelegt, dessen Apparat von der Gruppe der Kikuyus dominiert wird. Der Staat definiert, wer ärmer und wer reicher wird. Diese Logik haben die Jugendlichen verstanden.

Kann die Gewalt auf ethnische Spannungen zwischen den beiden großen Gruppen Kikuyu und Luo reduziert werden, oder spielen auch andere Aspekte eine Rolle?

Die derzeitige Gewalt scheint auf die Spannung zwischen den Kikuyus, zu denen Kibaki gehört, und den anderen ethnischen Gruppen, vor allem Luo, Luhya, Kalenjin und Mijikenda, zurückführbar zu sein. Das zentrale Problem ist jedoch die herrschende soziale Ungleichheit. Die Fixierung auf die Auseinandersetzung zwischen Kikuyu und Luo erklärt beispielsweise nicht den Gewaltausbruch an der Küste, wo ein Großteil der kenianischen Muslime wohnt. Dort ist wohl vor allem die Frustration über die ökonomische Marginalisierung der Auslöser für die Unruhen gewesen. Der Grund, warum sich die Situation entspannen wird, ist jedoch, dass es auf beiden Seiten Arme und Reiche gibt.

Welche Auswirkungen hat die Eskalation auf die kenianische Gesellschaft?

Der aktuelle Konflikt ist politischer Natur und reicht zudem viel weiter zurück als bis zu den Wahlen vom 27. Dezember. Dennoch drückt er sich ethnisch aus. Diese Geschichte müssen wir verstehen, um Aussagen über unsere Zukunft machen zu können. In Kenias politischem System dreht sich alles um den imperialen Charakter des Präsidentenamtes, in dem der Gewinner alles bekommt. Aus diesem Grund ist es zwischen den einzelnen Gruppen immer wieder zu Kämpfen um die Präsidentschaft gekommen.

Die Kikuyu waren zwei Mal an der Macht, unter Jomo Kenyatta und jetzt unter Mwai Kibaki. Dabei darf man nicht vergessen, dass nach der Unabhängigkeit Kikuyu und Luo in derselben Partei vereint waren. Das Kennzeichen beider Regentschaften waren soziale Ungleichheit zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen und die Verarmung der Gruppen, die nicht an der Macht waren. Das ist der Grund dafür, weshalb Kibaki jetzt in sechs von acht Provinzen verloren hat. Falls nun nicht alle acht Provinzen an den Verhandlungen beteiligt werden, könnte die Gewalt erneut eskalieren.

In welchem Maße hat die Regierung Kibaki seit 2002 zum Konflikt und seiner Eskalation beigetragen?

Die Wiege dieser Gewalt ist der Kollaps des »Power Sharing«-Deals zwischen Kibaki und Odinga innerhalb der »Regenbogenkoalition« seit 2002. Obwohl es dieses Abkommen gab, bekämpften sich die Anhänger beider Seiten so stark, dass es in den Wahlen nur noch darum ging, wer als Letzter lacht. Außerdem gab es Vorwürfe, dass Kibaki während seiner Amtszeit verschiedene Posten an Vertraute aus seiner Herkunftsregion vergeben hat.

Ist die kenianische Gesellschaft heute polarisierter als zu Beginn von Kibakis Präsidentschaft?

Ja. Die kenianische Gesellschaft ist zuerst einmal zwischen Arm und Reich geteilt. Kenia ist einer der Staaten Afrikas, der die größte soziale Ungleichheit aufweist. Eine weitere Ebene bilden die interethnischen Beziehungen. Durch die ethnisch stärkere Polarisierung der politischen Parteien unter Kibaki haben sich auch die ethnischen Gruppen deutlich voneinander entfernt. Dieser Ethnozentrismus, der bei unteren Einkommensschichten stärker ausgeprägt ist, scheint nun auch die Mittelschicht zu durchdringen.

Welche Verantwortung tragen die Sicherheitskräfte für die Toten und die Plünderungen?

Kenia war immer ein Polizeiregime. Die Sicherheitskräfte sind repressiv, brutal und niemandem Rechenschaft pflichtig. Die gegenwärtige Situation erlaubt es ihnen, Menschen zu töten und zu vergewaltigen. Mich würde es nicht wundern, wenn unter den Plünderern Angehörige der Sicherheitskräfte gewesen sind.

Welche Chancen bestehen, den Konflikt zu lösen?

Zunächst einmal ist es eine politische Krise, die po­litischer Lösungen bedarf. Daher müssen Kibaki und seine Elite anerkennen, dass die Anspruchshaltung, die ihr Handeln bestimmt, ein Problem darstellt, das die Bevölkerung nicht mehr länger hinnehmen will. Auf der anderen Seite muss sich die Orange Democratic Movement eingestehen, dass die Strategie der Belagerung unverantwortlich ist und zu einer weiteren Eskalation beitragen könnte.

Regierung und Wahlkommission argumentieren, dass der Konflikt nur von den Gerichten gelöst werden könne. Das halte ich für falsch. Es gibt meiner Meinung nach zwei Optionen: Wenn die Gültigkeit der abgegebenen Stimmen garantiert werden kann, dann sollte eine unabhängige Institution – und nicht die Wahlkommission – die Stim­men erneut auszählen. Für den Fall, dass es zu einem anderen Ergebnis kommt, müssen die Gerichte das bestätigen. Diese Option scheint aber derzeit nicht verwirklicht weden zu können.

Die wohl praktikabelste Lösung ist das »Power Sharing«-Modell. Ich habe vorgeschlagen, dass Kibaki und Odinga sich die Legislaturperiode teilen. Kibaki könnte bis Ende 2009 und Odinga bis zu den nächsten Wahlen Ende 2011 regieren. Das ist der einzige Weg, unser Land zu retten und es zu heilen. Außerdem wäre das eine Konstellation von der beide Seiten profitieren würden.

Sollte sich der Westen stärker in Kenia engagieren?

Der Westen hat enorm viel Arbeit zu leisten. Die USA haben ihre Glückwünsche an Kibaki zurückgenommen – das ist das erste Mal, dass so etwas passiert. Kenia stellt für den Westen das Zentrum für Frieden, Stabilität und strategischen Einfluss in der Region dar. Ich denke, der Westen sollte Druck auf Kibaki und Odinga ausüben, damit sie sich die Macht teilen. Ein Zusammenbruch Kenias würde für die USA den »Krieg gegen den Terror« in der Region gefährden. Und für die Europäer stehen die Handelsbeziehungen auf dem Spiel.