»Tote können nicht viel falsch machen«

Vor 30 Jahren zog es den niederländischen Fotografen Anton Corbijn nach London. Post-Punk und insbesondere die Musik von Joy Division waren der Magnet für ihn. Die Fotos, die er damals von Ian Curtis und der Band machte, standen am Anfang seiner Karriere als Dokumentarist des Pop. Jetzt debütiert er als Regisseur des Biopic über das kurze Leben des Joy-Divison-Sängers Ian Curtis.

In »Control« treffen Musik und Film aufeinan­der. War die Mischung dieser beiden Genres im Laufe Ihrer Karriere immer präsent?

Musik war der Grund, warum ich die Kamera in die Hand genommen habe und warum ich da­mals nach England gezogen bin. Allerdings habe ich sehr darauf geachtet, keinen reinen Musikfilm zu machen. Ich wollte nicht, dass »Con­trol« als Rockfilm bezeichnet wird, weil man so sein potenzielles Publikum einschränkt. Wenn man eineinhalb Jahre damit verbringt, etwas auf die Beine zu stellen, will man schließ­lich auch möglichst viele Menschen damit erreichen. Aber natürlich hat meine Liebe zur Musik von Joy Division mein Interesse an diesem Projekt geweckt. Dank ihrer Musik habe ich in meinem Leben Entscheidungen getroffen, über die ich im Nachhinein sehr froh bin.

Meinen Sie damit die Anfänge Ihrer Karriere als Rockfotograf?

Ich habe mich mein Leben lang gegen diese Bezeichnung »Rockfotograf« gesträubt. Es gefällt mir zu glauben, dass ich einige Fotos gemacht habe, die innerhalb der Musikindustrie von gro­ßer Bedeutung waren. Doch eigentlich geht es in diesen Fotos um sehr viel mehr. Das ist der Grund, warum ich nicht in eine bestimmte Kiste gesteckt werden will. Gleiches wünsche ich mir auch für meinen Film.

Ist das der Grund, warum Sie anfangs zögerten, die Regie für diesen Film zu übernehmen?

Ich wollte schon seit vielen Jahren einen Film machen, aber ich bin nun einmal kein ausgebildeter Regisseur. Ich drehe Musikvideos, be­schäf­tige mich mit graphischem Design und fotografiere viel, aber einen Film zu machen, das ist nun mal eine größere Angelegenheit. Wenn man es dann doch angeht, sollte man davon überzeugt sein, dass man bei diesem Projekt wirklich etwas Besseres leisten kann als andere. Keines der Drehbücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, gab mir das Gefühl, ich könnte mehr herausholen als andere Regisseure. Dann kam »Control«. Es bestand sofort eine so starke emotionale Verbundenheit, dass ich der Meinung war, hier wirklich etwas Besonderes schaffen zu können. Ich fühlte, dass mein emotionaler Input all die Nachteile, die ich als Filmemacher hatte, ausgleichen wird.

Die Harmonie der Bilder war Ihnen offensicht­lich sehr wichtig …

Selbstverständlich. Ich wollte, dass der Film po­etisch aussieht. Er sollte nicht so aussehen wie viele andere Filme, bei denen jede Szene umwer­fend ist, denn sonst wirkt der Film wie Werbung. Wir hatten nicht mal ein Storyboard.

Wie haben Sie den Produzenten das Konzept erklärt, ohne etwas Handfestes präsentieren zu können?

Ich habe den Film ja auch nicht finanziert bekommen, deshalb habe ich mein eigenes Geld hineingesteckt. Ich habe sogar eine Hypothek auf mein Haus aufgenommen. Außerdem haben mir mein Nachbar Herbert Grönemeyer und Martin Gore von Depeche Mode finanziell geholfen, als ich das Geld wirklich brauchte.

Das Interesse an Joy Division ist momentan immens. Warum war es dennoch schwierig, den Film zu finanzieren?

Weil ich keinen Hollywood-Film machen wollte. Es handelt sich um einen Film in Schwarzweiß, einen Kameramann, den niemand kannte, einen Hauptdarsteller in seiner ersten Rolle und einen Regisseur, der noch nie einen Film gemacht hat. Und obendrein ist Joy Division eine Band, die niemals einen Hit hatte.

Sie haben berühmte Schauspieler fotografiert, viele davon wurden zu Freunden. Es wäre doch kein Problem gewesen, Ihren Film mit Stars zu besetzen …

Ich bin mit meinen weitgehend unbekannten Schauspielern sehr glücklich. Sie machen die Ge­schichte glaubwürdiger. Das ist auch der Grund dafür, warum Sam Riley so gut in seine Rolle als Ian Curtis gepasst hat.

Wie haben Sie es geschafft, die Stimmung der Joy-Division-Konzerte authentisch nachzuspielen?

Es gab nur sehr wenige Originalaufnahmen, und die wenigen, die existierten, waren von misera­bler Qualität. Wir haben sie natürlich trotzdem bis ins letzte Detail studiert. Die Band selbst war ebenfalls eine große Hilfe, aus Gesprächen mit ihr lernten wir sehr viel. Dazu kommt, dass ich selbst die Chance hatte, mir Joy Division live anzusehen – und somit auch meine eigene Erfahrung miteinbringen konnte.

Haben Sie sich zur Vorbereitung auf die Dreh­arbeiten andere Filme angesehen?

Nein. Den einzigen Film, den ich mir angeschaut habe, war »Kes« von Ken Loach, weil der junge Mann, der die Hauptrolle spielt, so glaubwürdig ist, dass man denkt, man befinde sich in einer Dokumentation. Das hat mir geholfen, die richtige Stimmung für meine Hauptfigur zu finden.

Erst Ray Charles, dann Johnny Cash, Kurt Cobain und Bob Dylan – sind Filme über das Leben von Musikern ein neuer Trend in Hollywood?

Mag sein. Das ist allerdings nicht der Grund, warum ich meinen Film gedreht habe.

Ian Curtis’ Frau Debbie wird im Abspann als Co-Produzentin angeführt. Welche Aufgabe hatte sie?

Sie hat ein paar Mal bei den Dreharbeiten vor­bei­geschaut und uns Tipps gegeben. Sie stand uns auch für Fragen zu Verfügung, aber es war von Anfang an klar, dass dies mein Film sein wird und nicht ihrer. Sie war in vielerlei Hinsicht sehr hilfreich, hatte jedoch keine Entscheidungsmacht. Natürlich hatte sie Angst, dass nicht alles im richtigen Licht dargestellt werden würde …

Wie wurde Ian Curtis zu einer Legende?

Weil er jung gestorben ist und hervorragende Arbeit hinterlassen hat. Er hatte nicht die Möglichkeit, es zu versauen, Tote können nicht viel falsch machen. Außerdem weiß man nicht allzu viel über ihn, da stehen die Leute drauf.

Als er starb, war Joy Division nicht gerade weltbekannt …

Nein, sie waren nie auf Titelseiten. Der Kult um diese Band ist über die Jahre hinweg entstanden. Es ist nun 27 Jahre her, dass Ian gestorben ist, und seine Fangemeinde ist weiter gewachsen, was vielleicht auch daran lag, dass New Order weiter existierte und somit auch Joy Divi­sion weiterlebte. Außerdem ist die Musik dieser Band kaum zu schlagen, sie klingt so modern, da die Produzenten damals ihrer Zeit weit voraus waren. Die Musik klingt einfach nicht nach den siebziger Jahren, sie ist ehrlich und wunder­schön. Deshalb wird die Band heutzutage auch als Vorbild jeder zweiten Rock­band genannt.

Ganz am Anfang Ihrer Karriere haben Sie Joy Division fotografiert. Wie haben Sie Ian Curtis in Erinnerung?

Er war sehr freundlich, fast schon ein bisschen schüchtern. Er hat nicht viel geredet, allerdings habe ich damals auch noch nicht viel Englisch verstanden. Das ganze Shooting hat aber auch nur zehn Minuten gedauert.

Die Fotos haben damals niemandem gefallen, weil alle Bandmitglieder außer Ian Curtis mit dem Rücken zu Ihnen standen.

Niemand hat damals verstanden, was ich eigent­lich damit sagen wollte. Joy Division waren jedoch sehr angetan von dem Foto, und sie haben es später sogar für das Cover einer limitierten Single verwendet. Über die Jahre hinweg ist dieses Bild zum Leben erwacht. Das ist das Faszinierende an der Fotografie.

Wie muss man sich ein Fotoshooting vorstellen?

Ich bin bescheidener, als Sie denken. Nur manch­mal habe ich einen Assistenten dabei. Fotografie ist eine sehr einfache Sache. Ich treffe die Leute – und die Kamera ist nur so etwas wie ein Aufnahmegerät. Meine Arbeit hat nichts mit dem Zirkus zu tun, den andere Leute auffahren, auch wenn man natürlich auch auf diese Weise ein hervorragendes Foto machen kann.

interview: Johannes Bonke