Sympathie für die Maus, Futter für die Katze

Boris Lurie, der Begründer der NO!art, ist tot. Ein Nachruf von matthias reichelt

Die Zigarette gehörte zu Boris Lurie wie zwei Personen zu einem Dialog. Selbst am Vorabend einer schweren Herzoperation hat er es sich nicht nehmen lassen, auf der Toilette im Krankenhaus genüsslich zu rauchen. Ein Foto, das kurz nach Kriegsende 1945, nach Luries furchtbarer Zeit in mehreren Konzentrationslagern – zuletzt in einem Außenlager Buchenwalds bei Magdeburg – gemacht wurde, zeigt ihn »mit den Siegern, denn ich fühlte mich nicht als Opfer«. Boris Lurie arbeitete nach der Befreiung für das Counter Intelligence Corps der U.S. Army als Dol­metscher bei Verhören NS-Verdächtiger. Die Zigarette hatte er bereits damals immer ent­weder lässig in einem Mundwinkel oder in der Hand. Und er begann, sich als Amerikaner zu fühlen.

Das Trauma der Lagerzeit und des Verlusts der Mutter, einer Schwester, der Großmutter und seiner ersten großen Liebe, die alle in Rum­bula bei Riga Ende 1941 ermordet worden waren, holte ihn erst später in New York wieder ein. Dort­hin war er 1946 mit seinem Vater ausgewandert. Es gab kaum eine Nacht, in der er nicht von Arbeitskommandos, Hunger, Selek­tion und Erschießungstod träumte. Präzise und scheinbar ungerührt konnte er davon erzählen. In New York begann er, seine Erlebnisse in figurativen Gemälden festzuhalten, von denen er in dem Dokumentarfilm »Shoah und Pin ups. Der NO!artist Boris Lurie« (2006) sagte, sie seien illustrativ und damit keine richtige Kunst.

In den fünfziger Jahren nahm er immer grö­ße­ren Abstand von der »Illustration« und ver­frem­dete die Körper. Er malte vor allem Frauen, so als ob er sich der Existenz der Frauen ver­sichern müsse, die er verloren hatte. Die Frauen aus seiner Erinnerung waren ermordet worden, die Frauen in New York empfand er als zerstückelt und fett. »Dismembered Women« hieß folgerichtig die Serie von Gemälden, auf denen die weiblichen Körper merkwürdig verformt sind und die Glieder disparat zum Leib erscheinen. Lurie begann auch, sein mediales Instrumentarium zu erweitern. Gegen Ende der Fünfziger kamen die Bilder aus billigen Pornomaga­zinen hinzu. Fasziniert und beängstigt zugleich von der Flut der Frauenkörper, bannte Lurie sie auf die Leinwand und übergoss sie anschließend mit Farbe.

Und er begann, die Weltpolitik in seine Arbeit zu integrieren. Den Kolonialismus, die Atombombe, den Imperialismus und vor allem den Nationalsozialismus und die Shoah fügte er in das Chaos ein. Dabei entstanden große Ta­bleaus, auf denen das Hakenkreuz wie eine Spinne die Umgebung beherrscht oder eine Schlagzeile über den Eichmann-Prozess dominant aus der Unordnung eines Bewusstseinsstroms heraussticht.

1963 produzierte Lurie seine radikalsten ­Bilder. Während die jüdischen Überlebenden in New York das Grauen vergessen wollten und der Kunstbetrieb noch die unverfängliche abstrakte Kunst goutierte oder bereits die Pop Art euphorisch begrüßte, machte Lurie die Shoah unter Verwendung eines überlieferten Fotos zum zentralen Thema. Unter einem grobkörnigen Offsetdruck eines Leichenbergs auf einem offenen Eisenbahnwagen titelte Lurie: »Flatcar Assemblage, 1945, by Adolf Hitler«. Das war ein An­griff auf die Wünsche des Kunstpublikums und auf die medialen Gepflogenheiten im Kapitalismus zugleich. Doch Lurie war dies nicht genug. Er arbeitete aggressiv weiter daran, Dissonanz, Ekel, Empörung und Ablehnung zu erzeugen. In das gleiche Foto montierte er die Rücken­ansicht einer mit Dessous bekleideten Frau und nannte es »Railroad Collage«. Damit brachte er zwei überaus unterschiedliche Kontexte zusammen: den Massenmord, die Vernichtung auf der einen und die männliche Lust auf Sexualität, auf Befriedigung auf der anderen Seite.

Dieses Bild ruft auch heutzutage noch großes Entsetzen hervor und stößt auf Unverständ­nis. Es entzieht sich der eindimensionalen Entschlüsselung und verlangt die Beschäftigung mit den verschiedenen Körperpolitiken der Nazis und der Pornoindustrie sowie mit Bildrezep­tion und Voyeurismus. Lurie dringt damit in die Medien- und Warenkritik und den noch komplizierteren Bereich von Lust und Folter, von Sexualität, Macht und Unterdrückung bis hin zur Vernichtung vor. Ein Schlüssel zu Luries Bild ist das von einem SS-Mann gemachte Foto, das nackte Frauen kurz vor ihrer Erschießung in Libau zeigt. Es wird in der antifaschistischen Aufklärungsarbeit mit der Begründung nicht mehr verwendet, dass es die Opfer nochmals entwürdige, es zu präsentieren. Lurie indes hatte es bis zuletzt als schlechte Fotokopie in seinem Studio hängen: »Um es im Sinn zu behalten«, wie er sich ausdrückte. Nachdem die Folterbilder aus Abu Ghraib aus dem Irak um die Welt gingen, »braucht es keinen Boris Lurie mehr«. So hat er es selbst in dem Dokumentar­film über seine Person gesagt. Eigentlich hatte er immer etwas »Angenehmes« machen wollen, etwas Im­pressionistisches vielleicht, aber irgendetwas hatte ihn nach eigener Aussage »daran gehindert«.

Er begann Ende der fünfziger Jahre, Kollegen um sich zu scharen, um einen Kampf gegen das Kunstestablishment und für die politische und konfrontative Kunst zu führen. Zusammen mit Sam Goodman (1919 bis 1967) und Stanley Fisher (1926 bis 1980) bildete er ein Triumvirat, das 1959 die Bewegung NO!art ins Leben rief. Sie übernahmen die March Gallery, eine der zahlreichen Galerien in der 10. Straße der Lower East Side. Bis 1965 organisierten sie Ausstellungen und luden zahlreiche Künstler zur Teilnahme ein, die später berühmt wurden.

Allan Kaprow, Yayoi Kusama, Jean-Jacques Lebel, Allan D’Arcangelo, Erró und viele andere wurden fortan als »Kämpfer« der lockeren Assoziation der NO!art geführt, auch wenn sie sich nicht als Mitglieder einer Bewegung begriffen. Sie verabscheuten die Kunsttempel, in die man sie eh nicht hineinließ. Bis heute befindet sich kein Bild von Lurie in einer öffentlichen Sammlung in New York. NO!art hieß, die bestehenden Fragen und Konflikte in aggressiver künstlerischer Form an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Künstler begriffen ihre Arbeit als Gegenentwurf zum abstrakten Expressionismus und zur aufkommenden Pop Art, der sie eine gesellschaftskritische Haltung völlig absprachen. Später wohnte Lurie ironischerweise gegen­über von Andy Warhol in der 66. Stra­ße der Upper East Side.

Lurie, der aus bürgerlichem Hause kam, geerbt hatte und seit dem Ende der Sechziger an der Börse spekulierte, fand auch für seine eigene widersprüchliche Stellung treffende Worte: »Meine Sympathie ist mit der Maus, aber ich füttere die Katze.« In den letzten Jahren wurde das Schreiben für Lurie wichtiger als die Malerei. Gedichte und Prosatexte hämmerte er in Russisch, Englisch oder in deutscher Sprache unaufhörlich in seine geliebten Schreibmaschinen. Die Abneigung gegen das schnelllebige New York, das seine Raucher auf die Straße verbannte, wurde größer, er verließ nur noch selten seine Wohnung. Am 7. Januar ist Boris Lurie mit 83 Jahren nach langer Krankheit gestorben.

Der Film »Shoah und Pin ups. Der NO!artist Boris Lurie« von Reinhild Dettmer-Finke, der in Zusammenarbeit mit Matthias Reichelt entstand, wird am 21. Fe­bruar um 20 Uhr im Kommunalen Kino Freiburg gezeigt. Außerdem liest Heinzl Spagel ­Texte von Lurie, Dieter Ilg improvisiert dazu am Bass. Anschließend findet ein ­Gespräch über den Film und Boris Lurie statt.