Mit Soviet Charm beim Hunderennen

Das Walthamstow Stadium in London ist ein Mikrokosmos der Klassengesellschaft. von cathren müller und lukas wieselberg

Pessimistic Mick freut sich, die Zunge hängt ihm aus dem Maul, er jault, wedelt mit dem Schwanz und speichelt sich ordentlich ein, alles zur gleichen Zeit. Neben fünf anderen Windhunden zappelt er in seiner Startbox, er spürt, dass es gleich losgeht. Vor fünf Minuten ist der Rüde noch die Parade vor der Haupttribüne abgeschritten, hat stolz neben Frauchen und Trainerchen seine Nase in die Luft gestreckt und gemeinsam mit den anderen Hunden versucht, eine vornehme Figur abzugeben. Nun aber werden in wenigen Sekunden die Klappen aufspringen, er wird herausstürmen und versuchen, den Hasen zu erwischen. Endlich einmal diesen blöden und vor allem falschen Hasen zu erwischen, denn gelungen ist es ihm noch nie, könnte der menschliche Beobachter hinzufügen. Im Walthamstow Stadium steht gerade das zweite Rennen des Abends an, pünkt­lich um 19.58 Uhr saust der Spielzeughase auf einer elektrischen Schiene an den sechs Windhunden vorbei, ihre Boxen öffnen sich, und schon rennen sie wie wild dem Beutetier hinterher.

Während Hundewettrennen hierzulande keinen besonderen Stellenwert haben, sind sie in Großbritannien nach wie vor sehr beliebt. Im Juli 1926 wurde das erste professionelle Rennen in Manchester gelaufen, im Jahr darauf kamen bereits fünf Millionen Zuseher zu den Rennstätten, der Höhepunkt folgte in den vierziger Jahren. 1945 lockten die Veranstaltungen an die 50 Millionen Zuseher in die damals 77 Stadien. Abende auf der Rennbahn in Wembley mit 30 000 Zuschauern waren keine Seltenheit.

Das Fernsehen und andere Freizeitaktivitäten setzten den Greyhounds nach dem Zweiten Weltkrieg zwar zu, aber noch immer gibt es im Land 29 Rennbahnen. Rund vier Millionen Besucher jährlich sorgen dem nationalen Verband NGRC zufolge dafür, dass Hunderennen weiter der zweitbeliebteste Zuschauersport auf der Insel ist. Die Buchmacher dürfen sich dabei über Wetteinsätze von über zwei Milliarden Euro freuen.

Eine der traditionsreichsten Bahnen steht im Osten von London, im Stadtteil Walthamstow an der Chingford Road. Das Stadion wurde 1933 von Billy Chandler errichtet, 75 Jahre danach befindet es sich nach mehreren Umbauten noch immer in Familienbesitz. Mittlerweile strahlt die Frontseite bei Nacht im retroschicken Grün, Rosa und Rot ihrer Neonröhren. 5 000 Besucher passen auf die Tribünen, die Wetteinsätze hier gehören zu den höchsten des Landes. Abseits der auch bei Touristen beworbenen Bahn zählt Walthamstow nicht gerade zu den Schmuckstücken der englischen Hauptstadt. Zuletzt geriet der Stadtteil im Sommer 2006 kurzfristig international in die Schlagzeilen. Einige islamistische Terrorverdächtige wurden hier aufgestöbert, nachdem sie angeblich mit Kollegen zwölf Verkehrsflugzeuge über dem Atlantik in die Luft jagen wollten.

Pessimistic Mick ist die Nummer drei im zweiten Rennen des heutigen Abends, ein hellbrauner Greyhound mit weißen Flecken auf der Brust und auf der Schnauze. Er hat sein letztes Rennen gewinnen können, kam in den fünf Versuchen davor aber nie über den vierten Platz hinaus, entnehmen wir dem Programmheft. Dort sind die Details zu den jeweils sechs Hunden aller 14 Rennen aufgeführt. Pessimistic Mick wiegt knapp 30 Kilogramm, zuletzt lief er die Normaldistanz von 475 Metern in 29,93 Sekunden. Menschen würde er damit alle hinter sich lassen, der Bahnrekord von einem gewissen Barnfield on Air liegt allerdings noch um fast zwei Sekunden darunter. Vermutlich ist der auch nicht gelaufen, sondern geflogen.

Sechs Hunde treten jeweils an, bei jedem Rennen mit gleich gefärbten Startnummern. Pessimistic Mick läuft mit der Drei in edlem Weiß, Fleur de Lys nebenan mit der Vier in Schwarz. Das macht die Greyhound-Hündin aber auch nicht schlanker, denn schlank sind Greyhounds ja sowieso. Die Rasse ist dem Lehrbuch zufolge »kräftig gebaut, groß gewachsen mit großzügigen Proportionen und Muskelkraft, mit langem Kopf und Hals, kraftvoller Hinterhand, geraden und parallelen Läufen und Pfoten sowie einer Geschmeidigkeit der Glieder, die in besonderem Maße ihre Eleganz hervorheben«. Nun ja, über Eleganz lässt sich streiten, pfeilschnell sind die Hunde allemal. Pessimistic Mick hat den Start allerdings etwas verschlafen, liegt in der ersten Kurve nur auf dem vierten oder fünften Platz, so genau lässt sich das von unserem Standort nicht sagen. Wir sind auf die Seite des »Popular Enclosure« gegangen, die an diesem Dienstag, einem ganz normalen Renntag ohne spezielle Höhepunkte, nur spärlich besetzt ist.

Das Verhältnis der Engländer zur Klassenfrage scheint nach wie vor lockerer und direkter zu sein. Das Walthamstow Stadium ist ein Mikrokosmos der hiesigen Klassengesellschaft. Vis-a-vis unserer »Volkstribüne« liegt die »Main Enclosure«, was sich wohl mit »Haupttribüne« übersetzen lässt. Drüben herrscht der dunkle Anzug mit schon etwas leger sitzender Krawatte bzw. das strenge Kostüm mit Two-Inch-Heels vor, hier das Kapuzenshirt und der durch die Körperfülle durchaus aufgeblähte Pullover. Drüben zahlt man sechs Pfund für den Eintritt, auf unserer Seite eins. Drüben befinden sich zahlreiche schicke Bars und Restaurants, in denen man unter 25 Pfund pro Person kaum durch den Abend kommt. Lounges und Logen laden die Geschäftsleute nach Büroschluss zum Feiern ein. Drüben gibt es Hummer, Steaks und edle Weine, auf unserer Seite Fish and Chips, Burger und Bier. Auch wenn das Ale aus Newcastle durchaus mundet und auch die Fritten schmecken, sind die meisten der rund 100 anderen Besucher hier auf dem Popular Enclosure nicht wegen der kulinarischen Angebote gekommen. Sie wollen die Hunde laufen sehen und beim Wetten ihr Glück auf die Probe stellen.

Francis ist einer von ihnen. Wie er genau heißt und was er uns wirklich erzählt, ist schwer zu sagen. Die Kombination von mangelnden Sprach­kenntnissen unsererseits und seinem Unwillen, darauf mit einer Abkehr von seinem vermutlich Ostlondoner Dia­lekt zu reagieren, sorgt für nur rudimentäres Verständnis. Wie so oft sagen aber Taten mehr als Worte. Offensichtlich hat er auf die Nummer sechs des Rennens gesetzt, Clodiagh Heather, dem Programmheft zufolge der Hund mit den zuletzt besten Resultaten. »Come on, Number six«, brüllt Francis, und wir freuen uns über die Eindeutigkeit der Aussage. Francis zieht kurz und tief an seiner Zigarette – draußen auf den Tribünen darf man noch rauchen, im Inneren des Popular Enclosure herrscht Rauchverbot – und setzt dann zu seinem Unterstützungsfinish an. »Come ooon«, herrscht er quer über die Sandbahn seine Clodiagh Heather an, und die »bitch« bemüht sich redlich. In der letzten Kurve liegt sie auch tatsächlich vorn, gefolgt von Datewithdestiny und unserem Pessimistic Mick. Überhaupt: diese Namen! Der Großteil der Windhunde in England stammt von irischen Züchtern, auf den Stammbaum wird enorm viel Wert gelegt. So sehr sie sich aber in ihrem Genpool ähneln, so stark unterscheiden sie sich in ihren Namen. An diesem Abend sollten wir noch die Bekanntschaft machen von: Control the Bill, Graiguenoe Slim, Beat them George, Soviet Charm, Be Wise Lady, Scary Flight, Daisyfield Bella, Jim the Butcher und Off Course. Alles Namen, die man in einer phantasievolleren Welt auch den eigenen Kindern geben können sollte, die aber hier wenigstens den für das Laienauge gleich aussehenden Hunden Identität verleihen. Für Unbedarfte wie uns ist der Name neben der Leistungsbeschreibung im Programmheft das Hauptkriterium für das Wettverhalten. Auf Pessimistic Mick haben wir natürlich gesetzt: Ironiebonus.

Gut, dass es nur 20 Pence waren, Hundewetten sind ein wohlfeiler Spaß. Der Mindesteinsatz bei dieser Wettform für den kleinen Mann und die kleine Frau beträgt zehn Pence. Pessimistic Mick macht auf der Zielgeraden seinem Namen alle Ehre und fällt zurück, und auch Francis scheint nicht besonders erfreut. Auf den letzten 60 Metern überholt Datewithdestiny doch tatsächlich noch seine Clodiagh Heather, die er nun mit wenig schmeichelhaften Worten, die er quer über den Platz schreit, zu beschreiben versucht. Schade für ihn, schade für uns. Auf längere Sicht geht es uns aber sicher besser als den Hunden, deren Sprintqualitäten wir bewundern. Denn lange hält so ein hündisches Athletenleben nicht an. Mit etwas über einem Jahr beginnt das Training von Greyhounds, mit eineinhalb Jahren laufen sie ihre ersten Rennen, spätestens nach weiteren vier Jahren ist die Karriere auch schon wieder vorbei. Viele der Tausende Windhunde landen dann bei Pharmafirmen als Rohmaterial für Tierversuche, beklagen britische Tierschützer seit langem. Dagegen gibt es auch hier im Walt­hamstow Stadium eine Initiative für »pensionierte Rennhunde«. Sie sucht nach Familien, in denen die Tiere nach Karriereschluss unterkommen. Wir wünschen Pessimistic Mick für dieses finale Rennen das Allerbeste.