Selbstverklärung bis zum Autismus

Die Achtundsechziger selbst sind es, die bis heute die Deutungshoheit über »1968« beanspruchen. Die positive wie negative Überhöhung dieses Datums verweist auf den Kerngehalt jener Bewegung: ihren grenzenlosen Narzissmus. von felix klopotek

Vor einem Jahr gab es ein wenig Aufregung um ein Referat Wolfgang Kraushaars, in dem er sich Johannes Agnoli vorknöpfte und die sensationelle Entdeckung machte, dass dieser eine antiliberale wie antiplurale Demokratiekritik verfasst und sich dabei an faschistischen Theoretikern abgearbeitet habe und obendrein in seiner Jugend selbst Faschist gewesen sei. Nichts davon war vor Kraushaars Enthüllungen unbekannt, im Gegenteil. Agnoli lässt an keiner Stelle seines Werks einen Zweifel an seiner dezidierten Staatsfeindschaft (die sich gerade aus seiner genauen Kenntnis faschistischer Elite-Ideologien speist), und wer es wissen wollte, dem erzählte Agnoli über den Wahn seiner Jugend. Kraushaar betätigte sich öde tautologisch, und so war dieser Fall schnell abgehakt.

Mittlerweile ist dieses Referat veröffentlicht (»Agnoli, die Apo und der konstitutive Illiberalismus seiner Parlamentarismuskritik«, Zeitschrift für Parlamentsfragen 1/2007), wer einen Blick darauf wirft, entdeckt zwei Details, die nicht nur als Indizien der eitlen Diskursgockelei gelten müssen. Zunächst: Kraushaar zitiert die Schriften Agnolis nicht nach der Werkausgabe (erwähnt sie noch nicht einmal), die seit den neunziger Jahren im Ça-ira-Verlag erschienen ist und an der Agnoli selbst mitgearbeitet hat. Es ist also die Ausgabe letzter Hand, und wissenschaftliche Gepflogenheit ist es nun mal, sich daran zu halten. Dass Kraushaar dies nicht tut, verwundert, weil er einen strengen wissenschaftlichen Stil pflegt und alles haarklein in 68 Fußnoten auf 20 Seiten nachweist. Alles? Eben nicht – das ist die zweite Nachlässigkeit.

So schreibt er im Hinblick auf Agnolis 1975 veröffentlichte Aufsatzsammlung »Überlegungen zum bürgerlichen Staat«: »Tatsächlich gelingt es ihm (Agnoli, F.K.), einen zeitweilig in der Linken vakanten Platz zu besetzen – den einer als marxistisch geltenden Staatsanalyse als Teil einer gegenwartsbezogenen politischen Theorie. Diese im bundesdeutschen Nachkriegsmarxismus vorhandene Lücke konnte schließlich weder von einem Vertreter der Frankfurter noch von einem der Marburger Schule ausgefüllt werden.« Das ist einfach falsch, weil es seit 1970 in der BRD eine überaus lebendige, bis zur Redundanz produktive Debatte um die marxistische Staatskritik gab, deren »Urtext« und wichtigstes Dokument eben nicht Agnolis »Transformation der Demokratie« (1967) war, jene vermeintliche »Bibel der Apo«, sondern »Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital« (1970) von Christel Neusüß und Wolfgang Müller. Agnolis Schrift von 1975 reagiert (mindestens indirekt) auf diese furiose Schrift und steht in keiner direkten Linie zur »Transformation«. Bei Kraushaar erfährt man von dieser Debatte, deren Teilnehmer Agnoli doch war, nichts.

Warum lässt Kraushaar diese Kleinigkeiten in seinem sonst so peniblen Aufsatz nicht zu? Weil sie die Existenz einer radikalen Gesellschaftskritik in der BRD jenseits des großen Fetischs »1968« beweisen und damit den Narzissmus einer Generation, für die man den Chronisten Kraushaar exemplarisch nehmen kann, durchaus ankratzen würden. Der so ungeheuer staatstragende Gedankengang Kraushaars geht ja so: Agnoli war ein Vordenker der Achtundsechziger; Agnoli war ein Liebhaber (prä-)faschistischen Denkens und steht für die dunkle Seite von 1968; Agnoli spielt für die heutige Zeit überhaupt keine Rolle. Die Tatsache, dass Agnolis Schriften in den neunziger Jahren überhaupt erst wieder zugänglich wurden, würde da nur stören.

Die Agnoli-Renaissance in der Linken hat nichts mit »1968« zu tun. Das gilt auch schon für die Staatskritik der frühen siebziger Jahre: Denn die »Sozialstaatsillusion« ist Lichtjahre von dem fürchterlichen Kauderwelsch eines Rudi Dutschke entfernt, die noch ungelenken Adornismen eines Hans-Jürgen Krahl fehlen, und auch der Demokratieidealismus, der die gesamte Bildungsreform- und Antinotstandsbewegung kennzeichnete, ist hier nicht mehr zu finden. Die Protagonisten der Staatskritikdebatte mögen Achtundsechziger gewesen sein (Christel Neusüß veranstaltete zu der Zeit an der Uni Erlangen Marx-Lesekreise), thematisch gesehen knüpft dieser Streit aber an die linksradikale Tradition kommunistischer Staatskritik an (Marx: »Klassenkämpfe in Frankreich«, Lenin: »Staat und Revolution«, Korsch: »Staat und Konterrevolution«) – was weit über »1968« hinausgreift.

Indem Kraushaar diese Kontinuitäten nicht zulässt, bleibt alles schön subsumiert unter einem Label: Es hat in den vergangenen 60 Jahren keine authentische Form von Staats- und Kapitalkritik jenseits von »1968« gegeben. Was »1968« stattfand, war entweder dunkel, verwirrt, voller Faschismen, siehe Agnoli, oder es weist den Weg zu einer grün-liberalen, aufgeklärten, westlichen Gesellschaft, einen Weg, den Wolfgang Kraushaar eingeschlagen hat oder auch Götz Aly, der sein demnächst erscheinendes (autobiographisches) Abrechnungsbuch schön zynisch »Unser Kampf« nennt.

Kraushaar ist aber nun nicht jemand, der »1968« für sich vereinnahmt, so dass eine Schlacht zur Rückeroberung »unserer« Tradition stattzufinden hätte. 1968 ist unter den Gesichtspunkten der Kritikproduktion kein bedeutendes Datum, und auch die zahlreichen gesellschaftlichen Kämpfe abseits der Universitäten sind nicht an 1968 gebunden. Kurzum: Es ist ein Datum unter vielen.

Was an Kraushaar interessant, besser: exem­plarisch ist, das ist sein Narzissmus, genau dieser Narzissmus ist »1968«: Es waren die Achtundsechziger, die den richtigen antiimperialistischen Kampf führten (und sich die Freiheit nahmen, ihn wegen Orgasmusschwierigkeiten auch wieder abzusagen); die in die Fabriken gingen, um den Arbeitern den richtigen Weg zu weisen; die flotte Grußbotschaften an Pol Pot richteten und sich moralisch-hysterisch gehen ließen, was den Staat Israel angeht. Es ging jedoch nicht um den antiimperialistischen Kampf, um die Arbeiter, um das Schlachten in Kambodscha und die Tragödie in den von Israel besetzten Gebieten, sondern einzig um die eigene Befindlichkeit – letztlich die legendären Orgasmusschwierigkeiten. Dieser Narzissmus tritt einem selbst aus den für sich genommen marginalen Auslassungen Kraushaars entgegen.

Es sind die Achtundsechziger, die bis heute die Deutungshoheit über »1968« beanspruchen oder zumindest determinieren. Wie noch Kai Diekmanns Beschwörung dieser angeblich verfaulten Zeit demonstriert: Auch der Bild-Chefredakteur kommt nicht umhin, dieses Jahr, diese Generation ins Diabolische zu überhöhen.

Warum? »Die Revolte von 1968 war das Betriebs­geräusch, das dadurch entstand, dass die neue Massenschicht (die Intelligenz, F.K.) sich auf ihren Platz im politischen und gesellschaftlichen System drängelte«, schrieb Georg Fülberth in der vorigen Woche (Jungle World 3/08), was als entscheidender Hinweis zu nehmen ist: In der Intelligenz fällt der konsumistische Hedonismus des Bürgertums mit der erzwungenen Produktivität der Arbeiterklasse zusammen. Und darüber hinaus: Ihren durch Vermassung und zunehmende Einbindung in das System der technologisch-industriellen Arbeitsteilung bewirkten objektiven Bedeutungsverlust kompensiert die Intelligenz durch Konsumlust. Eine Konsumlust, durch die sich die neubürgerliche Subjektivität sich selbst bestätigend betätigt und die ihre Entsprechung in einem Narzissmus hat, dem alle Vorkommnisse, von kämpfenden Vietnamesen bis zu mürrischen Arbeitern, zum Material des eigenen Gemütshaushalts werden. »Befreite und der Befreier wollen, im Gegensatz zu 1945, eine Person gewesen sein«, bemerkte Diedrich Diederichsen an dieser Stelle ganz richtig (1/08). Diese Selbst­verklärung bis zum Autismus hält bis heute an.

Wer etwas über Marxismus, über soziale Kämpfe, über gute Musik und gute Filme lernen will, braucht »1968« nicht, noch nicht mal zur Abgrenzung. Was man aus – nicht: von – »1968« lernen kann, ist dies: eine radikale Selbstkritik der Intellektuellen. »Die Praxis freizuschaufeln vom Gerümpel der Theorie, die Besatzungsmacht, als die sie sich gegenüber der Praxis aufspielt, zu vertreiben (…), ist die vornehmste (…) Aufgabe für die theoretische Reflexion«, hat es Ilse Bindseil auf den Punkt gebracht. Übrigens eine Achtundsechzigerin.