Zwischen Farbbeutel und Kofferbombe

Wofür braucht ein Staat eigentlich einen speziellen Terrorismus-Paragrafen? Zur Verfolgung von Terrorismus jedenfalls nicht. von ron steinke

Was man beim Bundesgerichtshof (BGH) unter Terrorismus versteht? Richter Klaus Miebach vom dritten Senat des BGH legt die Entscheidungs­kriterien in der aktuellen Ausgabe seiner Gesetzeskommentierung zum Paragrafen 129a großzügig offen. Mit dem Begriff »terroristisch«, erklärt Miebach dort, sei »keine eigenständige Erscheinungsform sozialschädlichen Verhaltens« gemeint, vielmehr sei die »ideologisch extremistische Grundlage« der Verdächtigen für eine Strafbarkeit ausschlaggebend.

Ob es nun Solidarität, eine Selbstbezichtigung oder gelegentlich auch ein bisschen Kollektivstolz à la »Wir sind Papst« ausdrücken soll, wenn auf Demonstrationen »Wir sind alle 129a« gerufen wird, der Kern des Problems ist damit jedenfalls gut getroffen. Die politische Gesinnung steht bei der Verfolgung mit dem Terrorismus-Paragrafen ganz offiziell im Vordergrund. Dem Paragrafen, der den Ermittlungsbehörden bereits vor der Sicherung irgendwelcher Beweise das größte Arsenal an Überwachungsmöglichkeiten eröffnet, das es im deutschen Strafprozessrecht gibt, genügt für diese Maßnahmen der bloße Anfangsverdacht. Und ob die Behörden sich dieser Möglichkeiten letztlich legal bedient haben, hängt eben auch vom Vorliegen der von Miebach so bezeichneten »ideologisch extremistischen Grund­lage« ab. Über die Frage, wie diese auszusehen hat, gibt Miebachs Gesetzeskommentierung jedoch keine Auskunft.

So weitgefasst der Tatbestand des Paragrafen 129a ist, so eng umgrenzt ist der Kreis derer, die über seine praktische Anwendung entscheiden. Das Verfolgungsmonopol nach Paragraf 129a hält die Bundesanwaltschaft, die ihrerseits den Weisungen von Bundesjustizministerin Brigitte Zy­pries (SPD) untersteht. Und wann immer der Monopolist sich dazu entschließt, ein Verfahren zur Anklage zu bringen und seine Beweise einem Gericht zu zeigen – was nur in etwa drei Prozent der Fälle geschieht –, ist auch dort dafür gesorgt, dass die Terrorismus-Verfolgung gebündelt bleibt: Innerhalb der Judikative ist für die Verfahren nach Paragraf 129a eine eigene Parallelstruktur zuständig. So bestehen in den einzelnen Bundesländern Spezialgerichte für Staatsschutzdelikte, an die besonders staatstreue und »erfahrene« Richterinnen und Richter berufen werden.

Vor den so genannten Staatsschutzkammern gelten nicht einfach die prozessualen Rechte, die die Strafprozessordnung »normalen« Angeklagten garantiert. Der Terrorismus-Paragraf 129a bringt eigene, wesentlich schärfere Regeln mit sich. So können die Staatsschutzkammern etwa das Recht der Angeklagten auf vertrauliche Kommunikation mit einer Anwältin oder einem Anwalt schlicht aufheben. Zudem haben sie erweiterte Möglichkeiten, Untersuchungshaft zu verhängen sowie das gesamte Umfeld der Verdächtigen zu überwachen.

Selbst am Ende der Instanzen, beim Bundesgerichtshof (BGH), wird die Anwendung des Terror-Paragrafen nicht von einer Instanz überprüft, die außerhalb dieses kleinen Kreises von eigens dafür ausgewählten Juristinnen und Juristen steht. Auch beim BGH ist eine Staatsschutzkammer zuständig, dies ist der dritte Senat. Dort wird zwar, wie in jedem Strafgericht, gelegentlich darüber gestritten, wann für die Annahme von »Linksterrorismus«, »Rechtsterrorismus« oder »islamischem Terrorismus« die Beweise genügen. Bei der grundlegenderen Frage, vor welchen »ideologisch extremistischen Grundlagen« der Staat besonders geschützt werden müsse, spiegeln sich die jeweils aktuellen Vorstellungen der Bundesanwaltschaft jedoch in der Verfolgungs- und Urteilspraxis ohne größere Verzerrungen wider.

Gegen neonazistische Gruppen, die bekanntlich eher eine Gefahr für fremd aussehende Zivilisten als für Bundeswehrfahrzeuge oder Atommülltransporte darstellen, wurden im Jahr 2006 nur zwei Verfahren nach Paragraf 129a geführt. Ermittlungen wegen »Linksterrorismus« führte die Bundesanwaltschaft dagegen im selben Zeitraum in 18 Verfahren. Diese Zahl ist zwar weit entfernt von denen der achtziger Jahre (1981: 554; 1984: 200). Allerdings können von jedem Verfahren viele Menschen betroffen sein, angesichts der heutigen Überwachungs­möglichkeiten noch weitaus mehr als früher. Im Jahr 2007, für das bislang keine offiziellen Zahlen vorliegen, dürfte der Abstand zwischen Verfahren wegen »Links-« und »Rechtsterrorismus« infolge der Ermittlungen rund um den G8-Gipfel noch deutlicher ausfallen.

Allerdings: Ein Staat, der die abstrakte Staatsgewalt gegenüber seinen potenziellen Gegnern anschaulich machen will, muss natürlich auch die Verfolgung politischer Gesinnungen nur dort betreiben, wo nicht ohnehin schon Straftaten vorliegen, die zur schweren Kriminalität gehören. Wenn sich die Praxis des Terrorismus-Paragrafen 129a mehr gegen linke als gegen rechte Gruppen richtet, dann geschieht dies also paradoxerweise nicht obwohl, sondern gerade weil erstgenannte sich, neben der Produktion von radikal klingenden Texten, die als Beweismaterial für ihre »Gesinnung« dienen können, meist auf das Werfen von Farbbeuteln oder kleinere Brandstiftungen beschränken. Die meisten dieser Taten würden für sich genommen noch nicht einmal für eine Telefonüberwachung ausreichen.

Für die Bestrafung von schweren Gewalttaten bräuchte der Staat keinen Gesinnungsparagrafen, für die Überwachung der entsprechenden Tatverdächtigen auch nicht. Als im Jahr 2003 über neue Strafvorschriften gegen internationalen Terrorismus diskutiert wurde, wurden diese nichtsdestotrotz ausgerechnet im Paragraf 129a verankert. SPD und Grüne schränkten den Paragrafen damals zugleich etwas ein und präzisierten ihn. Durch den Verweis auf den »neuen« Terrorismus sollte der aus dem Jahr 1976 stammende Terrorismus-Paragraf auch auf eine neue, zeitgemäße Legitimationsgrundlage gestellt werden – allerdings ohne auf die Verfolgung seiner bisherigen »Zielgruppe« zu verzichten.

Seither ist der Anteil, den die Ermittlungen gegen islamistische Gruppen am Gesamtaufkommen der Bundesanwaltschaft ausmachen, kontinuierlich gestiegen. Nach dem 2003 geschaffenen Paragraphen 129b, in dem es um »terroristische Vereinigungen im Ausland« geht, wurden von der Bundesanwaltschaft im Jahr 2006 ganze 58 Verfahren geführt, darunter 44 Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder der Organisation Ansar al-Islam und eines gegen ein mutmaßliches Mitglied der Hamas.

Die Anpassung des 129a- und 129b-Instrumentariums an den islamistischen Terrorismus könnte demnächst auch für Linke Folgen haben. Bislang setzte die Annahme einer »terroristischen Vereinigung« nach den Paragrafen 129a oder 129b stets mindestens das Vorhandensein dreier Mitglieder voraus. Um auch Einzeltäter wie die beiden »Kofferbomber« von Koblenz unter den Terrorismus-Paragrafen fassen zu können, erwog die Bundesregierung im vergangenen Jahr die Erweiterung des juristischen Anti-Terror-Systems um die neuen Paragrafen 129c und d. Ein Entwurf von Zypries sah jedoch zuletzt vor, die Verfolgung von Einzelpersonen an einer anderen Stelle, in einem neuen Paragrafen 89a, zu regeln. Für die Justizministerin bedeutet die Vermeidung der symbolträchtigen Zahl 129 vielleicht, dass keine neuen Proteste herausgefordert werden. Für andere erfordert das möglicherweise bald ein Umlernen. Wer auf Anti-Repressionsdemonstrationen in Zukunft betonen will, keine Freunde zu haben, kann dann vielleicht mit einem »Wir sind alle 89a« für Verwirrung sorgen.