»Alles Arschlöcher hier!«

Das Saarbrücker Max-Ophüls-Festival ist etwas Besonderes: das größte Festival für den deutschsprachigen Nachwuchsfilm, ­basisdemokratisch und »Trendanzeiger« deutscher Filmkunst. Das sagt man zumindest so. Von Julian Bernstein

Dem Saarbrücker Regisseur Max Oppenheimer alias Max Ophüls, der Deutschland einst den Rücken kehrte, sollte eine Retro­spektive gewidmet werden. Das war 1979. Das Festival mit dem Anspruch, besonders den filmischen Nachwuchs zu fördern, gibt es seitdem jedes Jahr.

Kurz vor dem 30. Jubiläum stellt sich die Frage, was vom rebellischen Jungfilmertum und der Brisanz früherer Tage geblieben ist. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das einst so chaotische Festival heutzutage von durchgestylten »Eventmanagern« organisiert wird, die, von über­ambitionierten Praktikanten flankiert, daran scheitern, auf Teufel komm raus glamouröses Filmfest-Feeling herbeizuzaubern. Nein, fast gelingt es ja.

Das protzige Eröffnungsspektakel, das von Jahr zu Jahr unerträglicher wird, der jährlich eingeladene Superstar, mal Michael Ballhaus, dieses Jahr Senta Berger, und natürlich die Horde der Kritiker erfüllen gekonnt ihre Aufgabe.

Die 29. Ausgabe des Festivals ist weit entfernt von den Kontroversen früherer Tage, in denen man Filme zeigte, die sonst niemand zeigen wollte. »Taxi zum Klo« zum Beispiel. Auf der Berlinale abgelehnt, in Saarbrücken ausgezeichnet. Auch politisch war früher mehr los. In den Achtzigern sorgte Oskar Lafontaine dafür, dass Regisseure aus der DDR in die BRD einreisen durften, und Professor Lothar Bisky – damals noch in seinem Job als Lehrbeauftragter an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam – belieferte Saarbrücken mit Kurzfilmen. Und heute? Die DDR gibt’s nicht mehr, und über schwulen Sex im Kino regt sich auch keiner mehr auf. Wer braucht heute noch Kontroversen? Das Festival ist etabliert.

Ganz lässt sich der ursprüngliche Charakter der Veranstaltung aber nicht verbergen. Jeder ist mit jedem per Du, man trifft Senta Berger auf dem Weg zum Klo, und letzte Reste von Professionalisierungsresistenz lassen sich immer noch ausmachen. Fehlende Untertitel, kaputte Mikros, Kinosäle, deren Überfüllung gegen jede Sicherheitsvorschrift verstößt, prägen das Ambiente.

Gerade das, was vornehme Feuilletonisten, die gerade ihr Aufbaustudium Kulturjournalismus hinter sich haben, nörglerisch als Provinzialismus abkanzeln, macht das Festival interessant. Im Grunde genommen prallen in Saarbrücken zwei Welten aufeinander: junges Kulturproletariat und Schickeria. Als so genannter Jungregisseur oder -schauspieler ist man eben doch noch nicht so abgebrüht. Man mischt sich unters Publikum, zecht die Nächte im Festivalclub namens »Garage« durch und verteidigt den ideologischen Überbau seines Films. Vermutlich gibt es kein Filmfestival, bei dem es so leicht ist, Kontakte zu knüpfen – wenn auch nach den Gesetzen der branchenüblichen Sozialhierarchie: Die Träger der roten Kärtchen sind wichtiger als die der blauen, Regisseure schleimen bei Produzenten und Kritikern, Schauspieler bei Regisseuren, und ganz unten versucht sich einsam der Pöbel. Am besten man parodiert das lästige Networking wie R. und M.: Der eine ist Student, der andere jobbt im Drogenhilfezentrum. Beide tragen gefälschte Karten mit dem Schriftzug »Filmindustrie«. Beide planen wichtige »Projekte«, die niemals zustande kommen werden, mit Trägern der roten Karten. Das sei ihr Hobby, meint R.

Nachdem man sich durch die Filme des Wettbewerbs und der zahlreichen Nebenreihen gekämpft hat, wird einem schnell klar, dass in der Branche der Filmförderung dieselben Gesetze wie in der Natur herrschen müssen. Man setzt eher auf Quantität und hofft, dass irgendwann etwas Gutes dabei herauskommt. Obwohl kultur­pessimistische Kreise von einer allgemeinen Verflachung des Niveaus sprechen, lässt sich nicht leugnen, dass es, neben abgefilmter Langeweile auf dem Niveau von ARD-Fernsehfilmen, ein paar gute Produktionen gab. Auch sehr politische, die bezeugen, dass die Debatte, ob Politik in der Kunst überhaupt etwas zu suchen habe, noch nicht beendet ist.

Zum Beispiel die Dokumentarfilme »Allein in vier Wänden« von Alexandra Westmeier und »Der Pfad des Kriegers« von Andreas Pichler. Der erste erscheint schon fast zu ausgesucht für die Debatte um Straflager für kriminelle Jugend­liche, denn er ist in genau einem solchen gedreht. In Russland. Effektiv ist das Gefängnis, was die Rückfallquote angeht: 92 Prozent. Zwar erfährt man nur schemenhaft vom Alltagsleben im Kinderknast, und das Zeigen von Disziplinierungsmaßnahmen fehlt völlig. Dennoch funktioniert der Film in seiner Fokussierung auf die psychische Gebrochenheit der kriminellen Kinder, die gleichermaßen als Opfer und Täter porträtiert werden. Neben dem Dokumentarfilmpreis bekam er ironischerweise auch den Preis des Ministerpräsidenten Peter Müller (CDU).

»Der Pfad des Kriegers« erzählt den Lebensweg des Tiroler Theologen Michael N., der sich in den achtziger Jahren dem bewaffneten Kampf in Bolivien anschloss und 1990 bei einer gescheiterten Entführung des bolivianischen Coca-Cola-Chefs in La Paz erschossen wurde. Der Film ist psychologisch und als Analyse der Zeit nicht uninteressant, doch stößt man sich an der Gleichsetzung einer christlich-sozialrevolutionären Bewegung mit islamistischem Terrorismus. Bilder der Attentate von London werden unkommentiert eingeblendet und schaffen eine Parallele, die nicht existiert. Die unqualifizierte Reaktion von Teilen des Publikums war daher nicht verwunderlich: spöttische »Mohammed-Atta«-Rufe.

Erfreulicher ist da der Gewinnerfilm: »Selbstgespräche« von André Erkau. Eine Tragikomödie, deren Zentrum der postmoderne und turbo­kapitalisierte Arbeitsplatz schlechthin ist: das Callcenter, das, anders als die Wortbedeutung suggeriert, die Taubheit der Gesellschaft symbolisiert, wird als ein Auffanglager für gescheiterte Menschen dargestellt, in dem der sozial Gestörteste die höchste Verkaufsquote hat. Obwohl durchaus unterhaltsam, ist die Erzählweise des Films insgesamt vielleicht ein wenig zu nett geraten. Das Radikale fehlt. Einen besonders surrealen Moment erlebt man hingegen beim Gastauftritt Günter Wallraffs, der fünf Sekunden im Film zu sehen ist und mit seinem einzigen Satz eine geradezu kennerhafte Analyse der ganzen Branche liefert: »Alles Arschlöcher hier!«

Nach der Festivalwoche ist klar: Eine möglichst große Außenwirkung zu erzielen und dabei gleichzeitig den Anspruch zu verwirklichen, rebellisches Jungfilmer-Kino zu zeigen, wird immer schwieriger. Gute Filme gab es. Sicher. Es bleibt dennoch ein Unbehagen. Man hat bis auf einige Ausnahmen den Eindruck von Ideenlosigkeit. Die Erkenntnis, im Langfilmwettbewerb nichts wirklich Neues gesehen zu haben, drängt sich auf, man reibt sich seine viereckigen Augen und hofft aufs nächste Jahr.