Mehr Geld!

Die Löhne sinken seit Jahren, die Willkür der Unternehmer wächst und wächst. Höchste Zeit, dass wenigstens ein Mindestlohn gefordert wird. von winfried rust

»Chef bekloppt – mehr Geld!« Der Toilettenspruch, der früher in einer Freiburger Szenekneipe zu lesen war, ist nach wie vor aktuell. Das belegen zwei Umfragen aus der jüngsten Zeit. Nach dem »DGB-Index Gute Arbeit« gab nur etwa jeder zehnte Lohnabhängige das Urteil »gut« über seine Situation am Arbeitsplatz ab. Ein Mindestlohn findet »Infratest dimap« zufolge bei 78 Prozent der Befragten Zustimmung.

Während der genannte Spruch verblasste, stieg das Einkommen in Deutschland – seit 1990 um 500 Milliarden Euro oder etwa 40 Prozent. Der Anteil der Löhne am Einkommen der Bevölkerung sank in dieser Zeit von über 70 auf 67 Prozent, und vor allem in den letzten Jahren wuchs der so genann­te Niedriglohnsektor. Die steigende Produktivität ging mit einer Entwertung der Arbeit einher.

Die Politik senkte währenddessen die Steuern für die Unternehmen und förderte jenen Niedrig­lohnsektor, zum Beispiel mit der Einführung der 400-Euro-Jobs. In den beiden vergangenen konjunkturstarken Jahren stieg die Zahl derer, die für weniger als 7,50 Euro brutto pro Stunde arbeiten, noch einmal von 4,6 auf 5,5 Millionen. Das sind inzwischen 17,7 Prozent aller abhängig Beschäftigten. 63 Prozent von ihnen sind weiblich und der Anteil der Personen ausländischer Herkunft, der Alleinerziehenden, der Familien und der Ostdeutschen ist besonders hoch. Die Zahl der Jobs, für die weniger als fünf Euro Stundenlohn gezahlt werden, stieg von 1,5 auf 1,9 Millionen. Ebenfalls stark zugenommen hat der Anteil derer, die Vollzeit zu Niedriglöhnen arbeiten, das sind derzeit zwei Millionen. Der als »Sprungbrett« für den ersten Arbeitsmarkt beschönigte Niedriglohnsektor hat sich verselbständigt.

Das Milieu der Betroffenen ist heterogen. Manche von ihnen können die Wechselhaftigkeit des Daseins als Jobber oder Jobberin sportlich auffassen. Andere leiden unter den materiellen und seelischen Beeinträchtigungen, die infolge der prekären Lebens­umstände entstehen. Des Öfteren tauchen in der Berichterstattung Sätze auf wie: »Auswärts essen ist nicht mehr drin.«

Auf der Internetseite »mindestlohn.de« finden sich Hinweise dafür, dass sich nicht nur Niedrig­löhne immer weiter verbreiten, sondern auch der gezahlte Stundenlohn noch weiter sinkt und die Willkür der Unternehmer bisherige Grenzen überschreitet. So bekam eine Angestellte des Ham­burger Dorint-Hotels für 21 Arbeitstage 413 Euro Lohn, was einem Bruttostundenlohn von 2,46 Euro entspricht. Eine Kollegin im Berliner Ritz-Carlton kam auf 2,80 Euro pro Stunde und eine unbezahlte »Probezeit« von 20 Stunden. Meist werden die Arbeitszeiten aber nicht so genau aufgeschrieben. Der Arbeitsvertrag einer Gebäudereinigungsfirma verpflichtete die Arbeitnehmerin, »eine Vertragsstrafe von bis zu einem Bruttomonatslohn« zu zahlen, »wenn er/sie das Arbeitsverhältnis vertragswidrig, insbesondere ohne Einhaltung der Fristen, beendet oder gekündigt wird«. Soweit die Beispiele. Die Folgen der Entwertung menschlicher Arbeit gehen über die schlechte Bezahlung hinaus – sie berühren die Menschenwürde.

Ein allgemein gültiger Mindestlohn würde immerhin verhindern, dass die Löhne noch weiter sinken. Mit den 4,50 Euro Stundenlohn, die der »Wirtschaftsweise« Bert Rürup vorschlägt, kommt man bei einer Vollzeitbeschäftigung auf etwa 750 Euro im Monat. Für eine Familie beziehungsweise eine »Bedarfsgemeinschaft« mit Kind wären etwa 800 Euro ergänzende Arbeitslosenhilfe für den Lebensunterhalt notwendig. Selbst bei 7,50 Euro Stundenlohn bräuchten Personen in dieser Konstellation noch etwa 250 Euro Wohngeld und könnten keine nennenswerten Beiträge für Steuern und Sozialversicherung bezahlen. Erst ab einem Bruttostundenlohn von über elf Euro müssen die öffentlichen Kassen bei verheirateten Alleinverdienenden nicht mehr zuschießen, als sie einnehmen.

Lange Zeit hatte man die stete Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einfach hingenommen. Gerade unter denjenigen, die die niedrigsten Stundenlöhne bekommen, regte sich kaum Widerstand gegen die Verhältnisse. Mit einem befristeten Arbeitsvertrag kann man ohnehin wenig gegen den Unternehmer ausrichten. Und die meisten sind auf die Jobs angewiesen, auch wenn sie die Bezahlung schlecht finden.

Nicht zuletzt die wachsende Bereitschaft zu streiken deutet darauf hin, dass die Unzufriedenheit wächst. Ist der soziale Frieden in Gefahr, reagiert sogar die Politik – mehr oder weniger – entgegenkommend. Förderte in den Jahren der rot-grünen Regierung gerade die SPD den Niedrig­lohn­sektor, so sagt heutzutage der Parteivorsitzende Kurt Beck: »Billiger als in Indien können wir in Deutschland nicht arbeiten, und wir wollen es auch nicht.«

Dagegen warnen der Großteil der CDU, die FDP und vermeintliche Wirtschaftsexperten vor dem Mindestlohn. Dem Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung zufolge würde schon ein Mindestlohn von 4,50 Euro pro Stunde etwa 365 000 Arbeitsplätze gefährden, ein Mindestlohn von 7,50 Euro sogar 1,1 Millionen Jobs. Horst Siebert, ehemaliges Mitglied des Sachverständigenrats, argumentiert, dass ein Mindestlohn, der über der Produktivität eines Arbeitnehmers liege, diesen den Arbeitsplatz koste und ihn zum »Outsider« mache. Axel Börsch-Supan, der Vorsitzende des wissenschaftlichen Beirats beim Bundwirtschaftsministerium, sagt, der Lohn für gering qualifizierte Menschen werde nun einmal vom Markt festgelegt, und wer ihn höher festsetze, bewirke, dass Maschinen die Arbeit ersetzten oder die Produktion ins Ausland verlegt werde. In Frankreich habe der Mindestlohn dazu beigetragen, »die arbeits- und hoffnungslosen Jugendlichen in die Jugendkriminalität zu treiben«. Nach Berechnungen des DGB allerdings gleichen neue Arbeitsplätze, die durch das steigende Konsumniveau entstehen, die Verluste wieder aus.

Viele Fragen sind noch offen im Zusammenhang mit dem Mindestlohn. Etwa die: Warum wird die Solidarität mit den working poor nicht mit den Empfängerinnen und Empfängern des Arbeitslosengeldes II geübt? Oder auch: Was würde mit den vielen alternativen Betrieben passieren, sollte ein Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde eingeführt werden?

Erschreckend ist aber vor allem, wie lange die Forderung nach Mindestlöhnen auf sich warten ließ. Jetzt geht es immerhin anstatt »Hauptsache Arbeit« um »mehr Geld«.