Positiv leben

Lateinamerika gilt international nicht gerade als HIV-Risikogebiet. Doch die Krankheit breitet sich zwischen dem Rio Grande und Feuerland kontinuierlich aus. Zwar kommen mittlerweile auch in den peruanischen und kolumbianischen Armenvierteln Medikamente an, Aufklärungs- und Präventionsarbeit fehlen jedoch. Dass es auch anders geht, zeigen das Beispiel Brasiliens und das kubanische Modell. von knut henkel, lima (text und bilder)

Die Reifen des weißen Landrovers bahnen sich mühsam ihren Weg über die Schuttpiste in Villa El Salvador. Holpernd und schaukelnd geht es aufwärts, bis inmitten von Schutthaufen der kleine Weg zum Haus von Satunina Cardenas Volé zu sehen ist. Nico, der Fahrer, nimmt den Fuß vom Gaspedal und tritt sanft auf die Bremse, damit Elisabeth Flor und ihre Kollegin Patricia Salázar aussteigen können. Die beiden Frauen in den dunkelblauen Windjacken mit dem roten Emblem und dem weißen Schriftzug »Medicos sin fronteras« (Ärzte ohne Grenzen) gehen auf eine flaches, weiß gekalktes Gebäude zu.

Aus der Tür der kleinen Baracke winkt Satunina Cardenas Volé und kommt den beiden strahlend entgegen. Besuch erhält die schmächtige Frau mit dem Pferdeschwanz nicht oft, und so sind die regelmäßigen Visiten von Elisabeth und Patricia eine willkommene Abwechslung. Sie kommen nicht nur vorbei, um nach dem Rechten zu sehen, sondern auch, um der Aidspatientin Medikamente zu bringen. »Seitdem ich die nehme, habe ich weniger Halsschmerzen und kann wieder besser laufen«, erklärt die 38jährige, die deutlich älter aussieht, als sie ist. Vor elf Jahren hat man bei ihr den HI-Virus entdeckt.

»Damals war ich wegen einer Operation im Kran­kenhaus«, erklärt die Mutter von fünf Kindern, die sich bei ihrem Mann angesteckt hat. »Man hat den Test einfach gemacht, ohne mich zu fragen, und dann saß ich da und hatte den Salat«, schimpft sie über die Eigenmächtigkeit der Ärzte. Vor fünf Jahren sei ihr Mann an Aids gestorben, seitdem lebe sie mit den Kindern von einer kleinen Pension, erzählt Satunina und zupft die Strickjacke zurecht, die sie über dem hellblauen Wollpullover trägt. Der Wind pfeift um die zumeist unverputzten, aus roten Ziegeln gemauerten Häuser in Villa El Salvador.

Das Stadtviertel im Süden Limas ist das größte Armenviertel der Neun-Millionen-Metropole. Zwischen 300 000 und einer Million Menschen sollen hier zwischen den bräunlich-grauen Sanddünen leben, die die Landschaft prägen. Lima ist eine Stadt mitten in der Wüste, und der einzig stichhaltige Grund, sich hier anzusiedeln, war der Rimac, der Wasser aus den Anden bringt. Doch schon lange reicht das Wasser des Flusses nicht mehr aus, um die stetig wachsende Bevölkerung der peruanischen Hauptstadt zu versorgen. Während in den modernen Stadtvierteln wie Miraflores, San Isidro oder Barranco fleißig Palmen und Rasen bewässert werden, sucht das Auge etwas erfrischendes Grün in der staubigen Welt von Villa El Salvador meist vergeblich. Rund um das Haus von Satunina ist es besonders trostlos, denn einer der Nachbarn nutzt das Areal als Schuttabladeplatz. So ist eine triste Mondlandschaft entstanden, durch die sich schmale Trampelpfade winden. Gut zu sprechen ist Satunina nicht auf den Nachbarn, aber sie hat kaum eine Chance, gegen ihn vorzugehen, denn wie so viele andere in Villa El Salvador hat sie keinen Landtitel. Hier haben die Neuankömm­linge einfach ein Stück Land besetzt, und einige Steinwür­fe entfernt tobt gerade der Kampf zwischen einer Interessengemeinschaft von Besitzlosen, die der Universität von Lima ein Stück ihres Ausweich­areals abzutrotzen versucht.

Alltag in den barrios de Invasión, wie die neu entstehenden Stadtviertel heißen. Dort schleppen viele Bewohner ihr Wasser Kanister für Kanister in die einfachen Häuser. Satunina teilt sich diese Arbeit mit ihrer ältesten Tochter Yolanda. Diese kümmert sich auch um die vier Geschwister, wenn es ihrer Mutter mal wieder schlechter geht. In letzter Zeit ist das selten der Fall, denn der Medikamentencocktail, in Peru »Targa« genannt, hilft. Neun Monate ist die letzte Tuberkulose jetzt her, sagt Satunina. »Damals hat mich mein Bruder zum Hospital San José gebracht, und dort lernte ich auch die Leute von Ärzte ohne Grenzen kennen.«

In mehreren Containern, die auf dem staubigen Hof des Krankenhauses stehen, sind die freiwilligen Helfer untergebracht. In enger Kooperation mit dem nationalen Gesundheitssystem wird gearbeitet, denn Ziel der internationalen Hilfs­organisation ist es, ein Modell zu entwickeln, das in anderen Städten und Stadtvierteln wie Pamplona Alta oder Villa de María del Triunfo kopiert werden kann. »Hilfe zur Selbsthilfe« lautet der Ansatz, und das nationale peruanische Gesundheitssystem soll in einigen Jahren – nach dem Abzug der NGO – das Angebot aufrechterhalten. Dazu gehören die Schnelltests, die psychologische Betreuung und die Versorgung mit den überlebenswichtigen antiretroviralen Medikamenten. »Psychosoziale Hilfe und Aufklärungsmaterialien bieten wir allerdings auch an«, erklärt Patricia Salázar. »Doch besonders wichtig ist, dass wir uns unsere Patienten auch suchen, sprich in den Vierteln unterwegs sind, Haus­besuche machen, um zu helfen«, sagt die quirlige, stets gut gelaunte Psychologin.

Hilfe seien viele der HIV-Infizierten und Aidskranken in Peru nicht gewöhnt, weitaus eher Ausgrenzung und Stigmatisierung, meint Carmen Murguía vom Institut für Bildung und Gesundheit (IES), eine der führenden Organisationen im Aids-Netzwerk Perus. »Familien, die ihre Angehörigen verstoßen, weil sie sich infiziert haben, sind nicht selten und Nachbarn, die den Kontakt abbrechen, auch nicht«, sagt die Psychologin, die hin und wieder mit »Ärzte ohne Grenzen« zusammenarbeitet. So stammt das Aufklärungsmaterial zumindest teilweise aus dem Institut von Frau Murguía, und dort gibt man sich Mühe, es für alle Bevölkerungsschichten aufzubereiten. Das ist dringend notwendig, denn das Bildungsniveau in Peru ist relativ niedrig und ein Interesse, sich mit den Risiken beim Sex auseinanderzusetzen, ist kaum vorhanden. »Geschlechtskrankheiten wie Syphilis sind verbreitet und der Gebrauch des Kondoms ist alles andere als Gewohnheit«, erklärt Krankenschwester Elisabeth Flores. Allzu schnell wird HIV be­stimmt­en Bevölkerungs­gruppen zugeordnet: in erster Linie den Homosexuellen und den Prostituierten. »Die sind ohnehin stigmatisiert in einer vom Machismo und Katholizismus geprägten Gesellschaft«, ergänzt Raúl Sánchez, Arzt am Krankenhaus San José. Er ist im Container vorbeigekommen, um sich einige Medikamente zu borgen. »Ein grundlegendes Problem«, sagt Patricia Salázar. »Frauen wie Satunina Cardenas Volé, die sich offen zu ihrer Infektion bekennen, sind selten in den Stadtvierteln. Wir brauchen aber solche Frauen und Männer, um auf die Infektionsrisiken aufmerksam zu machen und die Vorurteile zu bekämpfen«, erklärt sie. Viel lernen kann man aus ihren Erfahrungen, und Satunina selbst ist ein beredtes Beispiel dafür, dass man mit Aids auch leben kann. »Es gab Leute in Villa El Salvador, die drohten, mich umzubringen. Man hat meine Katze getötet, um mich einzuschüchtern, und ich hatte Angst um meine Kinder«, erinnert sich Satunina. Sie ließ sich aber nicht klein kriegen. Sie ist im barrio geblieben und wird dort heute respektiert. Nicht nur, weil sie zäh ist und rekordverdächtige elf Jahre mit den Viren im Körper überlebt hat, sondern auch, weil sie nicht auf den Mund gefallen ist. Frauen, die sie scheel anschauen, sagt sie offen: »Das kann dir auch passieren.«

Gründe für die Verbreitung von HIV sind zum einen, dass Präservative in Peru alles andere als populär sind, zum anderen, dass die Gewalt in den Armenvierteln allgegenwärtig ist. »Wir haben immer wieder mit Fällen von Gewalt in der Familie, Alkoholismus, Drogenkonsum und Missbrauch zu tun«, berichtet Salázar von ihren Erfahrungen aus dem stetig wachsenden Villa El Salvador. Dort ruhen viele Hoffnungen im staubigen Sand, viele Männer suchen dann Trost im Pisco, dem peruanischen Traubenbrand, aber auch in den Bordellen. Nicht nur dort werden keine Kondome benutzt. Mitverantwortlich dafür machen Ärzte wie Guillermo Diller, der im Auftrag des peruanischen Gesundheitsministeriums und der deutschen Entwicklungspolitik für mehr Prävention eintritt, auch die katholische Kirche. »Die Haltung der Kirche zum Gummi ist vollkommen überholt, denn neben der Aufklärung ist das Kondom unsere schärfste Waffe gegen die Seuche«, betont der argentinische Virologe. »Uns drohen afrikanische Verhältnisse, wenn wir uns nicht stärker auf Prävention und Aufklärung konzentrieren«, mahnt er und verweist auf die hohe Dunkelziffer in Lateinamerika. Derzeit schätzen die Spezialisten die Zahl der HIV-Positiven in Peru auf 80 000. 80 Prozent von ihnen sind Männer, und 75 Prozent der Infizierten leben im Großraum Lima und dem benachbarten Hafen von Callao. Ein Vergleich verdeutlicht die Verhältnisse: In Deutschland gibt es rund 56 000 Infizierte bei einer fast dreimal so großen Bevölkerung. »In Peru registrieren wir seit Jahren eine kontinuierliche Zunahme, und Tabus fördern nur die Ausbreitung der Seuche«, warnt Diller. Über Sexpraktiken, sexuelle Vorlieben und Risiken wird kaum geredet, und nicht immer sind Jugendlichen und Erwachsenen die Infektionswege bekannt. »Ein Grund, weshalb die Auseinandersetzung mit Aids stockt«, erklärt Carmen Murguía vom Aids-Netzwerk. Auch auf der Regierungsagenda hat das Thema alles andere als Priorität. So ist zum Beispiel der Etat für den Einkauf anti­retroviraler Medikamente für 2008 noch nicht bewilligt. Davon sind landesweit 8 500 Aids-­Patienten betroffen, und im Krankenhaus San José in Villa El Salvador greift Doktor Raúl Sánchez bereits auf die Dreimonatsreserve zurück.

Der abgehetzt wirkende Mediziner mit der roten Aidsschleife am Revers tut, was er kann, um den Infizierten zu helfen. Doch immer wieder werden Ärzte wie Sánchez von der Politik im Stich gelassen. »Nicht nur in Peru, sondern auch in Kolumbien oder Guatemala ist das so«, seufzt er, dem oft selbst einfache Dinge wie Handschuhe und sterile Nadeln fehlen. Von Kollegen in Kolumbien weiß er, dass es dort nicht viel besser ist und dass ganze Risikogruppen sich selbst überlassen werden.

Das bestätigen auch die Berichte von UNAids, der Organisation der Vereinten Nationen. So werden vor allem Bürgerkriegsflüchtlinge, deren Anzahl auf mindestens drei Millionen Menschen geschätzt wird und die sich in die Elendsviertel der großen kolumbianischen Metropolen flüchten, nicht ausreichend medizinisch betreut. Angesichts der Tatsache, dass Vergewaltigungen im Bürgerkrieg eher die Regel als die Ausnahme sind, attestieren die UN-Experten der Regierung in Bogotá eine »nicht ausreichende Prioritätensetzung bei der HIV-Bekämpfung«.

Das bestätigt auch Guillermo Garrido Sardi. Er hat ein Kinderheim für Aids-Waisen in Cali gegründet und schon Schwierigkeiten, die Kinder von Fundamor, so der Name seiner Stiftung, an den öffentlichen Schulen unterzubringen. »Kinder, die infiziert sind, werden bei uns vor der Haustür abgestellt, weil sie stigmatisiert werden, die Eltern überfordert sind oder auch bedroht werden«, schildert er die Verhältnisse in seinem Herkunftsland. Angesichts von schätzungsweise 160 000 HIV-Positiven und einer hohen Dunkelziffer hält er die Regierungspolitik in Kolumbien für ausgesprochen fahrlässig und ignorant. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass – ähnlich wie in Brasilien oder Peru – die Zahl der Aids-Patienten, die den Medikamentencocktail erhalten, gestiegen ist. Anders als die Nachbarstaaten hat Brasilien in den vergangenen Jahren jedoch gelernt und lässt Aids-Medikamente im eigenen Land billig herstellen und umsonst abgeben; das Land hat sich mehrfach mit der internationalen Pharmalobby angelegt. Ärzte wie Raúl Sánchez oder Guillermo Diller begrüßen das, aber noch beeindruckter sind sie davon, dass Prävention in Brasilien mittlerweile ernst genommen wird und dass Anstrengungen unternommen werden, den Nachbarn zu helfen. Selbst die katholische Kirche ist in Brasilien mit Aids-Seelsorge beschäftigt, in Peru wäre das wegen des starken konservativen Flügels innerhalb der Kirche kaum denkbar.

»Regionaler Austausch und regionale Kooperation sind für uns eine Alternative«, betont denn auch Carmen Murguía vom Aids-Netzwerk. Dabei blicken die peruanischen Aids-Aktivisten nicht nur nach Brasilien, das gerade Uruguay bei der Entwicklung einer einheitlichen Aidspolitik unterstützt, sondern auch nach Kuba. Aus Havanna wird die niedrigste Infektionsquote der gesamten Region gemeldet, die Basis des Erfolges sei die Aufklärung auf allen Ebenen, so hat UNAids-Direktor Peter Piot mehrfach gelobt. »Auf 5 000 Freiwillige, HIV-positiv wie -negativ, können wir zurückgreifen, die in Schulen, in Betrieben, aber auch in Discos und Bars auf die Infektionsrisiken aufmerksam machen«, erklärt Rosaida Ochoa vom nationalen Präventionszentrum in Havanna. Die Ärztin, selbst HIV-positiv, wirbt seit Jahren auf nationaler wie internationaler Ebene für mehr Prävention und schildert die kubanischen Erfahrungen.

Von diesen versuchen auch Raúl Sánchez und das »Ärzte-ohne-Grenzen«-Team in Villa El Salvador zu profitieren. »Unsere Patienten haben begonnen, sich zu organisieren, und stellen erste Informationsveranstaltungen im Stadtviertel auf die Beine«, erzählt der Doktor. Mit von der Partie ist auch Satunina Cardenas Volé. Einmal pro Woche will sie ihre eigenen Erfahrungen schildern und für mehr Offenheit werben. Bei den Ärzten und Schwestern im Hospital San José wird das gern gesehen, denn vor allem sei Druck von unten nötig, um am Verhalten der Menschen etwas zu ändern. Das zeigt auch das brasilianische Beispiel.

Von den weltweit 33,2 Millionen HIV-Infizierten lebten UNAids zufolge Ende 2007 knapp 1,9 Millionen Menschen in Lateinamerika und der Karibik. Die Zahl der Menschen, die HI-Viren im Blut tragen, ist demnach etwa doppelt so hoch wie in West- und Mitteleuropa. Allerdings wächst die Zahl der Neuinfektionen in Latein­amerika und der Karibik deutlich schneller als in Europa, und die Dunkelziffer ist deutlich höher. Gründe, weshalb HIV-Experten fordern, mehr Geld für die Vorbeugung bereitzustellen. In Staaten wie Peru oder Kolumbien ist diese Warnung bei den Regierenden nicht ganz angekommen.