Avanti, dilettanti!

Nach den Landtagswahlen wird ein »Linksruck« konstatiert. »Die Linke« will ihn nutzen, um möglichst schnell zu den Etablierten aufzuschließen. von felix klopotek

Alle sprechen vom »Linksruck«, aber niemand will ihn wirklich haben. So könnte man die Situation nach den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen zusammenfassen. Die CDU will ihn nicht, weil sie, um sich in der »gesellschaftlichen Mitte« halten zu können, Themen wie den Mindestlohn aufgreifen muss und so ihren konservativen Flügel zu verprellen droht und Wahlen trotzdem nur dann gewinnt, wenn die SPD noch schwächer ist als sie selbst. Die SPD will den Linksruck nicht, weil sie, um Gehör zu finden, die Themen aufgreifen muss, die ihr von der »Linken« vorgegeben werden – sie rutscht in die Rolle der Getriebenen. Die Grünen wollen den Linksruck nicht, weil er die Spannungen zwischen der Basis mit ihren Flausen und der Parteiführung in ihrem Bestreben, notfalls auch in einer Jamaika-Koalition zurück an die Regierung zu gelangen, drastisch erhöhen könnte.

Selbst »Die Linke« kommt kaum dazu, sich über den Linksruck zu freuen. Sie ist mit zu vielen sich überlagernden Konflikten beschäftigt. Oskar Lafontaine gegen Lothar Bisky, Reformer gegen Fundis, alte Kader aus der West-PDS gegen Aufsteiger aus der Wasg – sie alle eint derzeit nur der Erfolg, und das ist gefährlich. Denn jeder weitere Erfolg bei Wahlen erhöht nur den Druck. Ist die Partei bereit, Macht und »Verantwortung« zu über­nehmen? Bleibt sie fundamentaloppositionell, verspielt sie den »Wählerauftrag«; beteiligt sie sich an Landesregierungen, droht das unerfahrene Personal als Dilettantenverein vorgeführt zu werden.

Weil niemand den Linksruck will – bis auf die FDP vielleicht, die als einzig beständige bürgerliche Partei auch auf enttäuschte Konservative setzt –, wird er von allen beschworen. Das klingt paradox, ergibt aber Sinn. Er wird beschworen einzig als gefährliche Illusion. Linksruck? Als gäbe es in Zeiten der globalen Standortkonkurrenz tatsächlich etwas zu verteilen!

Auch »Die Linke« macht dieses Spiel mit, wenn Lafontaine lauthals der SPD zu verstehen gibt, Kurt Beck könne sofort Kanzler werden, er bräuch­te nur ein paar Bedingungen der »Linken« zu erfüllen. Natürlich weiß Lafontaine, dass im Falle eines Koalitionsangebots nicht einmal die eigenen Leute sich an diese Bedingungen halten könnten und wollten.

Bei Wahlen streiten die Parteien darum, wer der bessere Staatsverwalter ist. Eine Voraussetzung dafür, als solcher anerkannt zu werden, ist, dass die Partei sich im entsprechenden Zustand präsentiert. Sie muss »innerlich geschlossen« sein, braucht charismatische leader, eine Absichtserklärung, ein Programm. Zurzeit erfüllt »Die Linke« die wenigsten dieser Voraussetzungen, sie droht von ihrem eigenen Erfolg überrannt zu werden. Die anderen Parteien erfüllen sie, nur wollen die Wähler offenbar etwas anderes, so dass trotz allem »Die Linke« profitiert. Das beschert ihr zwiespältige Erfolge und den Etablierten peinliche Niederlagen. Wer verliert schon gerne Wähler an Diether Dehm?

Am Taktieren der Parteien lässt sich ablesen, was das für ein »Linksruck« ist, der angeblich durch Deutschland geht. Er äußert sich in nichts anderem als dem Antrag, dass die Verwaltung des Staats doch besser funktionieren sollte. Zur Erinnerung: Die meisten Wähler der Linkspartei haben ihre Stimmabgabe als Protest verstanden (»Denkzettel«), der an die großen Parteien gerichtet gewesen ist. Mit der Unterstützung einer sozialis­tischen Überzeugung hat das nichts zu tun. Stattdessen zielen Debatten wie die um Managergehälter und Mindestlöhne auf Moral. Alles soll schön im Maß bleiben, sonst geht der Zusammenhalt verloren! Und die große Bedeutung, die das Thema Bildung (insbesondere in Hessen) erlangt hat, kann man auch so verstehen: Wenn die Leute sich einzig durch ständiges Weiter- und Höherqualifizieren im individuellen Konkurrenzkampf halten können, dann soll wenigstens das Bildungs­system ordentlich ent­büro­kratisiert sein. Mangelhafte Verwaltung allerorten, gepaart mit der selbstvergessenen Gier des Establishments – daraus lässt sich das Bild einer ungerechten Republik gewinnen, die, wie der Volksmund weiß, »vor die Hunde geht«. Die Wut darüber wird in diesen Tagen am besten von der Linkspartei kanalisiert.

Eigentlich müsste dies für die etablierten Parteien ein Anlass zur Beruhigung sein. So berichtete die Zeit über die Linkspartei in Hannover, die dort besonders gut abgeschnitten hat – im Wahlkreis Hannover-Linden erzielte sie fast 15 Prozent –, dass sie es geschafft habe, das »Prekariat« zumindest ansatzweise zu organisieren und an sich zu binden. Der Trend, zur Partei der Hartz-Verlierer zu werden, dürfte sich bei der Bürgerschaftswahl in Hamburg höchstwahrscheinlich fortsetzen. Das »Prekariat« gilt gemeinhin als abgeschrieben – unpolitisch, apathisch und dequalifiziert. Der »Linken« könnte die Aufgabe zufallen, diese Leute wieder an das große Ganze heranzuführen, indem sie deren Apathie respektive deren dumpfe Wut in einen moralisch-politischen Auftrag ummünzt. In dieser Hinsicht wäre ein weiterer Linksruck ein Segen für den erodierenden politischen Zusammenhalt des Gemeinwesens.

Aber die Sache ist noch nicht entschieden, und das ist auch der Grund für die derzeitige Linksruck-Hysterie. Der staatstragende Erfolg, den »Die Linke« in Hessen und Niedersachsen bei den Abgehängten erzielt hat, garantiert noch nicht deren dauerhaftes Vertrauen. Was ist, wenn die Mobilisierung des Prekariats nur auf Grundlage haltloser Versprechen stattfindet? Was ist, wenn »Die Linke«, für viele Leute der letzte Garant einer anständigen Bundesrepublik, diesen Bonus durch parlamentarische Fundamentalopposition oder durch dilettierende Regierungsbeteiligungen verspielt, wenn die absehbare Enttäuschung der Anhängerschaft in noch größere Verbitterung umschlägt? Das könnte gut passieren, zumal »Die Linke« angesichts ihres Mangels an qualifiziertem Personal im Westen in den nächsten Jahren keine andere Wahl hat, als zwischen Fundamentalismus und Dilettantismus zu taumeln. Das Feld von Anstand und Moral wollen die anderen Parteien jedenfalls nicht kampflos der Linkspartei überlassen.

So entpuppt sich der vermeintliche Linksruck als Anpassungsprozess: »Die Linke« will ihn nutzen, um möglichst schnell zu den Etablierten aufzuschließen. Die Etablierten werden alles daran setzen, dies zu verhindern, sei es durch Ausgrenzung, sei es durch Vereinnahmung. Die Bevölkerung darf sich bei diesen Spielchen in ihrem moralischen Begehr nach Gerechtigkeit gut aufgehoben fühlen und kann schon mal anfangen, sich die Umwandlung dieser Moral in Realpolitik (Mindestlöhne in einigen Branchen, keine neuen Kohlekraftwerke, Rücknahme einiger Studiengebühren etc.) schönzureden.