In den Knast statt in die Jugenddisco

In den vergangenen 15 Jahren hat sich in England die Zahl der jugendlichen Gefängnisinsassen verdoppelt. Neueste Untersuchungen zeigen, dass repressive Verfol­gungs­maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg haben. Zweiter Teil der Serie Jugend und Strafe in Europa. von fabian frenzel, leeds

Britische Polizisten werden vermutlich bald weitaus leichter Passanten anhalten und durchsuchen können als bisher. Die Regierung plant, die Regelungen für das Stop-and-Search-Prozedere zu verändern. Bisher bedurfte es eines konkreten Tatverdachts oder der ausdrücklichen Anordnung eines ranghohen Offiziers. Nach einer Durchsuchung musste ein Formular ausgefüllt werden, und dem Betroffenen war eine Kopie auszuhändigen. Diese Regelungen werden jetzt wahrscheinlich aufgehoben, denn sie stehen der Regierung zufolge der polizeilichen Eindämmung der Jugendkriminalität im Wege.

Ähnlich wie in Deutschland werden auch in Großbritannien die Straftaten von Minderjährigen als »ausufernd« und »alarmierend« wahrgenommen. Besonders viele Schlagzeilen machen derzeit Gewaltverbrechen unter Teenagern. Allein in London wurden im Jahr 2007 27 Jugendliche von Minderjährigen ermordet. Die Zahl der Überfälle geht in die Hunderte. Das Tragen von Messern und oft auch von Schusswaffen ist inzwischen unter Jugendlichen derart verbreitet, dass die Regierung Mitte Januar beschlossen hat, Schulen in Problembezirken mit Metalldetektoren auszustatten.

Ein weiteres Problem ist die so genannte Gang-Kultur. Nach Angaben der Polizei orientieren sich Gangs bei ihrer Formierung an den britischen Postleitzahlen, zum Beispiel in Londoner Problem­bezirken wie Hackney und Islington. Die »Postcode-Gangs« bestrafen jede »Grenzverletzung« von Mitgliedern anderer Gangs mit Gewalt. Oft werden Unbeteiligte in solche Auseinandersetzungen hineingezogen.

Der Mord an dem 11jährigen Rhys Jones im August in Liverpool ist ein solcher Fall. Der Junge war bei einer Schießerei zwischen rivalisierenden Jugendgangs in einem öffentlichen Park erschossen worden. Die Tat löste allgemeines Entsetzen aus. Seither werden die Tat und die Hintergründe intensiv kommentiert und analysiert. Derweil gibt es immer neue Berichte über Opfer von Jugendgewalt, Waffen tragende Jugendliche, innerstädtische Gangs und die heruntergekommenen Sozialbausiedlungen der Großstädte, aus denen die meisten Täter und Opfer stammen. Der Guardian sprach Anfang des Jahres von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in den Sozialwohnblocks.

Die Regierung artikulierte in diesem Zusammenhang vor allem Kritik an einer zunehmenden sozialen Ungleichheit in Großbritannien. In dieser Hinsicht hat sich seit der Amtsübernahme durch Gordon Brown die Rhetorik in der Jugendpolitik der Regierung deutlich verändert. Tony Blair hatte immer die individuelle Verantwortung der Täter in den Vordergrund gestellt und auf Härte gesetzt. Kritiker hatten das als Fortsetzung der »Null-Toleranz«-Politik beschrieben, mit der seine konservativen Vorgänger begonnen hatten.

England und Wales haben inzwischen das härteste Jugendstrafrecht in Europa, in Schottland und Nordirland gelten eigene Rechtssysteme. Ab dem Alter von zehn Jahren sind Kinder in England und Wales strafmündig. Während volle Strafmündigkeit mit 18 Jahren einsetzt, können nach Ermessen der Richter auch 17jährige bereits nach Regelstrafrecht verurteilt werden. Ein umgekehrter Ermessensspielraum, der es Richtern erlauben würde, auch auf Volljährige in Ausnahmefällen das Jugendstrafrecht anzuwenden, wurde 2003 von Blair abgeschafft.

Er führte auch die Asbos (Anti Social Behaviour Order) ein. Asbos sind gerichtliche Verfügungen, die es verbieten, bestimmten als »anti-sozial« verstandenen Beschäftigungen nachzugehen, zum Beispiel laute Musik zu hören, aber auch Freunde zu treffen oder bestimmte Plätze aufzusuchen. Asbos können von der Polizei, aber auch von Stadtverwaltungen oder Wohngesellschaften beantragt werden. In den vergangenen Jahren werden die Verfügungen, insbesondere im juristischen Umgang mit Jugendlichen, immer häufiger genutzt. Unter den betroffenen Jugendlichen wird der Asbo allerdings oft als eine Art ehrenhafte Auszeichnung verstanden. Die Verfügung führt aber tatsächlich dazu, dass viele Jugendliche ins Gefängnis kommen. Wer gegen einen Asbo verstößt, kann zu fünf Jahren Haft verurteilt werden. (Jungle World 22/05)

Viele Kritiker sehen in der »Null-Toleranz«-Politik einen wichtigen Grund dafür, dass sich die Anzahl von Jugendlichen in englischen Gefängnissen in den vergangenen 15 Jahren verdoppelt hat. Einer dieser Kritiker ist Rod Morgan. Vor einem Jahr trat er von seinem Posten als Vorsitzender des Jugendjustizausschusses zurück. Der Ausschuss evaluiert für die Regierung das Jugendjustizsystem in England und Wales. Morgan warf Blair vor, er habe mit Asbos und »Null-Toleranz«-Politik englische Jugendliche zu Kriminellen stigmatisiert.

Auch die Methoden des Strafvollzugs sind massiv in die Kritik geraten, nachdem 2004 zwei Teenager in Jugendgefängnissen von Gefängniswärtern getötet worden waren. Die Wärter hatten umstrittene, aber legale »Bändigungstechniken« angewendet, die zum Tod der Jugendlichen führten. Die Allianz für Kinderrechte in Eng­land bezeichnet diese Techniken als Folter und fordert seit langem, sie zu verbieten. Dem hat die Regierung Brown im Dezember vorigen Jahres nachgegeben.

Offensichtlich um einen Kurswechsel bemüht, hat Brown bereits die Arbeitsgruppe »Aktionsplan Respekt« aufgelöst. Es war vorgesehen, die Asbo-Strafen zu verschärfen und Eltern stärker in die Pflicht zu nehmen. Der »Aktionsplan Respekt« von 2006 stand im Zentrum von Blairs Law-and-order-Politik. (Jungle World 04/2006)

Und auch der Asbo hat eine ungewisse Zukunft. Familien- und Jugendminister Edward Balls, ein enger Vertrauter von Brown, kündigte eine umfangreiche Überprüfung an, als im Dezember eine Studie des der Regierung nahe stehenden Forschungsinstituts für Öffentliche Politik (IPPR) bestätigte, was Kritiker des Asbo schon lange formuliert hatten: Die gerichtlichen Verfügungen fördern Kriminalität unter Jugendlichen, statt sie einzudämmen, und drohen so zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden.

In der Studie wird beklagt, dass die englische Gesellschaft zunehmend kinderfeindlich sei, und es wird mehr Fürsorge und Rücksicht gegenüber Kindern und Jugendlichen verlangt. Konkret fordert der Bericht, das Mindestalter für die Anwendung der gerichtlichen Verfügungen von zehn auf zwölf Jahre anzuheben. Generell sollten Asbos für Jugendliche nur noch nach Konsultation von Sozialbehörden ausgesprochen werden.

Inwieweit die Regierung nur Rhetorik betreibt, bleibt derweil unklar. Nicht nur die geplante Erweiterung der Polizeibefugnisse lässt Zweifel aufkommen. Derzeit wird im Parlament ein refor­mier­tes Strafgesetz verhandelt. Darin ist die Einführung einer neuen »Jugendrehabilitationsverfügung« vorgesehen. Mit ihr können Richter straffälligen Jugendlichen, die nicht älter als 14 Jahre sind, verschiedene Auflagen erteilen. Glaubt man Rod Morgan, dann wird hier durch die Hintertür ein neuer Asbo etabliert und damit ein weiterer Weg für Jugendliche in den Strafvollzug eröffnet. Wer die Auflagen bricht, so will es auch das neue Gesetz, landet im Gefängnis.