Der Demokratisierungs-Tiebreak

2008 wird das Jahr bemerkenswerter Veränderungen im Tennissport: Statt reicher Söhne und höherer Töchter gewinnen die Kinder der Slums neuerdings die Turniere. von martin krauss

Novak Djokovic hat sie alle drauf: den Roger Federer, den Rafael Nadal, auch die Maria Sharapova. Der 20jährige Serbe, der Ende Januar in Melbourne die Australian Open gewann, gibt gerne den Entertainer, der seine Kollegen aus dem Profitennis imitiert. Wie gut er das kann, lässt sich auf Youtube bestaunen.

Es gehört nicht viel Tennisverstand dazu zu verstehen, dass Djokovics Imitationskünste aus mehr als bloßem Spaß erwachsen sind: Bis ins Detail hat er nämlich nicht nur die Marotten der bislang erfolgreicheren Kollegen analysiert, sondern auch ihre Art, Tennis zu spielen. »Er ist ein Stratege, der seine Gegner durch lange, präzise Schläge zermürbt«, sagt Günter Bosch, der einst Boris Becker an die Weltspitze führte, als dieser noch 17 war. Doch das ist nur die halbe, vielleicht gar nur ein Drittel der Wahrheit: Djokovic, der so harmlos aussieht, als leite er einen mittelständischen Verlag im Fränkischen, ist ein Spieler, der den Platz schrumpfen lässt. Wenn er ein Match absolviert, glaubt man, er bewege sich nicht auf dem Tennis-, sondern dem Badmintonplatz, so schnell wechselt er seine Positionen, so physisch präsent ist er.

Die Raumbeherrschung, die Djokovic in Melbourne gezeigt hat, war zuvor lange nicht mehr zu sehen gewesen.

Als Inbegriff des in seiner Überlegenheit schon langweiligen Tennis galt bislang der Schweizer Roger Federer, den Djokovic in Melbourne im Halbfinale besiegte. Als Federer sich selbst und seine Fehler analysierte, wurde klar, was Djokovic kann. »Ich fühlte mich physisch präsent«, sagte der Schweizer, »aber wie schon zuvor war ich an der Grundlinie eine Idee zu langsam, vor allem im defensiven Abdecken des Courts.«

In Melbourne gab nicht die Schwäche des Roger Federer, sondern die Überlegenheit seines fast jugendlichen Herausforderers den Ausschlag. »Selber habe ich vielleicht ein Monster, eine Überfigur geschaffen, die in der Vergangenheit jede Woche gewann«, meinte Federer. »Doch diese Maxime ist im heutigen Tennis nicht mehr so einfach zu erfüllen.«

Ein Monster ist und war Federer nicht. Er war überlegen und wohl auch eine »Überfigur«. Zwölf Mal gewann er ein Grand-Slam-Turnier, fünf Mal gewann er in Folge Wimbledon. Drei Mal gelang es ihm, in einer Saison drei der vier Grand-Slam-Turniere zu gewinnen. Die Zahlen drücken die bisherige Überlegenheit genauso aus wie die Langeweile, die der Schweizer verbreitete.

Finale Federer gegen Nadal, Federer siegt – so klangen in den vergangenen Jahren die üblichen Meldungen von Grand-Slam- und anderen Tennisturnieren. Rafael Nadal aus Spanien war der einzige, der an Federer heranreichen konnte.

Und nun kamen die Australian Open. »Im Tennis bricht ein neues Zeitalter an«, schreibt Sport-Bild. Ein bisschen tiefer geht die Analyse der New York Times. In der gerade stattfindenden Tennissaison werde man daran erinnert, »dass wirtschaftliche Not und kultureller Umbruch der kraftvolle Motor eines Athleten sind«. Federer komme aus einem reichen schweizerischen Elternhaus, sein Dauerkonkurrent Rafael Nadal aus einer Familie in Spanien, die im Überfluss schwimme. Aber Novak Djokovic stamme – ebenso wie sein ähnlich talentierter Finalgegner in Melbourne, der Franzose Jo Wilfried Tsonga – aus dem, was man gewöhnlich »kleine Verhältnisse« nennt.

Ähnliches, so die New York Times, sei im Frauentennis zu beobachten. Justine Henin, die belgische Nummer eins der Weltrangliste, sei ebenso erfolgssatt durch die vielen verdienten Millionen wie die amerikanischen Schwestern Venus und Serena Williams. Nun aber kämen die Russinnen, vor allem Maria Sharapova, die gerade das Fraueneinzel der Australian Open gewann.

Djokovic sagt über Sharapova: »Unser Leben ist sehr ähnlich verlaufen. Wir mussten in unserer Karriere einige Schwierigkeiten überwinden, und deswegen genießen wir den Erfolg nun umso mehr, auch wenn wir noch jung sind.«

Noch tiefer dürfte die Analyse des gegenwärtigen Umbruchs im Tennissport gehen, wenn man das vergangene Jahrzehnt einbezieht. Roger Federer hat das Männertennis vor allem technisch perfektioniert. Keiner war überall so gut wie der Schweizer, keiner war auch psychisch auf diesem hohen Niveau so ausgeglichen wie er. Boris Becker, der in den achtziger und neunziger Jahren das Männertennis prägte, konzentrierte sich in großen Turnieren erst ab dem Viertelfinale voll; wenn er früher damit anfing, reichte seine psychische Kraft nicht mehr für das Finale. So ging er vergleichsweise entspannt in die ersten Runden, vertraute auf seine technischen Fähigkeiten und hatte meistens Glück, häufig aber auch Pech und schied in der Vorrunde aus.

Roger Federer hingegen hat ein derart hohes technisches Vermögen, dass es bei ihm der psychischen Steigerung kaum noch bedurfte, höchstens wenn ihm im Finale wieder mal Nadal gegenüberstand.

Auch im Frauentennis ist in den vergangenen zehn Jahren sowohl die technische als auch die athletische Komponente wesentlich bedeutender geworden. Gerade die Williams-Schwestern prägten das kraftvolle und kämpferische Tennis. Und sie prägten es auch nicht, wie es Christopher Clarey in der New York Times schrieb, weil sie zu früh Millionärinnen geworden wären. Sondern weil der Tennissport für sie das war, was sonst nur weniger feine Sportarten sind: das Mittel zum sozialen Aufstieg. Die Williams-Schwestern wuchsen in Compton auf, einem als Ghetto verschrienen Stadtteil von Los Angeles.

Sie standen, anders als Federer oder Nadal im Männertennis und auch anders als ihre Konkurrentin Henin, für den gleichzeitigen Prozess der Demokratisierung und der weiteren Durchkapitalisierung des Tennissports. Indem der weiße Sport nicht länger die einträgliche Beschäftigung reicher Söhne und höherer Töchter war, entstanden auch neue Märkte. Die Williams-Schwestern waren in gewisser Weise die Erbinnen der Billy-Jean King, die in den sechziger und siebziger Jahren aus dem Damentennis einen Frauensport machte. Die sechsfache Wimbledon-Siegerin gründete die Women’s Tennis Association (WTA), die nicht ganz zu Unrecht oft als Frauentennisgewerkschaft bezeichnet wird, sie sorgte dafür, dass sich die Preisgeldsummen denen der Männer deutlich annäherten.

Eine ähnliche kulturelle Wirkung, auch wenn sie weder feministisch noch klassenkämpferisch formuliert wurde, hatten die Williams-Schwestern auch. Dass jetzt mit Spielerinnen wie Maria Sharapova aus Russland, Ana Ivanovic und Jelena Jankovic aus Serbien und Daniela Hantuchova aus der Slowakei ähnlich hart spielende Konkurrenz nachwächst, bezeugt nur die prägende Wirkung der »Ghetto-Schwestern«, wie sie manchmal genannt werden.

Die Eltern von Maria Sharapova zogen, als ihre Tochter sieben Jahre alt war, von Russland nach Florida. Sie gaben sie, obwohl sie es sich finanziell kaum leisten konnten, in das Tennis-Internat von Nick Bolletieri, der schon Monica Seles und Andre Agassi herausgebracht hatte und eine Weile auch Trainer von Boris Becker war. Sharapova profitierte von dieser gleichzeitigen Demokratisierung und Kapitalisierung. Der Markt öffnete sich so, dass es für ein Talent wie sie keine kulturellen Barrieren mehr gab, und ihre Eltern legten sich krumm, um auch die ökonomischen Barrieren zu überwinden.

Das Konzept ging auf, Sharapova hat schon drei Grand Slams gewonnen.

Die Eltern von Novak Djokovic ließen ihren damals zwölfjährigen Sohn nach München ziehen. Dort erhielt er in der Tennisakademie von Niki Pilic, dem früheren deutschen Davis-Cup-Kapitän, der übrigens auch eine Weile Boris Becker trainierte, seine Ausbildung. Auch hier gibt der Erfolg den Eltern Recht. Novak Djokovic sagt: »Sicherlich ist der Hunger nach Erfolg bei uns größer, das kann man bei Mädchen wie Sharapova und den Williams-Schwestern sehen.«

Was man bei den Australian Open zu sehen bekam, war also nicht nur der alle Jahre eintretende Umstand, dass Spitzenspieler von anderen, jüngeren verdrängt werden, sondern ein gewaltiger Umbruch im Profitennis: Das Finale der Männer zwischen Novak Djokovic und Jo-Wilfried Tsonga sei »Tennis der Zukunft« gewesen, beschied die australische Tennislegende Ken Rosewall. Und im Frauentennis hat Maria Sharapova, die mit geschätzten 30 Millionen Dollar jährlich jetzt schon als bestverdienende Sportlerin der Welt gilt, auch sportlich den alles überragenden Spielerinnen der vergangenen Jahre, Justine Henin und den Williams-Schwestern, den Kampf angesagt.

Der vormals weiße Sport, der in den letzten 20 Jahren in den USA und Westeuropa schon viel von seiner Exklusivität eingebüßt hat, sich aber doch nur von einer großbürgerlichen zu einer auch partiell kleinbürgerlichen Veranstaltung transformiert hat, steht vor seiner wohl letzten Demokratisierung.